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Gefangen im Relativismus

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Von: Christian Thomas

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Auf der sogenannten John-Lennon-Mauer in Prag hat ein Unbekannter den russischen Präsidenten Wladimir Putin angesichts des Ukraine-Kriegs als Adolf Hitler dargestellt.
Auf der sogenannten John-Lennon-Mauer in Prag hat ein Unbekannter den russischen Präsidenten Wladimir Putin angesichts des Ukraine-Kriegs als Adolf Hitler dargestellt. © dpa

Ein Sozialdemokrat legt freimütig die Gedankenwelt dogmatischer SPDler offen und vermeidet es tunlichst, den Kriegsverbrecher Putin als solchen zu bezeichnen. Eine Entgegnung.

Die Sozialdemokratie ist im Laufe der letzten 50 Jahre mit Visionen eher sparsam umgegangen. Sicher, die Maxime „Mehr Demokratie wagen“ war zweifellos mehr als nur ein Marketingslogan. Der Leitgedanke war, neben dem Engagement außerparlamentarischer Milieus, mitverantwortlich für einen Mentalitätswandel. Ebenso wenig alleinverantwortlich, denn daran arbeitete eine sozialliberale Koalition, setzte die SPD unter dem Motto „Wandel durch Annäherung“ eine auf Verständigung basierende Ostpolitik durch. Doch das Jahrzehnt kühnerer Absichten, die 1970er Jahre, waren kaum zu Ende, als ein Sozialdemokrat die Vision diskreditierte und deren Vertreter pathologisierte. Ebenso sozialdemokratisch gedacht wie die emphatische Leitidee „Mehr Demokratie wagen“ war die üble Empfehlung des SPD-Kanzlers Helmut Schmidt: „Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen.“

Wenn jetzt der ehemalige Bundestagsabgeordnete Michael Müller, dafür bekannt, dass er ein linker Sozialdemokrat ist, sich auf Visionen beruft, ist das wohl traditionsgesättigt. Ist es aber auch tatsachengestützt? In einem von der FR moderierten Tagesthema-Gespräch (26./27.03.2022) mit der Mitarbeiterin der Stiftung Wissenschaft und Politik, Pia Furhop, die viel Geduld für Müllers Wirklichkeitswahrnehmung aufbringt, kontert dieser: „Wir brauchen gerade jetzt keine kleinen Schritte, sondern eine große Vision. Die kleinen Schritte ergeben sich dann daraus. Eine Vision, die deutlich macht: Wir wollen, dass Russland weiter zu Europa gehört. Wir wollen eine gesamteuropäische Perspektive auf Augenhöhe.“ Wandel durch Annäherung? Doch wer wandelt sich, und wer nähert sich an? Unter den gegenwärtig herrschenden, von Putin geschaffenen Bedingungen des real existierenden Krieges sollte Europa auf einem Wertewandel in Russland beharren.

Ukraine-Krieg: Putin aktualisiert die rassistische Heim-ins-Reich-Ideologie eines Hitler

Denn auch Wladimir Putin hat Visionen. Sie bewegen sich nicht in den Grenzen des 21. Februars 2022, sie verharren auch nicht auf dem heutigen Stand, fünf Wochen nach dem Überfall auf die Ukraine. Putins Visionen mögen sich nicht auf so sinistere Schriften berufen wie „Volk ohne Raum“; Putin spekuliert nicht auf „Lebensraum“. Aber sein Text, im vergangenen Sommer publiziert unter dem Titel „Über die historische Einheit von Russen und Ukrainern“, aktualisiert die rassistische Heim-ins-Reich-Ideologie eines Hitler, indem der russische Diktator der Ukraine abspricht, ein eigenständiges Volk zu sein, anstelle eines selbstständigen Staates ein überflüssiges Konstrukt zu sein.

Vielleicht ist man angesichts der eigenen Hilflosigkeit und Empörung ganz gut beraten, wenn man sich an einen Satz des Russland-Kenners und Historikers Timothy Snyder hält, der gegenüber der polnischen Zeitung „Gazeta Wyborcza“ meinte, „dass wir aus einem natürlichen Reflex heraus nach Präzedenzfällen suchen“ – um zu ergänzen: „Doch wenn man sich die Ursprünge dieses Krieges genauer ansieht, kann man die Parallelen durchaus erkennen.“ Hitler – also doch.

Ukraine-Krieg: Putins Überfall gründet in einem messianischen Wahn

Wegen Hitlers Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion und der zu ihr bis 1991 gehörenden Ukraine wissen deutsche Politik und Zivilgesellschaft um ihre historische Schuld und zeigen sich verantwortungsbewusst. Von einer derartigen Gewissenspflicht angesichts der Verbrechen des Stalinismus bei Putin keine Spur, im Gegenteil. Putins Überfall beruft sich ausdrücklich auf Lenin und Stalin und gründet nicht zuletzt in einem messianischen Wahn, wie er bereits im Russland des 19. Jahrhunderts vorgedacht wurde. Sein religiös und geschichtspolitisch aufgeladener Imperialismus straft die Demütigung durch den ehemaligen US-Präsidenten, Barack Obama, Lügen, wonach Russland bloß noch als eine „Regionalmacht“ anzusehen sei. Aus Hybris hat der Westen falsche Rückschlüsse gezogen, politische und auch militärstrategische – wodurch Putin sich provoziert sah.

