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Flucht vor den Nazis: Als das Denken auszog

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Von: Michael Hesse

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Auch sie ging ins Exil: Die Bibliothek Warburg, hier im Jahr 1927.
Auch sie ging ins Exil: Die Bibliothek Warburg, hier im Jahr 1927. © Imago

Die Universität Jena untersucht die Emigration deutschsprachiger Philosophen und Philosophinnen während der NS-Zeit.

Ernst Cassirer ging im März 1933 ins Exil. Walter Benjamin nahm sich 1940 auf der Flucht das Leben. Theodor W. Adorno verließ 1938 endgültig das Deutsche Reich und siedelte in die USA über. Dort wartete bereits Max Horkheimer auf ihn. Hannah Arendt kam 1941 in New York an. Auch Rudolf Carnap verließ 1935 Deutschland und lehrte auf Vermittlung des Logikers und analytischen Philosophen Willard Orman Quine an der University of Chicago.

Die Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland und ihr radikaler Antisemitismus hatte unter Philosophen und Philosophinnen einen massiven Exodus zur Folge. Die großen Namen des Wiener Kreises oder der Frankfurter Schule sind bekannt, die fortan ihr Glück in fremden Ländern suchen mussten. Doch wie viele Hochschulprofessoren – in der Philosophie lehrten fast ausschließlich Männer – das Land tatsächlich verließen, welche nicht-akademisch tätigen Philosophen und Philosophinnen emigrierten, ist nach wie vor unbekannt.

Die Universität Jena plant nun ein Datenbankprojekt, mit dem die Emigration aus dem Bereich der Philosophie vollständig erfasst werden soll: Die „Digitale Datenbank Exilphilosophie“ (DDEP), die von den Philosophen Max Beck, Nicholas Coomann und Roman Yos umgesetzt wird. Interessierte sollen auf einer Karte entdecken können, wohin es die Philosophen und Philosophinnen zog, ob sie wiederkehrten und wenn ja, wohin. Noch steckt das Vorhaben in den Kinderschuhen, es werde einige Jahre dauern, bis man alle Daten gesammelt habe, sagte einer der Projektleiter, Max Beck, im Gespräch mit der Frankfurter Rundschau.

Man kenne zwar die Bilder von Thomas Mann unter Palmen, Bertolt Brecht unter Palmen, doch in der Exilforschung sei bislang der Philosophie wenig Aufmerksamkeit gewidmet worden. „Das vollständige Ausmaß der Emigration im Bereich der Philosophie ist bis heute unbekannt“, sagt Beck. Adorno oder den Wiener Kreis kenne zwar jeder. „Aber bei weniger bekannten Philosophinnen und Philosophen, da sieht es anders aus, hier fehlen uns bislang Daten.“ Auch unbekanntere Individualschicksale sollen in dem Datenbankprojekt unter die Lupe genommen werden, es gehe also um die breitere Wirkung der Auswanderung. „Man kann die Philosophiegeschichte des 20. Jahrhunderts ohne Kenntnis der Rolle des Exils nicht verstehen“, erklärt Beck.

Aktuell geht das Projektteam von 300 bis 500 exilierten Philosophinnen und Philosophen aus. Die Zahl könne noch anwachsen, „bei Archivrecherchen trifft man immer wieder auf neue Namen“, erzählt Beck.

Zwar gebe es vereinzelte Artikel und Handbucheinträge über die Philosophie im Exil. „Diese Arbeiten sind jedoch unvollständig und erfüllen hinsichtlich der Quellen teils nicht unsere wissenschaftlichen Standards“, so Beck. Das Ziel des Datenbankprojekts sei es auch festzustellen, wieviel Prozent zurückkehrten und wie die Hochschullandschaft nach dem Krieg ausgesehen hat.

Fest steht bislang nur, dass der Nationalsozialismus in Deutschland für einen historisch beispiellosen Exodus des Geistes sorgte. Die Folgen davon sind bis heute zu spüren. So war eine Gruppe von Philosophen besonders betroffen, die in den 1920er Jahren im deutschsprachigen Raum für Aufmerksamkeit gesorgt hatten. Die Rede ist vom sogenannten Wiener Kreis und der Berliner Gruppe. Zu ihren Mitgliedern zählten Rudolf Carnap, Otto Neurath, Moritz Schlick, Alfred Tarski, Carl Gustav Hempel oder Hans Reichenbach. Während Schlick den Wiener Kreis begründete, rief Reichenbach die Berliner Gruppe ins Leben. Ihr Programm war eine „Wissenschaftliche Weltauffassung“, ein Begriff, der selbst umstritten war, da das Konzept an die „Weltanschauung“ erinnerte und damit unwissenschaftlich erschien. Was sie aber einte, war eine tiefe Skepsis gegenüber der philosophischen Spekulation. Das Paradebeispiel hierfür lieferte aus ihrer Sicht Martin Heidegger mit seiner Existenzialontologie. Dessen kuriose Wortschöpfungen hielt Carnap für sinnfreien Blödsinn.

