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Fragen an Herrn Maier

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Von: Matthias Arning

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Herr Maier in den USA. Foto: Theresia Biehl/dnb
Herr Maier in den USA. Foto: Theresia Biehl/dnb © Theresia Biehl/dnb

Mit einem Zeitzeugen des Holocaust sucht das Exilarchiv nach einem Modell künftiger Erinnerung.

Kippenheim. Herr Maier sagt den Namen dieses Orts geradezu liebevoll. Und man ahnt: Gute Zeiten, glückliche Kindheit, Kippenheim, ein kleiner Ort im Schwarzwald, in einer jüdischen Familie wird Kurt S. Maier dort am 4. Mai 1930 geboren. In alte Bücher der Familie „stecke ich die Nase rein“, erzählt er neun Jahrzehnte später, „dann kann ich Kippenheim noch riechen“.

Kippenheim steht am Anfang der Lebensgeschichte von Herrn Maier, die er jetzt in einem interaktiven Zeitzeugnis, einem 3D-Interview, erzählt, damit Menschen ihm später werden Fragen stellen können. Über die Deportation 1940 durch die Nazis in das französische Lager Gurs, über die anschließende Flucht der Familie über Casablanca nach Amerika, zu seinem Leben in der anderen Welt.

Fühlt er sich als Deutscher?

Heute ist Herr Maier 92 Jahre alt. Er trägt ein frisch gebügeltes, lilafarbenes Hemd, sitzt in einem hohen Sessel und antwortet vor laufenden Kameras auf die Frage, ob er sich heute noch trotz des Terrors und der Schikanen der Nazis als Deutscher fühle: Seit 1947 sei er Amerikaner, besitze seitdem auch diese Staatsangehörigkeit, und, setzt er hinzu, „auch wenn es schwer zu verstehen ist, betrachte ich Deutschland als meine Heimat.“

Wann immer man Kurt S. Maier in diesen Tagen oder auch in den kommenden Monaten trifft, sitzt er in diesem Sessel, trägt das lilafarbene, frisch gebügelte Hemd und sagt, in den vergangenen 81 Jahre habe er oft an Franz Kafkas Erzählung „In der Strafkolonie“ denken müssen. Seit 81 Jahren, seit der Verschleppung nach Gurs: Er sollte froh sein, sagen Bekannte, du lebst heute in Amerika und hast mit deinen Eltern und deinem älteren Bruder den NS-Terror überlebt. Und doch, setzt Herr Maier an diesem Abend zu Gast in der Evangelischen Akademie in Frankfurt hinzu, „vermisse ich deutsches Essen und deutsche Kultur“.

Mit seinem interaktiven, digitalen Doppelgänger will das Deutsche Exilarchiv, Teil der Deutschen Nationalbibliothek am Standort Frankfurt, die Erinnerung an den Judenmord bewahren. Für die Zeit, wenn Herr Maier und andere Zeitgenossen, die unter den Nationalsozialisten gelitten haben, nicht mehr leben. Aus diesem Grund arbeitet das Exilarchiv gegenwärtig mit der Shoah Foundation daran, Zeitzeugen und Zeitzeuginnen zu befragen, berichtet Sylvia Asmus, „darin liegt eine große Chance“, die es jetzt zu nutzen gelte.

900 Fragen in fünf Tagen

Sylvia Asmus leitet das Exilarchiv und hat sich mit viel Energie in dieses von den Kulturministern in Berlin und Wiesbaden finanziell geförderte Projekt gekniet. Dem Zeitzeugen Maier stellte sie im vergangenen Jahr in Washington Fragen, die man bei der Shoah Foundation einem Katalog gleich gebündelt hat aus Fragen-Sammlungen an Überlebende bei früheren Gesprächen: 900 Fragen, die Schülerinnen und Schüler immer wieder stellten. 900 Fragen in fünf Tagen – „unsere Gespräche müssen für Herrn Maier sehr anstrengend gewesen sein“, sagt Asmus. Das Interview habe sie auf Deutsch geführt – eines der ersten Gespräche mit einem Zeitzeugen in dieser Sprache, ergänzt Karen Jungblut von der Shoah Foundation. Mittlerweile aber wolle die Foundation diesen Versuch wagen, um künftige Generationen zu erreichen. Ein solches Interview, betont sie, sei etwas ganz anderes als das schriftliche Dokument „Kurt Salomon Maier, Unerwünscht – Kinderheits- und Jugenderinnerungen eines jüdischen Kippenheimers“, das die Evangelische Landeskirche Baden 2011 herausgeben hatte.

„Man muss die Wirkung dieser Gespräche erforschen“, darauf besteht der Pädagoge Micha Brumlik. Für ihn gehe es auch darum, dass mit der Präsenz von Zeitzeugen wie Kurt S. Maier auf dem Bildschirm und mit seinen Antworten „keine falsche Gegenwärtigkeit“ geschaffen werde. „Diese Form der Botschaft sollte am Ende nicht überdecken“, um was es als Fazit bei diesen Gesprächen eigentlich gehe.

Jetzt laufen die Probephasen. Im Exilarchiv spricht man vom „Beta-Test“ und ermuntert Schulklassen und andere Interessierte, das Gespräch mit Kurt S. Maier zu suchen. Noch sei „das interaktive Zeitzeugnis“ nicht komplett, gehe es darum, Antworten zu konkretisieren. Im nächsten Frühjahr soll alles fertig und das Gespräch eingebettet sein in die Dauerausstellung „Exil. Erfahrung und Zeugnis“.

Zu den Zeugnissen gehört bestimmt auch eine Schilderung des Zeitzeugen Maier aus dem Lager Gurs. Plötzlich sei nämlich eine tote Frau durch das Lager getragen worden. Ihre Haare hätten den Pullover des jungen Kurt gestreift. Aus diesem Grund habe er seine Mutter gebeten, den Pulli doch zu waschen, sagt er. In dem Lager habe es aber kein heißes Wasser und keine Seife gegeben. Die Berührung mit den Haaren der toten Frau – „das hat mich verfolgt“.

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