Historiker Jürgen Osterhammel: „1848 war eine Lektion“

Der Globalhistoriker Jürgen Osterhammel über das „unabgegoltene Erbe“ der Revolution und warum die Paulskirche eine gute Chiffre für die „Global Assembly“ ist.
Herr Osterhammel, die 1848er Revolution breitete sich wie ein Lauffeuer über die Länder Europas aus – mit zwei gewichtigen Ausnahmen: Russland und Großbritannien. Warum hielten ausgerechnet diese Staaten die Revolution außen vor?
Man muss zunächst festhalten, dass die Revolution den ganzen Rest Europas erreichte – von Portugal bis Moldawien, von Norwegen bis Neapel und Sizilien, bis an die Grenze des Zarenreiches. Es war die größte und umfassendste Revolutionsbewegung in der europäischen Geschichte. Überall gab es Angriffe auf die herrschenden politischen Ordnungen, Forderungen nach bürgerlichen Rechten, Verfassungen, Parlamenten. Nicht von dieser Bewegung erfasst worden zu sein, war ein Ausnahmefall. Das Zarenreich unter Nikolaus I., dem „Gendarmen Europas“, wehrte alle Revolutionsimpulse ab, machte die Grenzen dicht. Es war gewarnt, weil es in seinen Grenzen den großen Unruhefaktor Polen hatte, wo 1830/31 ein großer Aufstand nur mühsam unterdrückt werden konnte. Erst nach der militärischen Niederlage im Krimkrieg (1853-56) erkannte die zarische Herrschaft in den sechziger Jahren die Notwendigkeit von Reformen, vor allem der Befreiung der bäuerlichen Leibeigenen. Allerdings blieb die absolute Monarchie bestehen, ein Sonderweg in Europa.
Wie stand es um Großbritannien?
Großbritannien war als frühe konstitutionelle Monarchie das Vorbild der gemäßigten Liberalen auf dem europäischen Kontinent. Auf der britischen Insel hatte es bereits eine breite Bewegung des sozialen Protests gegeben, den Chartismus, der Anfang der 1840er Jahre einige seiner Ziele erreicht hatte, andere nicht, und 1848 bereits im Niedergang war. Die britische politische und gesellschaftliche Elite war erfahren im Ablenken von Spannungen und hat das auch 1848 erfolgreich praktiziert. Sie hat Spannungen in die Kolonien abgelenkt. Es galt, die Mittelschicht ruhig zu halten, indem man sie finanziell möglichst wenig belastete. Der britische Staat steigerte die finanziellen Bürden der Kolonien, etwa in Ceylon (Sri Lanka), und nahm dort durch Steuererhöhungen ausgelöste Proteste in Kauf.
Waren die Zielsetzungen der Revolutionäre in allen Ländern des Kontinents gleich? Strebten alle nach der Errichtung einer Republik?
Alle strebten nach der Beschränkung der monarchischen Systeme, die fast überall noch absolutistische Ordnungen waren. Der kleinste gemeinsame Nenner war die konstitutionelle Monarchie, die Republik war ein weitergehendes Ziel, das nur von einer radikalen Minderheit der Revolutionäre angestrebt wurde. Ein weiteres Ziel, vor allem in Italien (das eine große Rolle im Gesamtkontext von 1848 spielte), war die Befreiung von Fremdherrschaft und die Errichtung eines Nationalstaates. Darum herum lagerte sich ein Kranz speziellerer Ziele, die ganz unterschiedliche soziale Träger hatten. Fast überall gab es Bauernrevolten. Die Bauern dachten hauptsächlich teils an die Befreiung von der Leibeigenschaft, insofern diese noch existierte, teils an die Verbesserung ihrer wirtschaftlichen Situation, etwa durch Steuersenkungen. Die Bauernbewegungen verfolgten selten weiterreichende republikanische Absichten. Sobald ihre Forderungen erfüllt wurden, waren sie zufriedengestellt.
Konnte man dennoch von einer sich gegenseitig bestärkenden Situation in Europa sprechen, so dass ähnliche Entwicklungen stattfanden? Gab es also eine Konvergenz der verschiedenen revolutionären Bewegungen?
