Historiker Jörn Leonhard über Ukraine-Krieg: „Angst vor Verrat an den Opfern“

Warum eine schnelle Friedenslösung in der Ukraine fast unmöglich erscheint: Historiker Jörn Leonhard über Parallelen zum Ersten Weltkrieg.
Herr Leonhard, wenn Sie die Situation im Ersten Weltkrieg mit der in der heutigen Ukraine vergleichen, ist es immer möglich und auch ratsam, einen Friedensvertrag zu schließen? Angesichts des Versailler Vertrages hat man da nicht nur leichte Zweifel.
Der Versailler Friedensvertrag ist ein Beispiel, wie ein gut gemeinter Anlauf zu einer großen weltumspannenden Friedenslösung an der Realität scheitern kann. Das geflügelte, auch bereits von Zeitgenossen geprägte Wort lautete, dass es sich nicht um einen Friedensvertrag, sondern um einen Waffenstillstand für 20 Jahre handelt. Versailles zeigte, wie man einen Friedensschluss mit Erwartungen überfordern kann – daher habe ich mein Buch „Der überforderte Frieden“ genannt. Die Erwartung war damals, eine Friedensordnung zu schaffen, die den Krieg an sich abschafft. So sollte der Weltkrieg ein „War to End All Wars“ werden. Auf der Grundlage des nationalen Selbstbestimmungsrechts und des Völkerbundes sollte die Ära der Geheimdiplomatie in den internationalen Beziehungen enden. Aber für wen sollte Selbstbestimmung gelten: für die Nachfolgestaaten der kontinentaleuropäischen Empires oder auch für die Kolonialgesellschaften in Afrika und Asien? Man ist nach 1918 auch an zu hohen und widersprüchlichen Erwartungen gescheitert. Und das verweist auf das Grundproblem jedes Friedensschlusses. Der Weg zu Friedensverhandlungen hat immer etwas mit, neudeutsch gesagt, Erwartungsmanagement zu tun. Etwas davon erleben wir auch im Augenblick: Wie schaffen wir es, ohne Überforderung, eine realistische Einschätzung zu gewinnen, wann es ein politisches, diplomatisches Fenster für Waffenstillstandsverhandlungen oder anschließend für Friedensverhandlungen gibt? Ohne Friedensvertrag müsste man darauf setzen, einen Konflikt einzufrieren. Damit aber gibt man jeder Seite die Möglichkeit, den Status quo immer wieder infrage zu stellen, und es bleibt eine „blutende Wunde“. Sobald die eigenen Ressourcen wieder aufgefüllt sind, kann man erneut losschlagen. Der Korea-Krieg endete nicht mit einem Friedensvertrag, das ist bis heute ein Grundproblem der Sicherheit in Ost-Asien.
1919 wurde eine globale Friedensordnung angestrebt. Wäre das im Fall der Ukraine nicht auch ratsam, da ja in Asien mit China und Taiwan der nächste große Konflikt vor der Tür steht?
So könnte eine extrem idealistische Position aussehen. Man verbindet alle aktuellen Konflikte miteinander. Und sie sind ja tatsächlich auch vielfältig miteinander verflochten, das erleben wir jeden Tag. China ist zwar keine Kriegspartei, aber der Zusammenhang zwischen dem Konflikt in der Ukraine und der Kritik am Westen und vor allem an den USA ist überdeutlich. Die Art und Weise, wie der Westen auf den Krieg in der Ukraine reagiert, wird in ganz Asien intensiv beobachtet – weil es eine Ahnung davon gibt, was im Falle eines Konflikts um Taiwan geschehen könnte. Mit Blick auf historische Friedensverträge wäre ich skeptisch bei der Erwartung einer globalen Friedensordnung aus einem Guss. Realistischer erscheint es, sich auf das Machbare in einer Krisenregion zu konzentrieren. Meine Fantasie reicht nicht, der Diplomatie eine ganz große Lösung für alle Weltkonflikte zuzutrauen. Das würde sehr schnell zu ähnlichen Problemen führen wie bei den Friedensmachern von 1919. Darin wird ein grundsätzliches Problem erkennbar: Die großen Friedensschlüsse der Neuzeit stellten vor allem in Europa ein politisches Mächtegleichgewicht her, so im Westfälischen Frieden nach dem Dreißigjährigen Krieg, auf dem Wiener Kongress 1815, nach dem Krimkrieg in den 1850er Jahren. Anders als diese im Kern europäischen Gleichgewichtskonzepte ging es seit 1918 um eine Ballung vieler neuer Faktoren: Probleme der ganzen Welt und nicht mehr allein Europas, wie Massenflucht, Kolonialismus und Dekolonisierung, dazu ganz unterschiedliche Akteure, Sieger und Besiegte, Aufsteiger und Absteiger, und schließlich die Konkurrenz unterschiedlicher politischer Systeme, Ideologien und Werte. Das alles sind extrem hohe Hürden für eine ganz große Friedenslösung.
