„Putin ist ein imperialer Opportunist“ - Politikwissenschaftler über Ukraine-Krieg

Forscher Herfried Münkler über russische Phantomschmerzen und die Unehrlichkeit des Westens im Umgang mit der Ukraine. Ein Interview.
Herr Münkler, träumt Russland von einer Wiedergeburt seines Imperiums?
Es träumt nicht nur davon. Zumindest Wladimir Putin ist damit beschäftigt, das Imperium wieder herzustellen. Dieses Ziel ist ihm so viel wert, dass er hohe politische und wirtschaftliche Risiken eingeht und alle Regeln und Werte der internationalen Gemeinschaft mit Füßen tritt.
Er scheint überzeugt, dass Russland ein Anrecht auf die Territorien anderer Staaten hat.
Postimperiale Konstellationen – wie wir sie bei Russland nach 1991, bei der Türkei und Deutschland nach 1918 beobachten konnten – führen zu imperialen Phantomschmerzen. Man erinnert sich daran, dass bestimmte Räume vormals zum eigenen Herrschaftsgebiet gehört haben, identifiziert sich mit ihnen und betreibt entsprechende Geschichtspolitik. Durch diese Erzählungen steigert man das Bedürfnis, die Räume zurückzugewinnen. Erdogan hat vor rund zehn Jahren damit begonnen, eine neo-osmanische Politik zu verfolgen und sich daran zu erinnern, dass das osmanische Reich einstmals sehr viel größer war als die heutige Türkei...
Ukraine-Krieg: Putin ist kein Unikat
...auf dem Balkan konnte man in den 90er Jahren einen ähnlichen Revisionismus beobachten...
Genau. Die Spuren des Zerfalls der drei großen multinationalen, multireligiösen und multilingualen Reiche – also der Habsburger Monarchie, des Zarenreichs und des Osmanischen Reichs – haben teilweise zur Herausbildung leidlich stabiler Nationalstaaten geführt. Teilweise aber auch zu Räumen, die instabil waren, wie es sich auf dem Balkan gezeigt hat. Und wenn die alte Zentralmacht nicht so geschrumpft ist wie beispielsweise Österreich, machte sich der Wunsch nach der alten Größe breit. Deshalb ist Putin kein Unikat, aber angesichts seiner atomaren Waffen hat er ganz andere Optionen als kleinere Akteure.
Und dieser imperiale Phantomschmerz kann jederzeit nach der Amputation wieder auftreten?,
Vielleicht gibt es so etwas wie Gesetzmäßigkeiten beim Wiederauftreten des Schmerzes. Die Deutschen sind ja nach 1918 nicht sofort wieder in die Uniform gesprungen, um aufs neue Krieg zu führen. Aber zehn Jahre später machten sich die Revanchevorstellungen sehr deutlich bemerkbar. Ebenso begann zehn Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion die Ära Putin. Was folgte war der Krieg mit Georgien, das Eingreifen in den Syrienkrieg – denn Einflusssphären zu sichern gehört bei Imperien ja auch dazu – dann die Krim, Belarus, Kasachstan... Offenbar ist ihm beim Essen der Appetit gekommen, denn jetzt greift er in ganz großem Stil zu.
Krieg in der Ukraine: Zu einem Gewinner gehört auch ein Verlierer
Den Zusammenbruch der Sowjetunion hat Putin ja nicht umsonst als „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ bezeichnet.
Ich bin keineswegs ein Putin-Versteher, aber natürlich muss man die Motive und Handlungsabsichten eines Kontrahenten begreifen, um ihm strategisch gewachsen zu sein. Dazu gehört, sich die Zeit nach 1989 anzuschauen. Damals kam auf westlicher Seite die Erzählung auf: Wir haben gewonnen! Dabei hat man sich wenig Gedanken darüber gemacht, dass zu einem Gewinner auch ein Verlierer gehört. Man hat so getan, als wäre es aufgrund des Freiheitsgewinns auch eine erfreuliche Ausgangslage für Russland. Herausgekommen ist aber so etwas wie eine kollektive Demütigung, und die hat sich bei Putin, und nicht nur bei ihm, deutlich ausgeprägt.

Wenn man Konflikte vermeiden will, muss man sich in die Position des anderen versetzen und seine Interessen im Auge haben – sagt die Konflikttheorie. An diesem Punkt hat der Westen versagt?