Im Gesamtverlauf der Ereignisse eher nicht, weil die Kämpfe zwischen den Revolutionären und ihren Gegnern jeweils auf lokal besondere Weise verliefen – es gab spezifische Kräfteverhältnisse „vor Ort“. Konvergenz findet sich vor allem in der Anfangsphase. Die Revolution hatte einen eindeutigen Ausgangspunkt: Frankreich im Februar 1848. Von dort aus pflanzten sich revolutionäre Impulse sehr schnell über den Kontinent hinweg fort. Es gab an vielen Stellen Europas kleine Gruppen von radikalen Aktivisten, zum Teil noch aus der 1830er Revolution herrührend, also aktivistische Zellen, die in die Revolution einstiegen. Im weiteren Verlauf der Revolution sieht man dann keine zunehmende Koordination, überall traten regionale Probleme in den Vordergrund. Insofern zerfiel die Revolution im Laufe des Jahres 1848 in wenig koordinierte Teilrevolutionen. Man beobachtete einander, aber ein steuerndes Zentrum gab es nicht. Die Konterrevolution war besser organisiert und sprach sich besser ab als die Revolutionäre. All das unter Kommunikationsbedingungen vor der Erfindung des Telegraphen. Nachrichten reisten so schnell, wie ein Reitpferd, eine Kutsche oder ein Schiff vorankamen.
Der Geist der Französischen Revolution von 1789 wurde in viele europäische Länder getragen. Wo lagen die Unterschiede?
Es gab 1848/49 keinen gesamteuropäischen Krieg, sondern nur lokale Gewaltereignisse und begrenzte Kriege. Entsprechend fehlte die Übertragung revolutionärer Impulse durch große Revolutionsarmeen. 1848/49 war keine Wiederauflage der Kriege der Revolution und Napoleons der Jahre 1792–1815, durch die in den von Frankreich besetzten Ländern die Revolutionsideen eingewurzelt wurden. Der Transport von Impulsen geschah im Wesentlichen durch Printmedien, die im Tempo des vorindustriellen Zeitalters reisten. Es war eine Zeitungsrevolution, vermutlich sogar die Zeitungsrevolution schlechthin, weil bereits 1871, zur Zeit der Pariser Kommune, Nachrichten in wenigen Minuten über Telegraphenkabel verbreitet wurden. Eine Rolle, über die man erst wenig weiß, spielte auch das mündliche Verbreiten von Gerüchten, oft über große Entfernungen. Nicht immer müssen komplette politische Programme übermittelt werden, oft genügt ein vages Hörensagen, dass irgendwo – anfangs in Paris – etwas „passiert“ ist. Nur so lässt sich erklären, dass es unglaublich schnelle Reaktionszyklen gab und während der ersten Monate an mehreren Orten Europas fast gleichzeitig revolutionäre Erhebungen ausbrachen.
Wie sah es bei den Gegnern der Revolutionäre aus?
Sie nutzen ähnliche Kommunikationswege, hatten jedenfalls keinen technischen Vorsprung. Aber sie verfügten über viel Erfahrung im Umgang mit Revolutionen, bereits aus den Revolutionskriegen und dem Widerstand der konservativen Mächte gegen die Französische Revolution. Nach dem Wiener Kongress von 1814/15 war die konservative Elite Europas auf die Abwehr revolutionärer Gefahren eingestellt, möglichst präventiv. Als es dann wirklich zum koordinierten Eingreifen der Gegenrevolution kam, 1849 in Ungarn, das zum Habsburgerreich gehörte, lief das über das klassische Mittel eines Hilferufs, wie man es vielfach aus der Geschichte kennt: Der Zar griff 1849 auf Bitten des österreichischen Kaisers mit 200 000 Soldaten in Ungarn ein, unterdrückte dort die Revolution gewaltsam und besetzte vorübergehend das Land.
Wie war es global gesehen?
Auch wenn sich die Kontakte etwa durch die allmähliche Verdichtung des Schiffsverkehrs verstärkten, gab es immer noch große Teile der Welt, die vom Geschehen in Europa unberührt blieben. Die Distanzen erkennt man schon an der Kommunikationsgeschwindigkeit: Nachrichten vom Aufstand in Paris im Februar 1848 brauchen per Schiff 30 Tage in die französische Karibikkolonie Martinique, vier Monate nach Australien. Wenn man in die 1850er Jahre vorausblickt, gab es allerdings große Protestbewegungen, die es an Umfang mit 1848/49 leicht aufnehmen konnten.
Um welche handelt es sich da?
Zur Global Assembly::
Mit einem öffentlichen Auftakt in der Paulskirche beginnt am Sonntag, 14. Mai die „Global Assembly für Menschenrechte, Demokratie und globale Gerechtigkeit“. Das Treffen mit 45 Aktivistinnen und Aktivisten aus 40 Ländern findet aus Anlass des 175. Jahrestages der Nationalversammlung in der Paulskirche statt. Nach dem Auftakt wollen die Teilnehmer:innen drei Tage lang in Klausur darüber beraten, wie trotz zunehmender autoritärer Tendenzen in der Welt die Grund- und Menschenrechte verteidigt und womöglich ausgebaut werden können.
