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Habermas-Biograph: „Er kann gar nicht anders, als sich zu äußern“

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Von: Michael Hesse

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Nimmt kein Blatt vor dem Mund: Jürgen Habermas im August 1981 in seinem Haus. In dem Jahr erschien sein Hauptwerk „Die Theorie des kommunikativen Handelns“.
Nimmt kein Blatt vor dem Mund: Jürgen Habermas im August 1981 in seinem Haus. In dem Jahr erschien sein Hauptwerk „Die Theorie des kommunikativen Handelns“. © dpa

Habermas-Biograph Stefan Müller-Doohm spricht im Interview über die Verbindung von Theorie und politischer Haltung im Denken des Philosophen.

Herr Müller-Doohm, lässt sich der Habermas-Beitrag in der „Süddeutschen Zeitung“ unmittelbar aus seiner Philosophie verstehen?

Unmittelbar nicht, aber man kann vielleicht sagen, er hat von seiner Theorie der kommunikativen Vernunft praktischen Gebrauch gemacht. Er hat in der Rolle des öffentlichen Intellektuellen darüber nachgedacht, welche denkbaren Möglichkeiten der internationalen Politik gegeben sind, gegen den offensichtlichen Bruch des Völkerrechts durch das russische Regime einzuschreiten. Er hat sich bereits das zweite Mal in der „Süddeutschen Zeitung“ zu Wort gemeldet.

Seine Ansicht folgt seiner Diskursethik?

Gerade das „Plädoyer für Verhandlungen“ speist sich, ohne dass Habermas es explizit ins Spiel bringt, aus der von ihm vertretenen und begründeten Diskursethik und seinem damit einhergehenden Konzept deliberativer Politik. Während Diskurse ein generelles Verfahren sind, um das zur Sprache zu bringen, was zwischen Parteien strittig geworden und deshalb Anlass fundamentaler Konflikte ist, beinhaltet die Deliberation genannte Praxis der Beratung unter politischen Kontrahenten die Möglichkeit, zu Lösungen zu gelangen, die für alle Seiten akzeptabel sind.

Die zweite Intervention von ihm wirkt schärfer als die erste vom 29. April des letzten Jahres.

Das sagen Sie. Gemeinsam ist beiden Interventionen, dass Habermas von vornherein jedem Zweifel begegnet: Putin hat sich eines Kriegsverbrechens schuldig gemacht und er muss wegen dieses „kriminell geführten Angriffs auf Existenz und Unabhängigkeit eines souveränen Staates“ angeklagt werden.

Man stellt ihn jetzt in eine Ecke mit Wagenknecht und Schwarzer und deren „Manifest zum Frieden“.

Ich denke, Manifeste sind Habermas’ Sache nicht. Aber er plädiert für Verhandlungen, die er auf seine Weise begründet, beispielsweise dadurch, dass er die zunehmende Verantwortlichkeit erklärt. Da nimmt er kein Blatt vor den Mund. Der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine rechtfertigt Habermas zufolge ja die Sanktionen gegen Russland und insbesondere die Unterstützung der Ukraine durch die westlichen Demokratien. Dazu gehört auch, wie er ausdrücklich betont, die begrenzte militärische Unterstützung durch die Nato, freilich ohne dass sie selbst Kriegspartei wird.

Sehen Sie eine Veränderung seiner Position?

Während in dem vor elf Monaten publizierten Artikel alles um den Begriff der Eigendynamik kreist, der sich auf die Spirale expandierender Waffenlieferungen bezogen und die Gefahr eines dritten Weltkrieges beschworen hat, gehen die aktuellen Überlegungen einen entscheidenden Schritt weiter: Legitim ist für ihn das Ziel, dass die Ukraine den Krieg nicht verlieren darf. Er argumentiert weiterhin, dass die mit diesem Ziel verbundenen Waffenlieferungen die politische Verantwortung der Nato-Staaten sowie der Europäischen Union erheblich erhöhen. Im Lichte der von Max Weber eingeführten Unterscheidung zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik nimmt Habermas eine verantwortungsethische Position ein.

Was heißt das konkret?

In dieser Perspektive bemüht er sich, die Folgen der politischen Handlungsalternativen abzuwägen und grenzt sich so von einer gesinnungspolitischen Außenpolitik ab, die ihre Handlungsweise aus der Orientierung feststehender Werte bezieht.

Zur Person

Stefan Müller-Doohm ist emeritierter Professor für Soziologie an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Aus seiner Feder stammt das Buch „Adorno. Eine Biographie.“

Leben und Werk von Jürgen Habermas werden von ihm in dem Buch „Jürgen Habermas. Eine Biographie“ (Suhrkamp Verlag, Berlin 2014, 784 Seiten, 29,95 Euro) gewürdigt.

Jürgen Habermas wurde am 18. Juni 1929 in Düsseldorf geboren, er wuchs in der oberbergischen Stadt Gummersbach auf. Habermas lehrte unter anderem an den Universitäten Heidelberg und Frankfurt, zudem war er Direktor des Max-Planck-Instituts zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt in Starnberg. Habermas wurde 2001 mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet.