Vielleicht nicht versagt, aber man hat sich in eine Dilemma-Situation begeben, in dem man das Selbstbestimmungsrecht der osteuropäischen Staaten hinsichtlich ihrer Bündnisstrukturen betont hat. Man hat sich zu wenig Gedanken gemacht, was das aus der russischen Perspektive bedeutet. Die Nato argumentiert, dass Russland de facto ja nicht eingekreist wurde...

Aber das ist im konflikttheoretischen Sinne nicht ausschlaggebend...
Eben, sondern ob Russland sich fühlt, als wäre es eingekreist – und dann handelt es so als ob und entwickelt Bedrohtheitsobsessionen. In der gegenwärtigen Situation muss man allerdings einschränkend sagen: Solche Obsessionen wären zur Zeit am allerwenigsten begründet. Denn die Amerikaner sind mit China und die Europäer mit sich selbst beschäftigt. Putin hat diese Schwäche registriert und sie für eine umfassend revisionistische Politik mit militärischen Mitteln genutzt.
Soll Russland in Putins Fantasie wieder so groß werden wie unter dem Zaren oder wie unter Stalin?
Ich glaube, da ist er offen. (Lacht) Sowohl die Zaren- als auch die Stalinzeit nutzt er ja gelegentlich als Referenzräume. Putin ist ein imperialer Opportunist. Er nutzt die Gelegenheit, wenn sie sich strategisch bietet – wie bei der Ukraine, weil da auch der Westen ungeschickt agiert hat. Für die Nato kam es nicht in Frage, bei einem russischen Angriff etwa amerikanische U-Boote ins Schwarze Meer zu schicken, sie dort umzuflaggen, also in ukrainische Atom-U-Boote zu verwandeln und die Ukraine so auszustatten, dass sie mit Nuklearwaffen auf Moskau feuern kann, was ja eine mögliche und schnelle Reaktion gewesen wäre...
Zur Person
Herfried Münkler, 1951 im hessischen Friedberg geboren, war bis 2018 Inhaber des Lehrstuhls für Theorie der Politik an der Humboldt-Universität zu Berlin. Zu seinen wichtigsten, in insgesamt mehr als 20 Sprachen übersetzten Büchern gehören „Die Neuen Kriege“ (2002), „Imperien“ (2005) und „Der Große Krieg“ (2013).
„Marx – Wagner – Nietzsche“ heißt sein jüngstes Buch, 2021 bei Rowohlt Berlin erschienen.
Ein Atomkrieg? Das meinen Sie jetzt nicht ernst...
Wenn man dieses Risiko von Beginn an nicht eingehen wollte – vielleicht zu Recht, um keine Eskalation zu provozieren – dann hätte man den Ukrainern aber deutlich machen müssen: Leute, die Finnlandisierung, also eine bündnispolitische Neutralität, ist das Beste, was ihr haben könnt. Im anderen Fall werdet ihr geschluckt, denn einen Krieg gegen Russland könnt ihr nicht gewinnen. Es war unfair vom Westen zu sagen, dass das Selbstbestimmungsrecht bei bündnispolitischen Fragen auch für die Ukraine gilt – um dann weder bereit noch in der Lage zu sein, die verkündeten Werte zu garantieren und durchzusetzen.
Krieg in der Ukraine: Russland zahlt einen hohen Preis
Welchen Preis zahlt Russland für die Anstrengung, seine imperiale Macht wiederherzustellen?
Russland zahlt dafür einen hohen Preis, einen Preis, den Putin den Russen zwangsauferlegt hat. Von denen wehren sich jetzt doch erstaunlich viele dagegen. Das ist in Putin-Russland eine sehr mutige Haltung. Denn die wehren sich wirklich gegen eine Diktatur. Putin dagegen gebraucht die Bewirtschaftung von nationaler Ehre und imperialem Selbstbewusstsein als Ersatz, weil er seiner Bevölkerung nicht mehr bieten kann. Weil es an materiellen Gütern wenig gibt, versucht er seine Leute mit kollektivem Stolz abzuspeisen.
Russische Wissenschaftler vertreten die These, dass auch die russische Öffentlichkeit von der Expansion geradezu besessen ist. Dass das Land die Ausdehnung braucht, um sich selbst als erfolgreiche Nation zu sehen. Denn die Identität des Staates und der Bevölkerung sei nicht durch eine gemeinsame Geschichte geprägt, sondern nur durch den ständig wachsenden Herrschaftsbereich.
