Gesellschaftliche Spaltung: Wir brauchen eine neue Kultur der Freundschaft

Wachsender Narzissmus und die Radikalisierung in unserer Mitte kennen nur ein Gegenrezept: Die Freundschaft neu definieren.
Man kann die Reichsbürger als wirre Köpfe bezeichnen. Muss man sogar! Doch wer sie als exotisches Phänomen auffasst, verkennt die Symptomatik hinter ihrer Entstehung, bilden sie doch nur die perverse Spitze einer zunehmend partikularisierten, entfremdeten Gesellschaft ab. Die Welt gilt diesen krassen Geisterfahrern als Verschwörung von Geheimbündlern. Derweil vernimmt man schon in Teilen der Mittelschicht mehr und mehr Diskursschrott. Während manche ihre Sprache und Kultur auf koloniale Ideologiereste hin abklopfen, marodieren inmitten unserer Gemeinschaft vermehrt höchst bedenkliche Sätze wie „Die Ausländer bekommen alles, die Deutschen nichts“. Der Markenkern all jener Konglomerate von Raunen und Hörensagen: tiefes Misstrauen. Gegen den Nachbarn wie gegen den Staat im Allgemeinen.
Viele verbarrikadieren sich in der Nische eines Neo-Biedermeiertums, ziehen physischen Gartenzäune hoch und konsumieren – als paradoxen Ausgleich – eine Weite im Netz. Die Gesellschaft jener Vereinzelten ist gleichsam eine Gesellschaft der Lichtsucher auf den Bildschirmen. Schnell bieten welterklärende, mythische Seiten die Erleuchtung – und Kontakte zu Ähnlichdenkenden. Sie alle streben danach, die „Bestätigung [zu finden], ein liebenswerter Mensch zu sein. Zugleich deutet die wechselseitige Spiegelung im anderen jedoch auch schon an, warum sich dieses Glück nicht einstellt, denn indem sich die Freunde ineinander spiegeln, öffnen sie die Freundschaft auf für die Pathologien des Narzißmus“, schreibt Björn Vedder in seinem Essay „Neue Freunde“ (2017). Wo wir demnach in den sozialen Netzwerken auf ein Gegenüber treffen, begegnen wir – gemäß dem Prinzip der Echokammern, wonach nur noch die eigenen Worte zurückhallen – letztlich nur noch uns selbst.
Aber wie viel Solipsismus und Egozentrik verträgt eine Gesellschaft? Häufig ist in der Gegenwart von der „Identitätspolitik“ die Rede, die entweder Solidarisierung oder Distanzierung hervorruft. Der Einzelne kapselt sich hingegen ab. Dabei erfordert die Entwicklung der Identität im Grunde die Bindung, das Ich braucht ein Du, um zu wachsen und zu reifen. Denn, wie Martin Buber in seinem kanonischen Text „Ich und Du“ (1923) schreibt: „Der Mensch empfängt, und er empfängt nicht einen ‚Inhalt‘, sondern eine Gegenwart, eine Gegenwart als Kraft. Diese Gegenwart und Kraft schließt dreierlei ein […] Zum einen die ganze Fülle der wirklichen Gegenseitigkeit, des Aufgenommenwerdens, des Verbundenseins.“
Erst in diesem geschützten Raum besteht die Möglichkeit, mich auszutesten und mein Pendant ein anderer als ich selbst sein zu lassen. Vedder spricht daher auch davon, dass „Freundschaft versittlich[en]“ und dass uns die Anerkennung des Fremden eine gesunde Gleichheit lehren könne. Wir müssen nicht mehr narzisstische Volten schlagen, uns nicht mehr von diesen oder jenen abgrenzen. Freundschaft lehrt zunächst ein Aushalten der Position des Gegenüber, und im Anschluss eine Auseinandersetzung damit. Diese Psychodynamik scheint in spätmodernen, digitalen Gesellschaften verloren zu gehen.
Müssen wir also das Konzept Freundschaft neu üben? Sie gründet zunächst im Zwischenmenschlichen und erweist sich im Weiteren zugleich als die Keimzelle von Zivilität und Humanität. In ihr gelingt Demokratie und eine Kultur der Achtung und Achtsamkeit im Kleinen. Anders als in Liebesbeziehungen ist in ihr angelegt, die Grenzen der oder des Nächsten nicht zu überschreiten. Sie zu pflegen bedeutet daher, Distanzen zu respektieren und gleichzeitig immer wieder Sphären des Gemeinsamen auszuloten.