Die Versammlung ist aus der Überzeugung entstanden, dass die Frage nach Demokratie und Menschenrechten, um die 1848 auf nationaler und europäischer Ebene gerungen wurde, in Zeiten der Globalisierung nur transnational diskutiert werden kann.
Die Idee der „Global Assembly“ stammt von der Initiative „Der utopische Raum“, einer Kooperation der Stiftung Medico international, des Instituts für Sozialforschung und der FR. Aktiv beteiligt sind außerdem Brot für die Welt, Medico, Misereor, Reporter ohne Grenzen, die Friedrich-Ebert-, die Heinrich-Böll- und die Rosa-Luxemburg-Stiftung. Die Evangelische Akademie Frankfurt ist Gastgeberin für die dreitägige Klausur, die auf die Eröffnung folgt. Gefördert wird das Ganze von der Stadt Frankfurt, dem Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst sowie der Bundeszentrale für politische Bildung. Eine Fortsetzung ist im März 2024 ist geplant.
Der öffentliche Auftakt findet auf Einladung der Stadt Frankfurt am Sonntag, 14. Mai, um 18 Uhr in der Paulskirche statt. Dort werden die Teilnehmer:innen begrüßt, die sich mit Themen wie Frauen- und Minderheitenrechten, Ökologie und Klimaschutz,
sozialer Gerechtigkeit oder Meinungsfreiheit beschäftigen. Außerdem gibt es eine Diskussion zwischen dem Schriftsteller Navid Kermani und der Sozialanthropologin Shalini Randeria über Fragen globaler Demokratie, dazu Musik von Mitgliedern des Ensemble Modern. Die Moderation übernimmt FR-Autorin Bascha Mika.
Anmeldung bis 10. Mai per Mail unter: protokoll@stadt-frankfurt.de
Die Taiping-Revolution in China (da sie vollkommen scheiterte, oft nur als „Aufstand“ bezeichnet), die 1850 begann, erst 1864 endete und viele Millionen Tote forderte, oder 1857/58 den Großen Aufstand in Indien gegen die britische Kolonialherrschaft, beides Bewegungen, die von der Revolution von 1848 in Europa nicht beeinflusst waren. Die Taiping-Revolution war die blutigste Umwälzung des 19. Jahrhunderts. Sie erhielt einen gewissen Anstoß durch Kontakte ihres wichtigsten Führers mit christlichen Missionaren, aber das hatte nichts mit 1848 zu tun, niemand in China hörte von der „Paulskirche“. China war jedoch keineswegs ganz isoliert: Nachrichten von Goldfunden in Kalifornien 1849 locken sofort chinesische Glücksritter an. Auch Japan blieb von 1848 unberührt, wie überhaupt alle nicht-kolonisierten Gebiete der außereuropäischen Welt. Die Wirkungszusammenhänge waren primär atlantische. Schon die Französische Revolution war in ein transatlantisches Geschehen eingebettet. Man spricht heute von den Atlantischen Revolutionen, die in den britischen Kolonien in Nordamerika begannen, in Haiti einen gewaltsamen Höhepunkt erreichten und mit den Unabhängigkeitsrevolutionen in Lateinamerika endeten. Zwischen 1775 und 1825 erfasste ein gigantischer Revolutionszyklus den atlantischen Raum. Das wiederholte sich 1848 nicht, aber selbstverständlich existierten transatlantische Kontakte. Das Verhältnis zwischen den USA und Europa war zwar keine „Freundschaft“, aber die stärkste interkontinentale Beziehung, die Europa schon damals hatte.
Wie standen die USA zu 1848?
Viele Amerikaner waren Einwanderer aus Europa in der ersten oder zweiten Generation. Die Stimmung in den USA war ambivalent. Auf der einen Seite ein Desinteresse an Europa, das ein konservatives Image hatte. Man war politisch schon wesentlich weiter, hatte in vielen Bundesstaaten das allgemeine Männerwahlrecht eingeführt, eine zentrale Forderung der Revolutionäre in Europa. Das, was in der „alten Welt“ geschah, schien ein Aufholen historischer Rückständigkeit zu sein. Insofern hatte Amerika von Europa nichts zu lernen. Andererseits fühlten sich progressive Kräfte durch die Informationen aus Europa bestärkt, vor allem in ihrem Kampf gegen die Sklaverei. Es gab viele Einzelne und Gruppen in den USA, die sich damals für die Abschaffung der Sklaverei einsetzten, die sogenannten Abolitionisten. Sie zumindest erkannten, dass Europa nicht ganz so reaktionär war, wie viele andere Amerikaner glaubten, und die progressiven Kräfte in den USA und in Europa dieselben, wie wir heute sagen, „westlichen Werte“ vertraten. Präsident Polk schickte als Geste symbolischer Unterstützung sogar ein Kriegsschiff nach Bremerhaven. Die USA griffen aber niemals in die europäischen Auseinandersetzungen ein.