Also eher nach dem Machbaren fragen?
Oder nach dem, was ich „Erwartungsmanagement“ genannt habe. Direkt nach der Unterzeichnung des Versailler Friedensvertrages hat der damalige südafrikanische Politiker Jan Christiaan Smuts in einem vielbeachteten Artikel die Schwächen der Friedensverträge analysiert. Aber er machte auch klar, dass ein unvollkommener Friedensvertrag jetzt die Grundlage für Politiker und Diplomaten sei, um die Wirklichkeit zu gestalten. Anders gesagt: Die Arbeit am Frieden ist nicht mit den Unterschriften abgeschlossen, sie beginnt eigentlich erst dann, wenn dieses Dokument unterzeichnet ist. Wenn man diese Perspektive einnimmt, gibt es gute Argumente dafür, nach dem Machbaren und dem Konkreten zu fragen und da sollte im Augenblick der Fokus auf der Ukraine liegen und nicht auf einer zu hohen Erwartung an eine globale Friedensordnung.
Mit Versailles verbindet man Ungleichgewichte, was die friedensschließenden Staaten angeht. Das Deutsche Reich war der unterlegene Staat, Frankreich, Großbritannien und die USA die Gewinner. Wie ausschlaggebend ist das für die Verträge? Denn das ist ja auch in Bezug auf die Ukraine von Relevanz, wenn es heißt, man müsse sich auf Augenhöhe begegnen können.
Das ist ein ganz entscheidender Punkt. Ich bin vorsichtig mit der Vorstellung, dass man aus der Geschichte lernt, wenn damit die Idee verbunden ist, dass sich Geschichte wiederholt. Denn Konstellationen und Kontexte verändern sich. Aber wenn man sich die Pariser Friedenskonferenz ansieht, dann erweist sie exemplarisch, was passiert, wenn die politische Kommunikation durch symbolische Demütigung ersetzt wird. Die große Verbitterung in Deutschland nach 1919 hatte nicht nur zu tun mit dem Inhalt des Friedensvertrages, sondern der Tatsache, dass man sich als moralischer Paria behandelt fühlte. Formelle Verhandlungen gab es nicht, und dieser Ausschluss von vertrauensbildender Kommunikation hat wesentlich zur deutschen Wahrnehmung von Versailles als „Diktat“ beigetragen. Ganz anders der österreichische Staatskanzler Metternich, der 1814 darauf beharrte, das unterlegene Frankreich von Anfang an einzubinden, es an den Tisch zu holen, es nicht zu demütigen, weil es sonst innen- und außenpolitisch destabilisiert würde. Genau das gelang mit Deutschland nach 1918 zunächst nicht – und es belastete die Weimarer Republik. Deshalb ist Ihre Frage nach der politischen Kommunikation so wichtig. Auf dem Weg zu Waffenstillstands- und Friedensverhandlungen ist die Frage nach der Gleichberechtigung der Akteure und ihrer Einbindung in Kommunikationsprozesse so grundlegend. Deshalb finde ich es prinzipiell wichtig, dass auch jetzt der Gesprächsfaden nicht abreißt. In meiner Analyse der Juli-Krise von 1914 habe ich zu zeigen versucht, dass der Weltkrieg auch deshalb ausbricht, weil es irgendwann keine direkte Kommunikation mehr zwischen den Akteuren gibt – und dann Militärs in Szenarien die Lösung der Krise anboten, etwa im Versprechen eines kurzen Krieges, das sich als Illusion erwies. Auch in der Kuba-Krise blieben über sogenannte „back-channels“ Kontakte zwischen den Akteuren erhalten. Das ist wichtig, um die Eskalation von Krisen zu verhindern, und es wird umso relevanter, wenn man irgendwann Zeitfenster für Politik und Diplomatie schaffen will.
In Deutschland wird die These diskutiert, wie im Wagenknecht/Schwarzer-Manifest, die Ukraine durch Stopp der Waffenlieferungen an den Verhandlungstisch zu zwingen. Wie tragfähig ist angesichts der Erfahrung des Versailler Vertrages ein Friedensabkommen, von dem der eine gar nicht überzeugt ist?
