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Protest in Frankreich: Auf dem Weg in die Sechste Republik

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Von: Claus Leggewie

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Durchgesetzt mit dem Notstandsartikel: Proteste gegen die Rentenreform in Paris.
Durchgesetzt mit dem Notstandsartikel: Proteste gegen die Rentenreform in Paris. © IMAGO/SNA

Wohin treibt Emmanuel Macrons Frankreich? Religiöse und identitäre Rechte setzen das Land unter Druck. Der Präsident wählt die falschen Mittel, um dem zu begegnen.

Paris - Michel Houellebecq bleibt stets im Gespräch, nicht nur wegen seiner Mitwirkung in einem (seltsamen) Pornofilm. Ihn und zwei weitere bei uns weniger bekannte Medienprominente, den Reiseschriftsteller Sylvain Tesson und den Fernsehmoderator Yann Moix, klagt eine gerade erschienene Recherche („Réactions françaises“, Editions Seuil) des Journalisten François Krug an, langjährige „compagnons des routes“ (Weggefährten) der Ultrarechten (gewesen) zu sein. Tesson hat sich zum Beispiel eine seiner Reisen von einer ultra-nationalistischen Gruppe finanzieren und den Bericht darüber im rechtsextremen Sender Radio Courtoisie sowie bei „Eléments“, Hauszeitschrift der Nouvelle Droite, anpreisen lassen. Yann Moix war und ist als Provokateur omnipräsent auf allen Kanälen, und Sottisen von Houellebecq ist man in seinen Romanen wie in einer Legion misanthropischer Kommentare gewohnt.

War er aber nicht stets ein scharf beobachtender Soziologe der Kollaboration mit seherischen Fähigkeiten? Mit dem 2013 erschienenen Roman „Soumission“ („Die Unterwerfung“) legte er ein Pamphlet gegen die Einflussnahme des Islam vor, den er, in seiner Eigenschaft als bekennender Ungläubiger, die dümmste aller Religionen nannte. So konnte man das Buch lesen. Wer die Quellen und Anspielungen genauer betrachtete, wurde allerdings gewahr, dass der Religionskritiker nicht etwa das laizistische Gerüst der französischen Republik gegen jedweden religiösen Machtanspruch verteidigte, sondern einen katholischen Integrismus beschwor, der die Trennwand zwischen Staat und Kirche ebenso negiert wie der Islam und seit 1789 das gegenrevolutionäre Standardmotiv liefert.

Die Interpretation wird plausibel, wenn Krug Houellebecqs Umgang Revue passieren lässt, den er seit seinen ersten Schritten aufs Pariser Literaturparkett Anfang der 90er Jahre pflegte. Dokumentiert sind Dutzende Fehltritte ins rechtsradikale Milieu, die nicht dadurch aufgewogen werden, dass ihn bisweilen auch das andere Extrem begeisterte. Was sich durchzieht, ist ein Bekenntnis zur Monarchie, das manche als nette Kapriole bewerten. Eine solche Querfront gegen die liberale Gesellschaft und ihre individualistische Moral hat französische Schriftsteller von jeher bewegt; der „Non-Conformisme“ der 1930er Jahre bahnte vielen den Weg in die Kollaboration mit den Nazi-Besatzern. Bei Yann Moix gehörte der Retro-Flirt mit Antisemiten und Auschwitz-Leugnern zum Provokationsgeschäft, Tesson war ein enger Gefährte des Schriftstellers Jean Raspail, der mit dem Buch „Le Camp des Saints“ 1973 das Horrorbild einer Masseninvasion Europas durch farbige Einwanderung zeichnete, mit dem Longseller den Startschuss zur identitären Revolte gegen die farben- und glaubensblinde Republik gab und unter dem Titel „Das Heerlager der Heiligen“ auch deutsche Identitäre begeistert.

