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Historiker Richard Evans: „Ein Spiel zwischen Zufall und großen Linien“

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Von: Michael Hesse

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Eine Phase der revolutionären Umgestaltung: Frauenarbeit im Jahr 1875 in einer französischen Tuchfabrik.
Eine Phase der revolutionären Umgestaltung: Frauenarbeit im Jahr 1875 in einer französischen Tuchfabrik. © Kharbine-Tapabor/Imago

Historiker Richard Evans über das lange 19. Jahrhundert, die Revolution von 1848 und die Verwandlung der Welt.

Professor Evans, die Revolution von 1848 wird groß gefeiert in diesem Jahr, in Frankfurt tagt eine Global Assembly. Sie haben ein Buch über die große Zeit Europas geschrieben: im 19. Jahrhundert. Europa war jedoch eher kein gutes Vorbild, wenn man an den Imperialismus denkt, oder?

Das 19. Jahrhundert war die Epoche der europäischen Herrschaft über die Welt. Vorher und nachher, also vor 1815 und nach 1914, gab es diese Hegemonie nicht mehr. Es war das Zeitalter des Imperialismus, was mit Genozid und viel Gewalt in Afrika und Asien verbunden war. Auf der anderen Seite war es in den letzten Jahrzehnten, vor allem zehn oder fünfzehn Jahre vor dem Ersten Weltkrieg, dass die europäischen Mächte begonnen hatten, die Wirtschaft und Politik der kolonialen Gebiete zu entwickeln. Die Zeit Mitte der 1880er Jahre bis zur Jahrhundertwende war eine Phase der Eroberungen. Auch bis 1905/06, mit dem Herero-Aufstand in Südafrika, war es eine Zeit der Gewalt. Darauf folgte eine kurze Phase der Entwicklung, die durch den Ersten Weltkrieg unterbrochen wurde.

Gab es bereits so etwas wie den Westen?

Mit dem Begriff würde ich vorsichtig sein. Denn es geht im 19. Jahrhundert eher um die Dominanz Europas. Amerika kam erst ab 1880 ins Spiel. Allerdings wuchs die wirtschaftliche Stärke der USA rasch an.

Wurde Amerika von Europa schon als Konkurrent wahrgenommen?

Ja, um die Jahrhundertwende schon. Man muss hier nur an die technologischen Entwicklungen denken, etwa Aufzüge in den großen Hotels, Nähmaschinen ... das kann man beliebig fortsetzen.

Es gab bereits eine Supermacht in dieser Zeit: Großbritannien.

Ja, das ist richtig. Großbritannien war die Supermacht dieses Jahrhunderts. Das lag vor allem daran, dass UK die Herrschaft über die Ozeane hatte. Es hatte die größte Kriegsflotte der Welt, was sogar gesetzlich vom Parlament vorgeschrieben war: Englands Flotte musste mehr als zweimal so groß sein als die nächsten zwei Kriegsflotten in der Welt. Dadurch beherrschte UK den Welthandel. Und es hatte lange Zeit einen großen Vorsprung durch die Industrialisierung, es konnte mehr industrielle Güter produzieren und das schneller und billiger als andere Länder. Das hatte einen großen Einfluss auf die Entwicklung des Kontinents mit der Krise der Handwerker in Deutschland oder Frankreich in den 30er und 40er Jahren.

Die Gewalt spielte für Großbritannien als Kolonialmacht eine entscheidende Rolle.

Anders als im 18. oder 20. Jahrhundert, wo die außereuropäischen Konflikte eine Rolle spielten, war es im 19. Jahrhundert anders. Denn der Krieg zwischen Frankreich und England war ein Weltkrieg, er wurde in Nordamerika ausgefochten. Außereuropäische Konflikte hatten einen Einfluss auf die innereuropäischen Beziehungen. Im 19. Jahrhundert war es deshalb anders, weil Großbritannien keinen Konkurrenten hatte. Die Erfahrung der langjährigen Kriege, wie zum Beispiel die Napoleonischen Kriege, führten dazu, dass alle europäischen Staaten daran mitwirkten, den Frieden zu erhalten. Das Kongresssystem, das Europäische Konzert, die Konferenzen, wenn es ein Problem gab. Mit Ausnahme der Jahre 1848 bis 1871 gab es einen großen Willen, internationale Probleme durch Kooperationen der Staaten untereinander friedlich zu lösen. Das brach kurz vor dem Ersten Weltkrieg zusammen.