Zur Person
Jörn Leonhard ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Freiburg. 2014 und 2018 erschienen seine Bücher „Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkriegs“ und „Der überforderte Frieden. Versailles und die Welt 1918-1923“.
Im April 2023 erscheint von ihm und Ulrike von Hirschhausen: „Empires. Eine globale Geschichte 1780-1920“.
Foto: IMago Images
Eine Friedenslösung, bei der die Souveränität und territoriale Integrität eines bestehenden Staates wie der Ukraine nachhaltig beschädigt wird, würde das Prinzip von anerkannten Grundregeln der internationalen Beziehungen nachhaltig beschädigen. So wie dies auch 1938 geschah, als Frankreich und Großbritannien bereit waren, einen souveränen, territorial integrierten Staat wie die Tschechoslowakei, ein Mitglied des Völkerbundes, zu opfern in der Hoffnung, Hitlers aggressiven Revisionismus zu befriedigen. Ich sehe jedenfalls starke Anzeichen dafür, dass mit einer Politik, wie jetzt vorgeschlagen, Putins Expansionskonzept gerade nicht eingedämmt würde. Vielmehr würde ein wichtiges Ordnungsprinzip der internationalen Politik beschädigt. China und andere Akteure würden das aufmerksam registrieren. Wenn der Bruch der Prinzipien in der Ukraine akzeptiert wird, dann vielleicht auch in anderen Konfliktregionen: in Ostasien, im Nahen und Mittleren Osten, und irgendwann in Belarus, in Moldau, gar im Baltikum? Die Vorstellung, dass man den Konflikt mit von außen erzwungenen ukrainischen Konzessionen einfrieren kann und Putin damit befriedigt, halte ich angesichts der Politik seit 2014 und seiner imperialen Logik für naiv. Als Historiker würde ich davor warnen, die Logik glaubwürdiger Abschreckung aufzuweichen.
Der Versailler Vertrag hat den Revanche-Gedanken in Deutschland nach 1919 massiv verstärkt. Das wird auch im Zusammenhang mit dem Untergang der Sowjetunion diskutiert. Erkennen Sie hier Parallelen?
In Deutschland war es nach 1918 eine mehrfache Umbruchs- und Verlusterfahrung in kurzer Zeit: Zur militärischen Niederlage, die viele Deutsche nicht anerkannten und mit dem Verrat des „Dolchstoßes“ erklärten, kam das Ende der Monarchie und dann der als Demütigung begriffene Frieden von Versailles. Zu den zwei Millionen Toten des Weltkriegs kam die außenpolitische Isolation, das anhaltende Reparationsproblem, die Hyperinflation und das Krisenjahr 1923 mit der extremen Polarisierung zwischen links und rechts. In einer solchen Situation war Russland nach 1989/91 sicherlich nicht, auch wenn wir bis heute unterschätzen, wie traumatisch viele Menschen in Russland die ersten Jahre nach dem Ende der Sowjetunion erlebten: als wirtschaftliches Chaos und soziale Verarmung, als Auflösung staatlicher Ordnung, als außenpolitischen Niedergang. Trotzdem ging der Kalte Krieg ganz anders zu Ende als der Erste Weltkrieg, und es bestanden ja berechtigte Hoffnungen, Russland in einen europäischen Friedensprozess zu integrieren. Was wir in vielen westlichen Staaten vor lauter europäischer Integrationseuphorie lange Zeit unterschätzt haben, ist eine Art post-imperialer Phantomschmerz, der bis heute weiterwirkt. Putins Überzeugung, dass der Untergang der Sowjetunion die größte Katastrophe des 20. Jahrhunderts gewesen sei, verbindet sich mit einer neo-imperialen Geschichtspolitik nach innen, mit der er die eigene Gesellschaft seit vielen Jahren auf einen Konflikt mit dem Westen vorbereitet hat. Seine letzte Rede war voller Bezüge auf das 19. Jahrhundert und den gegen Russland gewandten Imperialismus anderer europäischer Mächte. Hier wird mit verfälschter Geschichte unmittelbar Politik gemacht. Darin liegt eine gewisse Parallele zu den 1920er und 1930er Jahren: Das subjektive Bewusstsein, dass man betrogen und gedemütigt worden sei, wird, geschichtspolitisch instrumentalisiert, selbst handlungsleitend. Die Rechtsextremen und dann Hitler haben mit dieser Politik in den 1920er und 1930er Jahren jedenfalls einen Nerv der Deutschen getroffen.