Wie entwickelte sich die Sklaverei im Zuge von 1848?
Die Sklaverei-Frage betraf in Bezug auf Europa nur die Kolonien. In Europa selbst gab es keine Sklaven, und die Sklaverei in anderen Teilen der Welt entzog sich europäischem Einfluss. 1833 war die Sklaverei im britischen Empire abgeschafft worden, aber einstweilen nur dort. Im revolutionären Geschehen von 1848 in Frankreich nutzt eine kleine Anti-Sklaverei-Bewegung die Gunst der Stunde und setzt ein Abolitionsgesetz durch. Damit war auch der zweite große Sklavenhalter Europas auf Anti-Sklaverei-Kurs eingeschwenkt, die Niederlande und Spanien folgten erst Jahrzehnte später. In den USA war man noch nicht so weit. Die Abolitionsbewegung erhielt durch die Geschehnisse in Europa moralischen Auftrieb, war aber bei weitem nicht stark genug, um das tief verwurzelte Sklavereisystem der Südstaaten zu stürzen. Dazu bedurfte es erst deren Niederlage im Bürgerkrieg (1861-65). Einige der „1848er“, die nach der Niederlage der Revolution in Deutschland in die USA flohen, spielten dort eine große Rolle in der Anti-Sklaverei-Bewegung. Carl Schurz, später US-Innenminister, trat 1856 der gerade gegründeten Republikanischen Partei, der Anti-Sklaverei-Partei, bei.
Welche Rolle spielten die Frauen in den Demokratiebewegungen?
Da steht 1848 relativ am Anfang der eigentlichen Entwicklung der Frauenbewegung. Die Durchsetzung von politischen Rechten für Frauen gelang erst später. Die Paulskirche bewies eine neue Offenheit für frauenrechtliche Forderungen. Politische Rechte der Frauen wurden diskutiert, Frauen in politische Klubs aufgenommen, schon vor der Revolution. Aber der Kampf um das Frauenwahlrecht, die erste Phase der internationalen Frauenbewegung, kam erst am Ende des 19. Jahrhunderts in Schwung. Die Frage des Wahlrechts war der Kern der politischen Frauenbewegung. Da ist die Entwicklung in Europa erstaunlich langsam verlaufen. Das einzige Land, das vor dem Ersten Weltkrieg ein Frauenwahlrecht eingeführt hat, war Norwegen 1913. Davor war in Neuseeland, einer britischen „Siedlungskolonie“, 1893 erstmals auf der Welt ein aktives Frauenwahlrecht gesetzlich verankert worden. In Deutschland und Großbritannien wurde das Frauenwahlrecht gleichzeitig erst 1918/19 Realität. Von der Paulskirche führt keine direkte Impulskette zu diesem Ergebnis.
Gab es globale Demokratiebewegungen im 19. Jahrhundert?
Es gab überall auf der Welt Freiheitsbewegungen, politische Bestrebungen, die in ganz konkreten Umständen ein Ende von Unterdrückung und die Öffnung politischer Entfaltungsräume erreichen wollten. Ob man das Demokratiebewegungen nennen kann, ist fraglich. Versteht man Demokratie als organisiertes System, als liberal-demokratische, parlamentarische Demokratie innerhalb eines Verfassungsrahmens, dann blieb sie bis zum letzten Drittel des 19. Jahrhunderts auch im „Westen“ eine Ausnahmeerscheinung. Vorstellungen von politischer Freiheitlichkeit waren eingebunden in andere Zielformulierungen: in die Frauenbewegung, die Arbeiterbewegung, den Pazifismus, die frühen anti-kolonialen Bewegungen, beispielsweise in Indien. In kolonialen Zusammenhängen ging es organisierten Bewegungen vorerst um die Abstellung von Missständen, das Ende rechtlicher Diskriminierung und eine gewisse Mitsprache einheimischer Honoratioren, seltener um die Abschaffung von Kolonialherrschaft überhaupt. Konkrete Vorstellungen von nach-kolonialen parlamentarischen Systemen verbreiteten sich erst nach dem Ersten Weltkrieg.
Welche Rolle spielte 1848 für die Gegner der Revolution?