Kann man das System mit der heutigen Zeit vergleichen? Beide Zeitalter einte die Angst vor Terrorismus?

Terrorismus gab es im 19. Jahrhundert in der Tat, vor allem in Russland. Dann auch in den 1890er Jahre bis zur Jahrhundertwende wurden viele europäische Staatsmänner durch Anarchisten ermordet. Es gab Versuche seitens der europäischen Regierungen, diesen Fällen des Terrorismus durch polizeiliche Kooperationen entgegenzuwirken. In den 20er und 30er Jahren des 19. Jahrhunderts war es mehr Angst als Realität, etwa vor Volksaufständen, die es auch gab. Man schickte Armeen nach Spanien oder Norditalien.

Angst führt oft zu staatlicher Repression.

Im späten 19. Jahrhundert gebrauchten die konservativen Regierungen die Angst vor den Anarchisten als Anlass, gegen die Sozialdemokraten, die an sich friedlich waren und auf Gewalt verzichteten, zu unterdrücken. In den 20er und 30er Jahren bis 1848 waren es Repressionsregime, vor allem von Metternich in Wien gesteuert, um die demokratisch-revolutionären Bewegungen zu unterdrücken. Der Vorwand lautete, dass sie einen gewaltsamen Umsturzversuch planen würden. Es wurde im Laufe der Jahre eine sich selbst erfüllende Prophezeiung.

Zur Person

Richard J. Evans, geboren 1947, ist Professor für Moderne Geschichte an der Cambridge University. Er hat wichtige Publikationen zur deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts verfasst. Sein Buch „Das europäische Jahrhundert“ kam bei der Deutschen Verlagsanstalt heraus, ebenso wie zuletzt der Band „Das Dritte Reich und seine Verschwörungstheorien“.

Die „Global Assembly“ tagt seit Sonntag in der Paulskirche (Bericht in der Dienstag-Ausgabe).

Auch wir leben heute in einem Zeitalter der Unsicherheit. Wie stark hatte die Doppelrevolution die Menschen verunsichert?

Die Doppelrevolution war erstens eine industrielle Revolution. Allerdings sollte man wissen, dass im 19. Jahrhundert die überwiegende Mehrheit der Bewohner auf dem Land lebte. Das war auch am Ende des Jahrhunderts nicht viel anders. Die Industrialisierung hat die sozialen Revolutionen erst in der zweiten Hälfte verwirklicht. Die Aristokratie, der Adel verlor an sozialer und ökonomischer Macht und musste mit den Bürgern die Herrschaft teilen. Der Aufstieg der Industriearbeiter spielte eine zunehmend wichtige Rolle bis zum Ersten Weltkrieg. Das waren sehr starke soziale und politische Veränderungen, mehr in West- als in Mitteleuropa.

Laufen solche Prozesse notwendigerweise ab oder sind sie zufällig?

Das ist die Frage, die alle Historiker beantworten müssen. Das ist sehr schwer zu sagen. Eine Mischung, würde ich sagen. In meinem Buch versuche ich, die großen Entwicklungslinien darzulegen, aber an einzelnen Beispielen, normalen Männern und Frauen, diese zu konkretisieren. Es ist ein Zwischending zwischen Zufall und Notwendigkeit. Das ist für mich das Faszinierende an der Geschichtsschreibung.