Ich würde der Beschreibung einen anderen Dreh geben: Die Russen haben in ihrer Geschichte eigentlich nichts anderes als imperiales Agieren kennen gelernt. Sie konnten deswegen keine funktionierende Zivilgesellschaft ausbilden. Und auch nie abwägen zwischen individueller Freiheit plus einem gewissen materiellen Wohlergehen auf der einen Seite und Opfer plus nationalem Stolz auf der anderen Seite.
Wieso sprechen Sie Russland eine funktionierende Zivilgesellschaft ab – selbst wenn Akteurinnen und Akteure unterdrückt und eingekerkert werden?
Ich will die Opposition in Russland ja nicht runterreden – im Gegenteil, aber sie hatte nie eine starke Position. Auch Zivilgesellschaften können scheitern. Dabei spielt eine Rolle, dass Russland ein riesiges Reich mit sehr unterschiedlichen Problemen in den Regionen ist. Zudem wurde die Ökonomie nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion in ein Oligarchensystem überführt. Und die patriarchale Ordnung wurde fast bruchlos fortgesetzt: mit dem Mann an der Spitze, der sich der Bevölkerung in väterlicher Manier zuwendet. Das, was eine Zivilgesellschaft auszeichnet – die Horizontale gegenüber der politischen Vertikalen stark zu machen –, hat so gut wie nie geklappt. Mit Ende der Ära Jelzin hat sich ein großer Teil der Gesellschaft davon abgewandt und auf einen starken Führer gehofft. Denn die 90er Jahre waren für Russland die Erinnerung an das Scheitern eines Projekts der horizontalen Ordnung.
Ich bin immer davon ausgegangen, dass der westliche Entwurf einer neuen Weltordnung hochvulnerabel ist
Russland hatte postsowjetisch nie eine wirkliche Chance zum Neuanfang?
Anders als westeuropäische Gesellschaften, bei denen viele imperiale Projekte blutig und unter extensiven Kosten geendet haben. Diese Erfahrungen haben die Russen nicht gemacht. Sie erzählen vom Vaterländischen Krieg gegen Napoleon und vom Großen Vaterländischen Krieg gegen Hitler und die Wehrmacht. Wenn solche Erzählungen im kollektiven Gedächtnis dominant sind, haben sie auch eine imperative Dimension gegenüber den heutigen Generationen: Hey Leute, Ihr müsst euch gegenüber euren Vätern und Großvätern würdig erweisen! Das hat mit einem tiefsitzenden Narrativ zu tun, das Putin noch kürzlich bei seinen Auftritten wiederholt hat – wenn auch hemmungslos zusammengekleistert, um sein kriegerisches Vorgehen zu legitimieren. Eigentlich muss man diese geschichtspolitischen Erzählungen völlig vergessen, damit jetzt lebende Generationen für sich selbst verbindlich entscheiden können.
Sie können ein kollektives Gedächtnis doch nicht einfach auslöschen.
Aber kollektive Gedächtnisse sind umkämpft. Ich gehöre ja noch zu der Generation, die die Auseinandersetzung um die Brandtsche Ostpolitik miterlebt hat. Das war auch ein Kampf um das historische Gedächtnis: Was des Gespeicherten ist relevant, und was lernen wir daraus? Insofern geht es bei Geschichtserzählungen auch immer um Machtfragen. Sie sind nie selbstläufig.
Haben wir nach dem Fall der Mauern nicht geglaubt, das Zeitalter des Imperialismus sei überwunden?
Viele Leute haben das geglaubt, ich allerdings nicht. Ich bin immer davon ausgegangen, dass der westliche Entwurf einer neuen Weltordnung hochvulnerabel ist. Wenn man da nicht einen Hüter hat, der Regeln und Werte durchsetzt, ist es eine Einladung an Störenfriede auszuprobieren, wie weit man gehen kann. Die Euphorie eines neuen Zeitalters konnte ich nie teilen.
Sie können sich eine zukunftsfähige, humane Weltordnung nicht vorstellen? Was müsste denn passieren, dass wir dahin kommen?
(Lacht) Die Ankunft des Erzengels Gabriel?
(Interview: Bascha Mika)