Die gesamteuropäische Revolutionswelle war eine Lektion. Die konservativen Eliten waren meist keine unbelehrbaren Reaktionäre, die zum Jahr 1847 zurückkehren wollten. In ganz Europa wurden bestimmte Überreste des alten gesellschaftlichen und politischen Systems beseitigt. Insofern ist es nur halb richtig zu sagen, die Revolution sei „gescheitert“. Abgeschafft wurde etwa die Leibeigenschaft. Im frühen 19. Jahrhundert war sie in Westeuropa verschwunden, aber zum Beispiel nicht im Habsburgerreich. Solche modernisierenden Systembereinigungen erfolgten auf vielen Gebieten und wurden auch von konservativen Kräften mitgetragen. Eine zweite Lektion war, dass Monarchen und die aristokratischen Kreise, mit denen sie eng verbunden waren, dem Bürgertum, das, sozial gesehen, die Kerntruppe der Revolutionsbewegung gestellt hatte, entgegenkommen mussten – allein schon im Interesse der wirtschaftlichen Entwicklung, die neuerdings von der Industrie vorangetrieben wurde. Ein weiteres Ziel der Revolutionäre war der Nationalstaat. Auch Konservative, vor allem Bismarck, verfolgten das Ziel der Nationalstaatsbildung. Sie erkannten, dass der Nationalstaat die zeitgemäße organisatorische Form einer industriewirtschaftlichen Entwicklung unter Bedingungen internationaler Konkurrenz war. Kooperation mit einer am nationalen Markt orientierten Wirtschaftsbourgeoisie, der man Freiheiten des Geschäftslebens einräumte sowie politische Mitsprache, ohne sie dominant werden zu lassen – das war die Formel des konservativen Reformismus, vor allem in Deutschland. Mitsprache bedeutete etwa die Einführung des allgemeinen Männerwahlrechts, schon 1867 in der Verfassung des Norddeutschen Bundes und dann in der Reichsverfassung von 1871. Damit war die Voraussetzung für die Bildung moderner politischer Parteien geschaffen
Was ist im 19. Jahrhundert eine „globale Demokratiebewegung“?
Man kann dabei bestenfalls an die englische Freiheitstradition in den Siedlungskolonien des Empire (Kanada, Australien, Neuseeland) denken, die aber in der Praxis auf „Weiße“ beschränkt blieb, also ein rassistisch reduziertes Freiheitsverständnis vertrat. Die Anerkennung von indigenen Rechten, vor allem auch Eigentumsrechten, war ein extrem langsamer Prozess, der sich durch das ganze 20. Jahrhundert hindurchzog. „Demokratie“ bedeutete in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Selbstregierung mit allmählich immer locker werdenden Bindungen an das imperiale Zentrum in London. Australien zum Beispiel war ab 1907 faktisch ein sich parlamentarisch selbst regierender Nationalstaat. In den allermeisten Kolonien – und es gab davon 1898 viel mehr als fünfzig Jahre zuvor – konnte von Demokratie keine Rede sein. Im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts führte dann eine neue „eurasische“ Revolutionswelle dazu, dass in Russland, China, dem Iran und dem Osmanischen Reich absolute Monarchien konstitutionelle Zugeständnisse machten oder – wie in China 1911 – ganz zusammenbrachen.
Wie steht 1848 zur Idee der „Global Assembly“?
Wenn man heute im Sinne der Initiative global ausblickt, ist „1848“ eine produktiv nutzbare Chiffre für zukunftsorientierte Beratschlagung. Man kann sich die etwa 800 Leute, es waren nur Männer, recht gut vorstellen, die sich (niemals alle gleichzeitig) 1848 zusammensetzten und über grundlegende Verfassungsfragen berieten. Das ist einprägsam, es hat einen großen Symbolwert. Obwohl die Revolution von 1848/49 selbst kein globales Ereignis war, sondern ein europäisches und sogar gesamteuropäisches, ist die Paulskirche ein guter Ausgangspunkt, um alte und neue Themen global weiterzudenken. Die persönlichen Freiheitsrechte, die damals diskutiert wurden, haben eine Tradition, die sogar älter ist als die Französische Revolution, die wiederum die Menschen- und Bürgerrechte auf die historische Tagesordnung setzte. In vielen Ländern der Welt sind diese universalen Rechte, die man nicht als „eurozentrisch“ kleinreden darf, in keiner Weise realisiert und garantiert. Sie sind, um Ernst Bloch, den Philosophen der Hoffnung, zu zitieren, ein „unabgegoltenes Erbe“ der Revolution von 1848.