Die Industrielle Revolution hatte noch keine massive Wirkung auf die Bevölkerung. Die politische Explosion gab es jedoch in der Mitte des Jahrhunderts…

Die gesamte Periode von 1848 bis 1870 ist eine einzige Phase der revolutionären Umgestaltung Europas. Nicht im Sinne der Theorien der Revolutionäre von 1848. Dieses Jahr war eine Bresche in dem Damm. Metternich und andere traten ab. Wenn man den Blick auf die gesellschaftlichen Reformen wirft, sieht man, dass es viel mehr Initiativen zu parlamentarischen Versammlungen gab, es gab mehr Fortschritt in Bezug auf Gleichheit vor dem Gesetz, Abbau des Feudalismus auf dem Land. Es gab also einen sozialen Umbruch und auch einen in der Politik. 1870/71 kamen dann die Einigungen Deutschlands und Italiens.

Die Preußen brauchten drei schnelle Kriege, unterschied sich die Kriegsführung von anderen Zeiten?

Die Kriege des Jahrhunderts waren kurze Kriege, mit wenigen Kontrahenten und klaren Kriegszielen. Es waren noch keine Volkskriege. Sie waren nicht so gefährlich wie im 18. Jahrhundert und im 20. Jahrhundert. Sieht man von den kolonialen Kriegen ab, kommt der erste Volkskrieg erst mit den Balkankriegen 1912/13.

Es gab ein System der Interventionen, es gab Stabilität, aber warum endete das alles in der Katastrophe von 1914?

Es gab ein Spiel zwischen Zufall und großen Linien. Es war der Niedergang der britischen Herrschaft, der Aufstieg Deutschlands mit einem vagen, aber vehementen Verlangen nach Weltgeltung, der Niedergang des Osmanischen Reiches. Der Erste Weltkrieg kam dadurch, dass die Balkannationen die Gelegenheit nutzten, mehr Land vom Osmanischen Reich zu erobern. Ich glaube, wenn der Erste Weltkrieg nicht durch den Mord am habsburgischen Erzherzog Franz Ferdinand entfesselt worden wäre, hätte es wahrscheinlich einen anderen Anlass gegeben. Es wäre auch so dazu gekommen. Man hatte eine unverantwortliche Gelassenheit gegenüber der Idee eines Krieges. Es folgten die mechanisierten Massenermordungen des Ersten Weltkrieges, was einen Schock für die europäische Kultur bedeutete.

Die große Mächte des 19. Jahrhunderts waren im Zerfall begriffen, erinnert Sie das an die Gegenwart: Die USA steigen ab, China steigt auf.

Man kann Vergleiche ziehen, natürlich. Wir sind gegenüber dem Krieg sehr viel vorsichtiger geworden. Sowohl wegen der Massentötungen des Ersten und Zweiten Weltkrieges, als auch wegen der Atomwaffen. Die Idee des Krieges ist viel gefährlicher. Wir fürchten den Krieg. Es gibt nur wenige Staatsmänner, die den Krieg als etwas Positives sehen. Vor dem Ersten Weltkrieg war das anders. „Der Krieg, den wir alle wünschen“, sagte einer der Staatsmänner 1914.

Warum haben die Briten ihre Vorreiterrolle verloren?

Großbritannien hatte zunächst den Vorsprung der Industriellen Revolution, andere Staaten haben in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts auch industrialisiert. Am Ende des Jahrhunderts war die deutsche Wirtschaft so gut wie auf Augenhöhe mit der britischen Wirtschaft. Auch Russland wurde zur industriellen Großmacht, auch wenn das politische System krisenhaft war. Im 19. Jahrhundert gab es eine vorherrschende Macht. Das entwickelte sich zu einem bipolaren System, Europa teilte sich in zwei Lager: Deutschland, Österreich-Ungarn, Türkei auf der einen, England, Frankreich und Russland auf der anderen Seite. Das war eine sehr gefährliche Situation, wie der Erste Weltkrieg gezeigt hat. Eine bipolare Situation gab es später während des Kalten Krieges im 20. Jahrhundert. Nun haben wir eine multipolare Welt mit verschiedenen konkurrierenden Großmächten wie China, die Vereinigten Staaten oder Russland, vielleicht später die EU, auch wenn die Probleme einer gemeinsamen Politik groß sind.

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