Müllers dogmatische Herleitung des Ukraine-Krieges setzt für die Benennung von Ursachen einen politischen und moralischen Relativismus fort, der kennzeichnend ist für einen linken Populismus vor der Zeitenwende. Er rettet diesen Relativismus, der auf einer ideologiegetriebenen Lebenslüge basiert, hinüber in die Zukunft. Der ideologische Aufwand, mit der die nicht zu vernachlässigende Verantwortung beim Westen und der Nato ausgemacht wird, ist weit größer als die Verurteilung der Aggressionen und Lügen Putins seit über 15 Jahren. „Ich verteidige nicht die dunkle Seite Russlands“, erklärt der Sozialdemokrat, und es folgen dreieinhalb Zeilen über die „dunkle Seite“, gefolgt von einem „Aber“ – achtzehn Zeilen über die Schuld des Westens. Eine unbelehrbare Lagebeurteilung, symptomatisch für doktrinäre Teile der SPD.

Krude Logik im Ukraine-Krieg: Demnach trüge Hitlerdeutschland nicht die Schuld am Zweiten Weltkrieg

Nach einer solch kruden Logik trügen die Hauptschuld am Ausbruch des Zweiten Weltkriegs die Appeasement-Mächte und nicht etwa Hitlerdeutschland. Nicht von ungefähr erinnert man sich in diesen Tagen in Österreich und in Tschechien weitaus lebhafter und präziser als in Deutschland an eine der Eskalationsstrategien Hitlers, an das „Münchner Abkommen“.

Russland-Experten haben nicht erst in den letzten vier Wochen glaubhaft gemacht, wie sehr nicht nur der Kreml durch gezielte Propaganda die auf Katharina die Große zurückgehende Annäherung Russlands an Europa in Misskredit gebracht hat, namentlich ihren 1767 formulierten Satz: „Russland ist ein europäischer Staat“. Dieses Credo hat Putin ebenso aufgekündigt wie die Vision Michail Gorbatschows vom „gemeinsamen europäischen Haus“, auf die sich auch Boris Jelzin bezog, als er von einer „Rückkehr in die europäische Zivilisation“ sprach. Eine Vision, zumal eine „große Vision“, die diesen Wunsch nach Wandel durch Annäherung nicht auf dem Schirm hat, ist fahrlässig. Noch fahrlässiger die Ignoranz, die die von Putin aufgekündigte Annäherung an einen verachteten dekadenten Westen missachtet.

Ukraine-Krieg: Repräsentant der linken SPD vermeidet, Aggressor Putin solchen zu nennen

Sicher, Müller hat eine andere Agenda, es geht ihm um die überlebenswichtige Vision einer universalen Klimapolitik. Auf die einführenden Worte Pia Fuhrhops, die einräumt „einige meiner liebgewonnen Annahmen hinterfragen“ zu müssen, geht der Gesprächspartner mit keinem Wort ein. Statt solcher Kinkerlitzchen das großspurige Wort „Vision“, mit dem ein Repräsentant der linken SPD vermeidet, den Aggressor Putin als Aggressor zu bezeichnen, den Kriegsverbrecher als Kriegsverbrecher, dessen Krieg als Vernichtungskrieg. Angesichts Putins zuletzt mehrfach wiederholter Drohung mit der Atombombe, seinem Kalkül mit der Angst ebenso wie mit dem kalkulierten Zivilisationsbruch ist das Ausweichen auf eine Vision – was? Lächerlich, verantwortungslos, großspurig? Denn worauf sollte sie gründen? Auf Vertrauen gegenüber Putin? Auf Vertrauen gegenüber den von ihm repräsentierten Werten, dem Vertrauensbruch an erster Stelle?

Putins Opferliste beginnt nicht erst in der Ukraine. Seit rund zwei Jahrzehnten führt der ehemalige KGBler einen Feldzug gegen die Opposition im Innern. Die von ihm zugesagte Aufklärung bei der Ermordung von Gegnern hat er hintertrieben, kaltlächelnd, höhnend. Erst recht zynisch der Überfall auf die Ukraine, der in einer Reihe der Putinkriege in Tschetschenien, in Georgien oder auf der Krim steht. Nicht zu vergessen die in Putins Namen begangenen Verbrechen in Syrien.

Dennoch plädiert Müller dafür, Putin unter „Legitimitationszwang zu setzen“. Allen Ernstes will er einem Kriegsverbrecher, der einen Vernichtungskrieg gegen die ukrainische Zivilbevölkerung führt, eine Legitimation abnötigen. Ein legendärer Gedanke, so absurd wie pompös, geradezu putinesk. (Christian Thomas)

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