Im Jahr 1981 erschien das zweibändige Werk Theorie des kommunikativen Handelns. Zuletzt legte er im Suhrkamp-Verlag: „Auch eine Geschichte der Philosophie“ vor.

Steckt da ein Teil der Frankfurter Schule drin, die in diesem Jahr ihr Jubiläum feiert?

Nein. Kritische Theorie in der Tradition von Horkheimer und Adorno ist nicht sein Bezugsrahmen. Aber das sprachphilosophische Fundament der Gesellschaftstheorie, das Habermas ausbuchstabiert hat, spielt eine Rolle für die Stoßrichtung seiner Argumentation.

Aber lässt sich das nicht genauso andersherum verstehen, so dass man die Befürworter von Waffenlieferungen verstehen kann?

Ja, er ist ja selber Befürworter von Waffenlieferungen, jedoch in begrenztem Umfang und mit klarer Zielsetzung.

Glaubt Habermas, dass man mit Putin verhandeln kann? Das scheint doch gerade nicht zu funktionieren.

Habermas bekundet in beiden Artikeln genügend politischen Realitätssinn, dass diese theoretischen Konfliktlösungsmodelle, also Diskurs und Deliberation, nicht schlicht auf die Kriegssituation anwendbar sind: Faktum ist, dass Putin ein Autokrat ist, der sich Verhandlungsangeboten entzieht. Habermas ist erkennbar ratlos, was in dieser Situation zu tun ist, wenn der russische „kriminelle Aggressor“ sich strikt weigert, über Frieden oder Waffenstillstand und seine Bedingungen zu verhandeln. Für das von ihm propagierte „Prinzip Verantwortung“ kann Habermas am Ende nur einen Verbündeten in Anspruch nehmen, nämlich die Stärke des unparteiischen Rechts. So resultiert seine vielfach als blauäugig kritisierte Forderung nach Verhandlungen aus den gegebenen rechtlichen Bestimmungen, wie sie in der Charta der Vereinten Nationen niedergelegt sind. Das ist nicht nichts, aber zu wenig. Der Leser vermisst konkrete Überlegungen darüber, wie international zusammengesetzte Verhandlungskommissionen geschaffen werden können. Sie müssten legitimiert sein durch die UN, außerdem geeignet sein, durch Kompromissangebote oder gegebenenfalls durch gezielte Sanktionsmittel „im völkerrechtlich ausbuchstabierten Interesse“ Druck auf ein offenbar irrationales Regime auszuüben, das die Apokalypse eines dritten Weltkriegs in Kauf zu nehmen scheint.

Und wie sehen Sie das persönlich?

Ja, ich würde auch auf das Konzept von Verhandlungen setzen, obwohl Putin sich weigert, man muss mit allen denkbaren Mitteln es solange versuchen, bis es geht. Denn ein anhaltender Stellungskrieg wäre verheerend, und es ist nicht auszuschließen, dass auch dem Westen die militärischen Ressourcen ausgehen.

Was treibt Habermas an? Er ist 93 Jahre alt, hat zuletzt ein großes Werk, „Auch eine Geschichte der Philosophie“, verfasst – und nun die Beiträge?

Er kann gar nicht anders, als sich angesichts dieser bedrückenden Problemsituation publizistisch zu äußern, das Intervenieren ist ihm auf den Leib geschrieben.

Dahinter steckt eine große Leistung, strengt ihn das in seinem Alter nicht sehr an?

Es ist zu vermuten, dass ihn das angesichts der Brisanz des Themas und der zu erwartenden Resonanz anstrengt, aber die Notwendigkeit, jedes Wort auf die Goldwaage zu legen, und der kognitive und emotionale Aufwand sind kein Hindernisgrund. Schweigen ist seine Sache nicht. Das beweisen seine zahlreichen Kritiken in der Rolle des öffentlichen Intellektuellen. Er hofft immer noch und weiterhin, dass „kommunikative Macht“ die politische Kultur zu beeinflussen vermag

Ist er ein Pazifist?

Nein, er rückt ja von der Position des absoluten Pazifismus ab, aber er hinterfragt auch die Idee eines gerechten Krieges. Ich halte das für ungeklärt, und da besteht noch viel Diskussionsbedarf.

Glaubt er wirklich, dass man jetzt mit Wladimir Putin verhandeln kann, denn das setzt Vertrauen voraus?

Er ist ja nicht blind und weiß, dass Putin eine Verhandlung verweigert. Kontrafaktisch gibt es keinen anderen Weg, als dennoch zu versuchen, zu Verhandlungslösungen zu kommen. Er hält das ja für richtig, dass Scholz und Macron immer wieder den Kontakt zu Putin suchen.

Wie schätzen Sie sein Werk, seine philosophische Leistung insgesamt ein? Ist er der letzte Meisterdenker der deutschen Philosophie?

Er zählt anerkanntermaßen zu den größten Denkern, die wir im Moment haben. Er unterscheidet sich von vielen anderen Philosophen dadurch, dass er bereit ist, zu intervenieren, also im Sinne eines öffentlichen Gebrauchs der Vernunft seine Stimme zu erheben. Er trennt allerdings strikt zwischen dem, was er als Philosoph schreibt und als öffentlicher Intellektueller äußert, auf dieser Differenzierung besteht er.

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