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Historiker Koselleck: Die Suche nach der verlorenen Zeit

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Von: Michael Hesse

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Koselleck
18000 Bücher in seinem Haus und eine umfassende Gelehrsamkeit: Historiker Reinhart Koselleck im Jahr 2003. © Imago

Das Werk des Historikers Reinhart Koselleck ist so aktuell wie nie zuvor. Vor hundert Jahren wurde er geboren.

Zum Abschied drückt man ihm zwei Bücher von Karl Marx und Friedrich Engels in die Hand. Drei Jahre russische Kriegsgefangenschaft liegen hinter ihm. Nun steht für Reinhart Koselleck die Umerziehung auf Schloss Göhrde in der Lüneburger Heide an. Und hier trifft der später wohl bedeutendste kommunistische Historiker (Eric Hobsbawm) auf einen der später bedeutendsten deutschen Historiker (Reinhart Koselleck). Hobsbawm war nach dem Krieg in die britische Besatzungszone gereist, um der jungen deutschen Demokratie beizubringen. In seinem autobiografischen Buch „Gefährliche Zeiten“ erinnert er sich an die Begegnung mit Koselleck.

Schicksal? Wohl kaum. Koselleck hält sich für einen Menschen „ohne Schicksal“. Am Sonntag jährt sich sein Geburtstag zum 100. Mal. Zu diesem Anlass sind drei wichtige Bücher über Kosellecks Werk und Leben (1923-2006) erschienen, die einen idealen Zugang in das Denken des Historikers eröffnen. Allen voran die Biografie „Der Riss in der Zeit“ des in Berkeley lehrenden Stefan-Ludwig Hoffmann. Aber auch Kosellecks Briefwechsel mit dem Philosophen Hans Blumenberg sowie die Textsammlung „Geronnene Lava“ (alle drei bei Suhrkamp erschienen) bieten bislang unbekannte Einblicke in die Gedankenwelt eines Meisterdenkers des Historischen. Die Textsammlung widmet sich Kosellecks Totenkult und Gedenken: wie etwa dem Holocaust-Denkmal oder der Kollwitz-Figur in der Neuen Wache.

Koselleck, der selbst zu Lebzeiten nur zwei Monografien verfasste, war einer der einflussreichsten Historiker der Nachkriegszeit. Bahnbrechende Aufsätze stammen aus seiner Feder. Er ist einer der großen Historiker – aber einer ohne großes Meisterwerk.

Er studiert Geschichte, Philosophie und Germanistik an den Universitäten Heidelberg, Freiburg und Berlin. Nach dem Zweiten Weltkrieg promoviert er an der Universität Heidelberg über den Begriff des Politischen im 18. Jahrhundert. Später habilitiert er sich an der Universität Heidelberg mit einer Arbeit über den Begriff der Kritik in der deutschen Aufklärung.

Seine bahnbrechende Arbeit besteht darin, die Bedeutung von Begriffen in ihrem historischen Kontext zu untersuchen. Er zeigt, dass Begriffe nicht statisch sind, sondern sich im Laufe der Zeit verändern, und dass ihre Bedeutung von historischen Umständen, sozialen Strukturen und politischen Ideologien geprägt wird. Dies führt zur Begründung der Begriffsgeschichte als eigenständiger Disziplin. Das Lexikon „Grundbegriffe der Geschichte“ kann als Standardwerk der Begriffsgeschichte, der Wandlungen und Umdeutungen von Begriffen wie Kapitalismus, Gleichheit, Krise, Kritik oder Revolution gelten. Bei der Lektüre verfolgt man die Bewegung der Begriffe durch die Epochen.

Parteipolitisch sieht er sich zunächst bei den Liberalen, Adenauer habe er nicht gewählt, betont er. Später unterstützt er ausdrücklich die Ostpolitik Willy Brandts, unterzeichnet 1972 die „Erklärung zur Ostpolitik“ und ist im Grunde jemand, der den umgekehrten Weg geht wie Thomas Nipperdey oder Wilhelm Hennis, die sukzessive ins konservative Lager wechseln.

Seine politischen Überzeugungen spiegeln sich auch in seinem Werk wider, in dem er sich stets kritisch mit den gesellschaftlichen Machtverhältnissen auseinandersetzt. So bilden die Gegensatzpaare Oben und Unten, Herr und Knecht jene grundlegenden Formen, die für jede Geschichtsschreibung gelten müssen. Seine Ideen hierzu werden unter dem Begriff der Historik zusammengefasst. Ob man bei ihm von einer einheitlichen Theorie sprechen kann, ist nach wie vor eine offene Frage. Sein Biograf Hoffmann bejaht sie.