Es wird darüber diskutiert, ob es die richtige Zeit für Friedensverhandlungen sei, wenn es für Putin und Selenskyj jeweils nicht mehr möglich sei, territoriale Zugeständnisse zu machen. Wann gab es im Ersten Weltkrieg die realistische Möglichkeit, ein Friedensabkommen zu schließen?
Das ist eine sehr gute Frage, weil sie zeigt, wann in historischen Prozessen eigentlich der Augenblick entsteht, in dem Politik und Diplomatie wirklich zum Zuge kommen können. Die Suche nach Auswegen aus dem Weltkrieg beginnt ernsthaft ab Ende 1916 und intensivierte sich 1917, weil mit der Russischen Revolution im Februar und dem Kriegseintritt der USA im April eine neue internationale Situation entstand. Im Sommer 1917 verabschiedete der deutsche Reichstag eine Friedensresolution, und es gab Friedensinitiativen des Vatikans. Und trotzdem ging der Krieg weiter.
Wie kann man das erklären?
Der Krieg setzte sich fort, weil letztlich alle Seiten weiter glaubten, dass sie mit enormen Opfern den Krieg doch noch zu ihren jeweils eigenen Bedingungen gewinnen können. Damit verbunden war ein weiteres Argument: Ein zu früher Verzicht auf eigene Forderungen, zu viele Konzessionen wurden als Verrat an den Opfern gebrandmarkt. Daraus entsteht eine paradoxe Logik, indem der Krieg sich wegen der immer höheren Zahl der Opfer gleichsam selbst verlängert. Denn die hohen Opfer lassen sich nach innen nur durch einen Sieg zu den eigenen Bedingungen legitimieren – denn für was sind die Soldaten und Zivilisten sonst gestorben? Jeder politische Führer einer unterlegenen Seite muss damit rechnen, dass er mit dieser Frage konfrontiert wird: Für was haben wir in diesem Krieg gekämpft? Damit ist die Legitimation des politischen Systems unmittelbar verknüpft. Bis in den Spätsommer 1918 glaubte die deutsche Militärführung trotz der enormen Verluste, noch einen „Siegfrieden“ erreichen zu können. Erst als den Kommandeuren klar wurde, dass die Ressourcen nicht mehr ausreichten, die Verluste zu kompensieren, und der Zusammenbruch bevorstand, drängte man auf Waffenstillstandsverhandlungen, um den Krieg so schnell wie möglich zu beenden, und gab die Verantwortung an die Politik ab. Gegenwärtig sind wir in dem Ukraine-Krieg davon noch weit entfernt. Präsident Selenskyj kann keine politischen Konzessionen machen, während er zugleich hoffen kann, mit westlichen Waffen den russischen Angreifer zurückzudrängen. Putin wiederum hat sein Schicksal an den Ausgang des Krieges gebunden, und mit jeder Rede wird sein Einsatz höher. Zugleich setzt er auf Zermürbung, eigene Ressourcen und die Erosion des Westens. Wenn in einem Krieg politische Legitimation an Sieg und Niederlage geknüpft sind, werden die Einsätze hoch und die Wege aus dem Krieg länger und schwieriger. Wer weiß, dass er seine Niederlage mit seinem politischen, vielleicht sogar physischen Tod bezahlt, wie im Falle Putins, wird alles daransetzen, diesen Krieg doch noch zu gewinnen – auch deshalb, also nicht allein wegen der Atomwaffen, verfügt Putin über die Eskalationsdominanz.
Wenn man sich die Logik der steigenden Opferzahlen ansieht, müsste man da nicht unverzüglich die Friedensbemühungen intensivieren?
Ja, aber sie sind derzeit nicht realistisch. Solange die Ukraine noch eine realistische Chance sieht, den Krieg siegreich zu beenden, also mit dem Status quo ante Anfang 2022 oder sogar mit der Herstellung ihrer territorialen Souveränität vor der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim, gibt es keinen zwingenden Grund, warum sie sich auf Konzessionen einlassen sollte. Und auch die Vorstellung, dass ein Frieden auf einer solchen Basis das Ende des Konflikts bedeuten sollte, halte ich bei allem Verständnis für den Wunsch nach Frieden für naiv. Eine entscheidende Konsequenz aus dem Ersten Weltkrieg lag darin, dass viele Probleme des Krieges in den Friedensverträgen nach 1918 gerade nicht gelöst, sondern vertagt wurden. Das gilt für Grenzfragen, für die Umsetzung des Selbstbestimmungsrechts, für das Reparationsproblem – all das vergiftete die lange Nachkriegsphase. Und viele dieser vertagten Probleme kamen an die politische Oberfläche zurück wie versenkte Bojen im Meer.