Houellebecq: Spiel mit dem Feuer

Ausdrückliche Unterstützung für die extreme Rechte war das alles nicht, eher ein frivoles Spiel mit dem Feuer. Man könnte das als Buhlen eitler Literaten um Aufmerksamkeit verbuchen, wären da nicht deutliche Bezüge und Beziehungen zur politischen Reaktion. Es gebe zwei Kategorien der reaktionären Rechten, befand Houellebecq: die Neuheiden der „Nouvelle Droite“ um Alain de Benoist, „dreckige, gemeine Arschlöcher, die den Satanisten ziemlich nahe stehen. Und es gibt die traditionalistischen Katholiken. Ich finde sie sympathisch. Aber sie sind es, die sich von mir distanzieren werden, da ich nicht an Gott glaube. Alles hängt davon ab, auch wenn ich gegen Abtreibung bin.“

In der Église Saint-Roch, unweit des Louvre, fand im Herbst 2022 eine Totenmesse für Jean Raspail statt, bei welcher der katholische Ultra Abbé Thierry Laurent einen fulminanten Nekrolog auf den Verstorbenen hielt. Über Tote nur Gutes, aber dass der spätberufene Laurent jüngst auch einen Gedenkgottesdienst zum 100. Todestag von Charles Maurras hielt, war der katholischen Hierarchie zu viel. Maurras (1868-1952) war anti-deutsch, anti-jüdisch, anti-Dreyfus und Leitfigur der Action française, einer ultranationalistischen, fremdenfeindlichen und antisemitischen Bewegung und Urzelle des europäischen Faschismus. Obwohl er sich als Atheist bezeichnete, unterstützte er die katholische Gegenrevolution. Und trotz seiner Aversion gegen alles Deutsche sympathisierte er mit Hitlers „nationaler Revolution“ und unterstützte deren französische Anverwandlung in Gestalt des Vichy-Regimes des Marschalls Pétain.

Nach seiner Verurteilung als Kollaborateur 1945 und seinem Tod 1992 blieb er der Säulenheilige der extremen Rechten in Frankreich; ein Büro der Action Française existiert heute noch – und genau dort ließ sich Houellebecq unter einem Porträt Maurras’ ablichten. Der katholische Integrismus hat sich heute mit dem Gerücht des „Grand Remplacement“ vermengt, wie die extreme Rechte den vermeintlichen Austausch weißer französischer durch migrantische Bevölkerung bezeichnet.

In Frankreich empören sich viele über Präsident Macron

Viele französische Freunde und Freundinnen empören sich über Emmanuel Macron. Er wollte die Retrofantasien der Alten Linken und Neuen Rechten auf den Müllhaufen der Geschichte verbannen, doch hat er seine parlamentarische Mehrheit und fast allen Kredit unterdessen aufgebraucht. Und obwohl noch vier Jahre (politisch eine Ewigkeit!) bis zur nächsten Präsidentschaftswahl ins Land gehen können, positionieren sich Rechtsradikale und Linksextreme und eine Menge ehedem Getreuer bereits als potenzielle Nachfolger und Nachfolgerinnen – dass es Marine Le Pen im dritten Anlauf schaffen wird, gilt manchen Kassandras als ausgemacht. Macron war mit überfälligen Sozialreformen und erfrischenden Europa-Visionen angetreten. Letztere zerschellten großteils an „La Merkel“, erstere am Unwillen der immer noch „blockierten Gesellschaft“, wie schon 1972 der Soziologe Michel Crozier die Mühlsteine des sturen Etatismus und aussichtslosen Aktivismus beschrieben hat, zwischen denen in Frankreich noch jeder große Wurf zermahlen wurde. Dass der demografische Wandel eine Rentenreform braucht, ist das jährlich grüßende Murmeltier der französischen Politik, an dem rechte wie linke Präsidenten gescheitert sind.

Macron hat sicherlich jede Menge Fehler gemacht. Da ist nicht nur seine jupiterhafte Arroganz, auch nicht sein aus dem Bankgewerbe mitgebrachter Hang zum technokratischen Kalkül. Er hat ein strukturelles Problem vernachlässigt und eine falsche strategische Wahl getroffen. Strukturell klebt er an der „präsidentiellen Monarchie“ der Fünften Republik, deren fast logische Konsequenz der Absturz eines populären Präsidenten in den Notstandsartikel 49,3 ist, wenn die parlamentarische Mehrheit bröckelt und die Straße sich meldet.

Macron hatte nach seiner Wiederwahl Dialog und parlamentarische Allianzbildung versprochen, aber nicht geliefert. Eine Republik 5b, in der man vernünftig verhandeln und Kompromisse schließen kann, lässt auf sich warten. Unterdessen brennt das Rathaus von Bordeaux, stinkt aufgetürmter Müll in den Straßen, geht die CRS-Garde mit ungeheurer Brutalität gegen junge Demonstrierende vor und schlägt der schwarze Block unbarmherzig zu. Gewalt, stimmen die meisten Kommentare zu, hat noch immer geholfen. Macrons Versäumnis trieb eine destruktive Querfront hervor, die autoritär auf den „Monarchen“ im Elysée fixiert ist.