Insgesamt hat Kosellecks Werk das Verständnis von Geschichte und Politik grundlegend verändert. Sein Fokus auf Begriffs- und Sprachgeschichte hat dazu beigetragen, dass wir besser verstehen, wie Ideen und Macht in der Gesellschaft funktionieren.

Geschichte, das steht für ihn fest, ist immer etwas Singuläres. Jedes Ereignis wird vom zeitgenössischen Menschen zunächst als etwas völlig Neues wahrgenommen. Koselleck selbst gebraucht das Wort vom Schicksal, als sein siebenjähriger Bruder im Krieg bei einem britischen Bombenangriff ums Leben kommt. Sein Vater will das so nicht stehen lassen. Es gebe kein Schicksal und auch keinen Gott, erklärt sein Vater. Später sagt Reinhart Koselleck selbst: „Mein Schicksal ist es, kein Schicksal zu haben.“ Dabei würde zumindest der Begriff des wohlwollenden Zufalls nur allzu gut zu Kosellecks Leben passen.

Er wurde am 23. April 1923 in Görlitz geboren. Sein Vater Arno ist zunächst Geschichtslehrer und Schulleiter, später Akademiedirektor – unterbrochen von drei Jahren Arbeitslosigkeit. Diese hat mit seiner mangelnden Kooperationsbereitschaft gegenüber den Nazis zu tun. 1941 tritt er dann doch in die NSDAP ein. Kosellecks Mutter stammte aus einer hugenottischen Gelehrtenfamilie. Ihr Vater, Felix Marchand, war im Kaiserreich ein berühmter Pathologe an der Universität Leipzig gewesen. Überhaupt wird Bildung hoch gehalten. „Bildung war eine Lebensform, an der die Familie durch alle Krisen hindurch festhielt“, so Kosellecks Biograf Hoffmann. Koselleck spielt als Kind Cello, liest die deutschen Klassiker, schreibt eigene Verse – und er lernt Zeichnen. Während des Krieges macht er das Notabitur, bevor er sich 1941 freiwillig meldet, wie schon sein Vater 1914. Zwei Drittel seiner Schulklasse kehren nicht mehr aus dem Krieg zurück. Koselleck wird an der Ostfront eingesetzt. Neun Monate lang nimmt er am Angriffskrieg gegen die Sowjetunion teil. Er wird zum Artilleristen ausgebildet. Seine Einheit nimmt im Zuge der „Operation Barbarossa“ an der Eroberung von Kiew teil, dann geht es weiter nach Charkiw, alles Orte, die man heute in ganz anderen Zusammenhängen wieder hört.

Das Massensterben dieses Krieges im Osten übertraf alles bisher Dagewesene. „Allein während der mehr als zweijährigen Belagerung der Millionenstadt an der Mündung der Newa starben mehr Menschen als auf britischer und amerikanischer Seite im gesamten Zweiten Weltkrieg“, schreibt Hoffmann etwa über die Stadt Leningrad. Mit dem Vormarsch der deutschen Truppen kamen auch die Sondereinheiten, „die hinter der Front vermeintliche Gegner liquidierten“, so Hoffmann. Die deutschen Besatzungstruppen verüben Massenmorde an der Zivilbevölkerung. Juden werden systematisch ermordet. 30 000 werden außerhalb von Kiew in der Schlucht von Baby Jar ermordet. Koselleck wird sich später nur sehr bruchstückhaft an diese Zeit erinnern. Immer wieder versucht er, diese Erinnerungslücken zu erklären. Nichts aber prägte ihn so wie diese Lebensphase. Er selbst sagt: „Krieg und russische Gefangenschaft=Erfahrungswissenschaft.“

Was an Erinnerungen bleibt, ist zum Teil erschütternd. In seinen Aufzeichnungen schreibt er: „Ich sah Tote, denen der halbe Schädel weggerissen war – in Morosow nach der Rückeroberung – aber war der Tote tot? Dann sah ich das Pferd, dem der halbe Schädel weggerissen war – und das Pferd lebte, in vollem Galopp an der marschierenden Kolonne entlang.“

Seine Division soll weiter nach Stalingrad. Unweit von Charkiw endet für ihn der Russlandfeldzug, ein schweres Geschützrad seiner Batterie fährt ihm über die Füße. „Der Unfall rettet Koselleck wahrscheinlich das Leben“, meint Hoffmann. „Allein im Kessel von Stalingrad starben im Winter 1942/43 160 000 deutsche Soldaten.“

Die Fußverletzung wird nicht richtig behandelt, zehn Monate liegt er im Lazarett. Immer neue Operationen folgen. Koselleck nutzt sein Zeichentalent: „Der Neunzehnjährige vertrieb sich die Zeit mit politischen Karikaturen von Stalin, Roosevelt und Churchill, die in imperialer Konkurrenz um die Weltherrschaft rangen.“

Sein Vater schickt ihm Goethes „Faust“ und Kants „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ zur Lektüre ins Lazarett. 1943 hört Koselleck nach eigenen Angaben zum ersten Mal vom Konzentrationslager Buchenwald. Dort spricht man „beim Tee von den ‚schrecklichen KZ-Zuständen auf dem Ettersberg‘ und vom unvermeidlichen Ende des Krieges“, berichtet er von den Treffen der Dante-Gesellschaft, zu denen ihn seine Tante, eine Goethe-Expertin, mitnimmt.