Statt das Gegenüber partout vom eigenen Standpunkt zu überzeugen, lehrt die Freundschaft, die Meinung der oder des anderen wahrzunehmen, zu verstehen und möglicherweise die persönliche Position noch einmal zu hinterfragen. Sie definiert das Ideal einer gesunden Kommunikationskultur und stellt dadurch eine politische Größe dar.
Sicherlich mag es nicht falsch sein, wenn sich auch staatliches Bemühen auf ihre Förderung richtet. Die Grundidee eines Kulturpasses ist daher durchaus sinnvoll, weil er das Zusammenkommen, und zwar das physische jenseits von Bildschirmen fördert. Aber es muss uns auch ein Anliegen sein, Institutionen der Daseinsvorsorge zu bewahren. Genügend Arztpraxen und Kitas, Pflegestützpunkte und Mehrgenerationenprojekte braucht das Land, gerade auch in strukturschwachen Gebieten. Orte des Aufeinandertreffens, sollten das Gebot der Stunde sein.
Die ganze Kraftanstrengung allerdings von Behörden und Entscheidungsträgern zu erwarten, trüge jedoch der eigentlichen Aufgabe, Misstrauen abzubauen, kaum Rechnung. Vielmehr bedarf es ebenso eines tiefgreifenden Bewusstseinswandels. Freundschaftliche Beziehungen gründen auf persönlicher Ebene und sind beeinflusst von der sie umgebenden Diskurskultur, die heute toxischen Charakter annimmt. Diese erlaubt keine Fehler mehr, sie fordert vom Ottonormalbürger wie vom Politiker absolute Fehlerfreiheit ein und straft jede Abweichung von der Perfektion.
Wenn schon der Irrtum keine Toleranz erfährt, wie steht es dann erst um die bewusst eigenommene, andere Meinung unserer Nächsten? Kurzum: Es stünde uns gut zu Gesicht, die Praxis des Verzeihens wieder zu erlernen. Dass wir diese freundliche Fähigkeit vernachlässigt haben, zeigt etwa unser unguter Umgang mit zurückliegenden politischen Reformen.
Noch immer wird der SPD von vielen die Schröder’sche Agendapolitik vorgeworfen. Noch immer ziehen Menschen durch die Straßen, um ihren Hass und Zorn auf die sogenannte „Merkel-Diktatur“ kundzugeben. Die Gegenwart kann sich überhaupt nicht entfalten, weil sie überschüttet ist mit Altlasten, von einem verbitterten Blick zurück. Anders lautet aber das Prinzip der Vergebung. Sie „wirkt“, so der Ethnologe und Philosoph Emanuel Levinas in seinem Werk „Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität“ (2008), „auf die Vergangenheit, sie wiederholt in gewisser Weise das Ereignis, indem sie es reinigt.“ Dazu erscheint es zwingend, sich die Umstände für Entscheidungen klar zu machen und sie nicht einfach nur zu dekontextualisieren.
Neben dieser wünschenswerten Offenheit sollten wir uns eher auf die Güte besinnen. Indem die Haltung von Ursachen für Unzulänglichkeiten absieht, zeichnet sie sich durch ihre Bedingungslosigkeit aus. Wir geben Bettlern Geld, ohne sogleich paternalistisch nach den Gründen für ihre Misere zu fragen. Eben diese Einstellung hat – ganz rational gesehen – gegenüber dem Misstrauen einen wesentlichen Vorteil: Sie fesselt uns nicht an etwas, das sich tiefer und tiefer in uns einfräst.
Güte und Vergebung befreien uns, vom mitgeschleppten Ballast. Sobald wir ihn abwerfen, sind wir für die Zukunft empfänglich. Und besteht darin nicht die Schönheit aller großen Freundschaften? Gemeinsame Projekte des gegenseitigen Aufbaus und der Intensivierung zu planen? Ohne Vertrauen könnten wir morgens nicht aufstehen. und ohne Vertrauen hätten wir die Zukunft schon verloren, bevor wir überhaupt über sie nachdenken würden.