Metaphysischen Anwandlungen wie denen von Heidegger wurde das Konzept eines logischen Aufbaus der Welt, so der Titel einer von Carnaps Schriften, entgegengehalten. Man wollte möglichst eine enge Verbindung zwischen Empirie und Logik herstellen. Nur sinnvolle Aussagen, die überprüfbar waren, sollten zugelassen werden. Logischer Empirismus wurde dies genannt. Den Anspruch der traditionellen Philosophie nach höchstmöglicher Gewissheit wollte man nicht aufgeben. Sogenannte Basissätze wie: „jetzt hier blau“, sollten als Grundlage aller weiteren Aussagen dienen.

Wie auch immer das Programm bewertet wurde - viele sahen den Versuch, auf diese Weise eine wissenschaftliche Philosophie zu schaffen, als gescheitert an -, so wirkungsmächtig wurde dieser Zweig der deutschsprachigen Philosophie. Von Berlin und Wien aus eroberten die Denker die Lehrstühle der Vereinigten Staaten. Dort etablierte sich diese philosophische Fragestellung unter dem Namen einer analytischen Philosophie.

Kurioserweise wurde diese Denkrichtung in der deutschen Nachkriegsphilosophie als angelsächsische Philosophie der kontinentaleuropäischen Philosophie gegenübergestellt. Es ist wenig übertrieben zu sagen, dass zwischen den beiden Lagern in früheren Jahrzehnten eine offene Feindschaft herrschte. Sogar in der gegenwärtigen Debatte wird, vorrangig von populärwissenschaftlichen Philosophen und Philosophinnen, immer noch die Keule in Richtung der analytischen Philosophie geschwungen. Man übersieht beständig die historischen Wurzeln dieser Denkungsart, die in Deutschland und Österreich liegt. Und man kann sich durchaus die kontrafaktische Frage stellen, wie die Philosophie sich hierzulande weiterentwickelt hätte, wenn die Nazis 1933 eben nicht die Macht erhalten hätten. Max Beck weist darauf hin, dass einige Philosophie-Richtungen erst im Exil ihre Prägnanz erhalten haben. So wäre ja die Frankfurter Schule erst in den USA mit Max Horkheimers Aufsatz „Traditionelle und kritische Theorie“ als Kritische Theorie aus der Taufe gehoben worden.

Ins Exil gingen aber nicht nur die Menschen, sogar eine ganze Bibliothek wurde außer Landes geschafft, um sie vor den barbarischen Nazis in Sicherheit zu bringen. Die Rede ist von der Warburg-Bibliothek, deren Bestände bereits 1933 nach London verschifft wurden. Deren Bücher nutzte besonders gerne ein gewisser Ernst Cassirer.

Sein dreibändiges Werk „Philosophie der symbolischen Formen“ gilt als Klassiker der Philosophie-Geschichte. Cassirer war einer der dezidierten Vertreter des Neukantianismus, also einer Richtung, welche die Theorie Immanuel Kants mit den Anforderungen des naturwissenschaftlichen Fortschritts verbinden wollte. Cassirer schrieb gekonnt über die Relativitätstheorie Einsteins, glaubte aber felsenfest an die zivilisierende Kraft der symbolischen Formen. Zudem war er ein exzellenter Kenner der Kantischen Philosophie, er verfasste nicht nur mehrere Aufsätze über den Denker aus Königsberg, sondern auch eine Maßstäbe setzende Biographie Kants.

Auch er musste das Land verlassen, da er wegen seiner jüdischen Herkunft zur Zielscheibe der Nazis geworden war. Legendär war das Aufeinandertreffen von Cassirer mit Martin Heidegger im Jahr 1929 in Davos. Heidegger hatte in den 1930er Jahren eine besondere Nähe zu den Nationalsozialisten, was ihm nach dem Krieg ein Lehrverbot einbrachte. An dem Ort, über den Thomas Mann seinen „Zauberberg“-Roman schrieb, traf damit ein Vertreter der klassischen deutschen Philosophie auf einen, der mit dem alten Denken Kehraus machen wollte. Dass dieses Rededuell in die Geschichte eingehen sollte, zeugt vom hohen Niveau der deutschsprachigen Vorkriegsphilosophie.

Schon Jürgen Habermas beklagte das Niveau seiner Philosophie-Lehrer in den biederen 1950er Jahren in der Bundesrepublik. Und der kürzlich verstorbene Ernst Tugendhat monierte einmal, dass ein logischer Fehler, der ihm bei einem Vortrag unterlaufen sei, vor dem deutschen gelehrten Publikum keinerlei Reaktion hervorgerufen hätte. In den USA wäre ihm das nicht passiert, sagte Tugendhat, dort hätte man ihn sogleich auf den logischen Schnitzer aufmerksam gemacht. Für ihn stand fest, dass die deutsche Nachkriegsphilosophie schwach war im Vergleich zu vormaligen Zeiten.

Wie sehr sich die Nazi-Zeit auf die Vertreter der Weltweisheitslehren ausgewirkt hat, wird die Uni Jena in einigen Jahren exakt darlegen.

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