In den letzten Kriegswochen wird er wieder diensttauglich geschrieben, muss erneut an die Ostfront, die da bereits auf deutschem Boden liegt. Koselleck gerät in russische Kriegsgefangenschaft. Mit anderen Gefangenen marschiert er 100 Kilometer nach Auschwitz, wo er bei der Demontage der IG-Farben-Fabrik helfen muss, die nach Russland geschafft werden soll. Mit ihnen wird auch er auf einen Zug nach Zentralasien verladen.

die Bücher

Stefan-Ludwig Hoffmann: Der Riss

in der Zeit.

Kosellecks ungeschriebene Historik. Suhrkamp. 392 S., 24 Euro.

J. E. Dunkhase,

R. Zill (Hg.): Hans Blumenberg, Reinhart Koselleck: Briefwechsel 1965-1994. Suhrkamp. 181 Seiten, 32 Euro.Reinhart

Koselleck: Geronnene Lava

Texte zu politischem Totenkult und Erinnerung, Suhrkamp. 572 Seiten, 38 Euro.

Bei extremer Kälte im Winter und großer Hitze im Sommer kämpft er ums Überleben. Er musste die „Drecksarbeit“ im Lazarett verrichten. Die Sterblichkeitsrate ist hoch. Koselleck leidet an einer chronischen Entzündung der Bauchschleimhaut. Am Hals bildet sich ein Furunkel. Seine Lage ist lebensbedrohlich. Der Lagerarzt, ein ehemaliger Assistent von Kosellecks Großvater, rettet ihn und schreibt ihn arbeitsunfähig, als er von der Verwandtschaft zum großen Pathologen erfährt.

Nach drei Jahren Haft kann Koselleck nach Hause zurückkehren. Als er seinen Vater in Göttingen besucht, erkennt dieser ihn nicht: „Als Reinhart Koselleck ihn auf dem Bahnsteig ansprach, fragte der Vater höflich nach seinem Namen – er erkannte den Sohn nicht wieder.“

Was bleibt, ist die Angst vor den Russen. Hobsbawm erinnert sich Jahrzehnte später an Kosellecks Furcht. Die beiden verstehen sich gut. Koselleck fertigt eine Zeichnung an, die Hobsbawm mit übergroßer Nase zeigte. Doch während Hobsbawm Kommunist bleibt, gehört Koselleck von den 1950er Jahren an zum konservativen Kreis um Ernst-Wolfgang Böckenförde und andere junge Intellektuelle. Der Gesprächskreis um Carl Schmitt, betont Hoffman, „war für die Ideengeschichte der Bundesrepublik ebenso einflussreich wie die Frankfurter Schule“.

Diese Verbindung wirkt auch auf Koselleck zeitlebens nach: „Es war die Verbindung mit dem gefährlichen Geist Carl Schmitts, die Kosellecks Ruf als brillanter, aber politisch fragwürdiger Geschichtsphilosoph begründete“, sagt Hoffmann. Inzwischen hat er sein Studium an der Universität Heidelberg aufgenommen. Schmitt lernte er zufällig kennen, weil dieser regelmäßig seine Frau in Heidelberg besucht, die dort wegen einer Krebserkrankung behandelt wird. Abends trifft sich Schmitt mit einem Studentenkreis, zu dem auch Koselleck gehört.

In Heidelberg studiert er bei dem aus dem Exil zurückgekehrten Heidegger-Schüler Karl Löwith. Koselleck machte sich an die Übersetzung von drei Kapiteln von Löwiths „Sinn in der Geschichte“, was ihm den Zugang zu den Tiefen der Geschichtsphilosophie eröffnet. Bei Löwith schreibt er seine Dissertation „Kritik und Krise“. Die Arbeit, die später zu einem Klassiker der Geschichtsschreibung wird, gefällt Löwith nicht so recht und wird von ihm auf „magna cum laude“ herabgestuft – „zu soziologisch“, findet er.

Seine beiden weiteren Lehrer, Johannes Kühn und Hans-Georg Gadamer, kommen von der Universität Leipzig. Auch Kühn gibt ihm nur ein „magna cum laude“ – „eine große Enttäuschung“, notiert Koselleck.