Rentenreform in Frankreich: Macrons strategischer Fehler

Der strategische Fehler war, dass Macron mit der Rentenreform angefangen hat, bevor er die wichtigeren Themen anpackt: die Anerkennung und Aufwertung prekarisierter, in der Pandemie zusätzlicher strapazierter Arbeitsverhältnisse. Die Wut über die Verlängerung der Lebensarbeitszeit ist im Kern nämlich die Frustration über sinnentleerte, ausbeuterische und verächtliche Arbeitsverhältnisse, bis zu dem Zeitpunkt, an dem man 62 oder 64 geworden ist. Das antizipieren auch die Jüngeren, die einen beträchtlichen Teil der Protestbewegung ausmachen, weil sie überqualifiziert und unterbewertet in eine öde Arbeitsgesellschaft hineingeworfen werden. Erst im Nachhinein hat Macron in einem Fernsehauftritt für diese Projektion Verständnis gezeigt und auf bereits eingeleitete Reformschritte hingewiesen. Und auf das Problem, das Frankreich und den Rest der Welt eigentlich mehr beschäftigen sollte: Krieg und Klimawandel. In diesem Sommer droht wieder eine massive Trockenheit.

Ungerührt bejammert der „non-konforme“ Philosoph Michel Onfray im „Figaro Magazine“, einst Bastion der Neuen Rechten, den Nihilismus, den die literarische Reaktion selbst herbeigeschrieben hat. Als erklärter Gottloser zieht er den „Katholiken, der die Kunst, Franzose zu sein, verteidigt, einem Atheisten vor, der den Islamogauchismus anbetet“; als Linker, der er immer noch zu sein beansprucht, jeden Rechten, der dieselbe Kunst, „Franzose zu sein“, beherrscht, einem Linken, der Frankreich hasst, samt seiner Geschichte und seinem „ganzen Volk, nicht seinen Bruchstücken der famosen Minderheiten, die als das wahre Ganze gefeiert werden“.

Das nennt er Volksfronten, und es ist zu befürchten, dass diese Versöhnung der Extreme sich durchsetzen wird. Marine Le Pen setzt ganz entspannt den Prozess der „Entteufelung“ ihrer Partei zur bourgeoisen Rechten fort; reaktionäres Sprachrohr aber ist der Publizist und Präsidentschaftskandidat von 2022, Éric Zemmour, der die religiöse Identität seiner Nation hervorhebt – auch er, ein gelegentlicher Besucher der Synagoge und wegen antisemitischer Hetze verurteilt, ein Beinah-Christ. „Ich habe mein letztes Wort noch nicht gesprochen“, heißt sein jüngstes Buch.

Stark geworden ist diese reaktionäre Front unter der Ägide des Vivendi-Chefs und Medienmagnaten Vincent Bolloré, dem mittlerweile große Anteile von Printmedien, Filmproduktionsgesellschaften und TV-Sendern gehören, weshalb schon von einer „Bollorisation“ der französischen Medienlandschaft die Rede ist. Dazu gehört C-News, wo der Moderator Pascal Praud, auch ein Rechter ohne Komplexe, in seiner Sendung „l’Heure des pros“ den Aufstand des bodenständigen Frankreich gegen die Fremden, die Vorstädte und die Immigration predigt. Der Milliardär Bolloré soll ein Bild des Heiligen Antonius von Padua unterm Hemd tragen – endlich ein Rechtgläubiger.

Mit dieser Medienmacht im Rücken plus zwei Bewerbungen aus der extremen Rechten, die 2022 mehr Stimmen als Macron ergatterten, sowie der toxischen Wirkung einer nebulösen Rhetorik des Ressentiments (für die unter vielen anderen der Literaturnobelpreisanwärter Houellebecq steht), ist die radikale Rechte sehr viel weiter gelangt als je zuvor seit 1945 und Vichy. Dieser Weg in die Sechste Republik würde die Europäische Union zerstören.

Claus Leggewie ist Ludwig-Börne- Professor an der Universität Gießen und Leiter des dortigen „Panel on Planetary Thinking“ .

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