In den Seminaren bei Gadamer und Heidegger lernt Koselleck jene Sinnverschiebungen im Detail kennen, die ihn sein Leben lang akademisch beschäftigen werden. Aus der durch Gadamer vermittelten Heidegger-Rezeption sei die Frage nach einer Theorie der geschichtlichen Zeit entstanden, sagt Koselleck später.

Aber auf die Frage, was ihn am stärksten geprägt habe, antwortet er: „Krieg und russische Gefangenschaft gleich Erfahrungswissenschaft“. Es geht ihm um einen neuen Zugang zur Geschichte, eine Geschichte ohne Heilsversprechen, die auf der Evidenz gemachter Erfahrungen und der begrifflichen Analyse der Gegenwart beruhen sollte.

Koselleck lehrt an den Reformuniversitäten Bochum und Bielefeld. Dort geht es um Interdisziplinarität und Struktur. 1968 folgte er einem Ruf nach Heidelberg, wo er auch Marx-Seminare hält. Dieter Heinrich, Hermann Lübbe, Böckenförde oder Niklas Luhmann trifft er gelegentlich bei Sommerseminaren im Kloster Erbach. Am Historikerstreit von 1986 ist er nur indirekt beteiligt. Jürgen Habermas kritisiert ihn mehrfach als Schmitt-Wiedergänger. 1973 geht er nach Bielefeld, er trifft auf Historiker wie Hans-Ulrich Wehler, der mit seiner Gesellschaftsgeschichte selbst für ein neues Paradigma des Faches sorgt. Koselleck wurde einmal als „genialer Außenseiter“ bezeichnet. Disziplinär sitzt er als Sozial- oder Begriffshistoriker zwischen allen Stühlen.

Er konnte messerscharf schreiben, ganze Epochen und Wissenschaften wurden in wenigen Absätzen skizziert, abstrakt und anschaulich zugleich. Das zeichnete ihn aus, nicht die breit angelegte Meistererzählung. Er sei ohnehin ein langsamer Schreiber, sagte er einmal. Inmitten seiner 18 000 Bücher zu Hause feilte er an schlanken Essays, für die er manchmal so lange brauchte wie Nipperdey für einen ganzen Band.

Auch Koselleck ist dem existenzialistischen Sound der Nachkriegsmoderne verfallen, wie sein Biograf schreibt: „den Kopf skeptisch zurückgeworfen, die obligatorische Zigarette oder Pfeife im Mundwinkel, locker sitzende Anzüge“. Koselleck wollte im Anschluss an Heidegger eine neue Geschichtsontologie entwerfen, die den Geschichtsphilosophien den Boden entziehen und damit „eine Antwort auf unsere konkrete Situation sein sollte“. Hans Freyers „Weltgeschichte Europas“ wird für ihn zum Ideengeber.

Nach und nach entwickelt sich eine Kritik des Historismus und der Geschichtsphilosophie. Koselleck fragt nach dem „bleibenden Ursprung“ der Geschichte. Aus der Endlichkeit des Daseins (des Menschen), wie sie Heidegger herausgestellt hatte, müsse nun auch alle Geschichte „ontologisch“ verstanden werden.

Er verbindet politische Analysen mit theoretisch-methodischen Überlegungen. Historik nennt er die von ihm skizzierte Geschichtsontologie. Geschichtsprophezeiungen aus dem Weg zu räumen, ist seine Maxime. Er wendet sich gegen die marxistische Geschichtsphilosophie. Es gibt keine wie auch immer geartete Hegelsche Theodizee.

„Wozu noch Geschichte?“, fragt er. „Geschichte zeigt Perspektiven auf, Bedingungsgeflechte möglichen Handelns; empirisch liefert sie Daten, um Trends zu extrapolieren – insofern hat sie Anteil an der Prognostik.“ Seine überraschende Pointe: Aus der Geschichte lässt sich nichts lernen. Mit anderen Worten: Historische Ereignisse sind für die, die in dieser Zeit leben, immer neu und überraschend. Dennoch muss es Strukturen geben, die dauerhafter sind als das ganz Neue. Prognosen für Wirtschaftskrisen im Vergleich zu 2008 oder 1929 wären ein Beispiel dafür.

Geschichte, betont Hoffmann, das ist für Koselleck weder Nietzsches „ewige Wiederkehr des Gleichen“ noch so etwas wie das täglich grüßende Murmeltier aus dem gleichnamigen Film mit Bill Murray. Wir sind nicht in einer Zeitschleife gefangen, vielmehr gibt es Wiederholung und Bruch als Bedingungen möglicher Geschichten. In einer Zeit sich überlagernder Krisen und Umbrüche gewinnen seine Entwürfe einer Theorie der Bedingungen möglicher Geschichten eine neue Dringlichkeit. Vielleicht findet Kosellecks Werk deshalb weltweit so viel Aufmerksamkeit.

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