Exxon Mobile und die Gutachten: Im Namen des Profits

Der Ölkonzern Exxon Mobile wusste durch wissenschaftliche Gutachten bereits in den 1970er Jahren, wie die Klimakrise verläuft. Sollte ihm nun der Prozess gemacht werden?
Fast alles, was wir über den Klimawandel wissen, war bereits im Jahr 1979 bekannt. Damals wandte man sich von der Frage der Erklärung ab und jener der Handlungen zu. Was ist zu tun, um einen Klimawandel noch aufzuhalten? Schließlich waren die wissenschaftlichen Fakten leicht vermittelbar. Je mehr Kohlendioxid in die Luft gerät, desto wärmer wird der Planet. Den Begriff des Treibhausgases zählte man bereits vor der Mitte des 20. Jahrhunderts zum festen wissenschaftlichen Vokabular. Dennoch gibt es bis heute kein durchsetzungsfähiges internationales Abkommen, bei dem man von einer Wende hin zu einer klimafreundlichen Lebensweise sprechen könnte. Gerade deshalb gibt es ja die Aktionen von Extinction Rebellion oder der Last Generation.
In der Debatte um die Klimakatastrophe stellt sich schnell die Frage nach der Verantwortung für die Erderwärmung. Eine grobe Differenzierung tritt hierbei zwischen dem verantwortlichen industriellen Norden des Planeten und dem leidtragenden Süden ein. Die Gesellschaften der wohlhabenden Länder werden insgesamt in die Verantwortung genommen, durch ihr Verhalten eine Wende in der CO2-Emission herbeizuführen. Solche Argumentationen beruhen auf Alltagsverständnis oder politischen Sichtweisen. Dabei weiß man aus der philosophischen Ethik schon lange, dass nicht alle gleichermaßen verantwortlich sind und auch nicht dieselbe Leistungsfähigkeit aufweisen, wenn es darum geht, das Leben zu verändern, um den künftigen Generationen ein angemessenes Leben auf dem Planeten zu ermöglichen.
Es geht konkret um Leistungsfähigkeit, Eignung, Erreichbarkeit und informationelle Nähe, die Menschen oder Institutionen aufweisen. Derjenige, der über die größten Ressourcen zur Hilfeleistung verfügt, ist vor anderen zu dieser verpflichtet, erklärt der Düsseldorfer Philosoph und Klimaethiker Dieter Birnbacher. Kommt das Verursacherprinzip hinzu, sei es klar, dass der Schädiger mit moralischen Verpflichtungen belastet werden müsse. Das gehe aus der moralischen Ur-Intuition quasi zwanglos hervor.
Damit ist klar, dass nicht bedürftige Gesellschaftsmitglieder in gleicher Weise herangezogen werden dürfen wie die gesellschaftliche Upper Class. Verursacherprinzip und Leistungsfähigkeitsprinzip weisen zusammengenommen gar nicht so sehr auf das Individuum mit seinen Konsumansprüchen, sondern auf die Politik und Unternehmen, die eine viel größere distributive Kraft mit ihren Entscheidungen haben als Normalbürger:innen. Birnbacher hält nicht viel davon, eine historische Debatte über die Verursachung etwa dafür heranzuziehen, dass Länder wie China als größter Emittent von Treibhausgasen geschont werden sollten.
Dennoch gibt es einen Fall, in dem aufgrund der ethischen Voraussetzungen die Frage aufgeworfen werden muss, inwieweit Konzerne, die mit krimineller Energie massiv zum Klimawandel beigetragen haben, zur Rechenschaft gezogen werden sollten. Die Rede ist von der Exxon Mobil Corporation: dem US-amerikanischen Mineralölkonzern ExxonMobil. Er dürfte als Prototyp des Klimaschurken in die Geschichtsbücher eingehen. Bereits im Jahr 2019 wurde öffentlich, dass der Konzern schon in den 1970er Jahren relativ genau wissen konnte, dass und in welchem Umfang er mitverantwortlich ist für den zu erwartenden Klimaverlauf.
Der Konzern hatte Wissenschaftler damit beauftragt herauszufinden, ob und wie man für diese Unternehmenspolitik zur Verantwortung gezogen werden könnte. Die Ergebnisse wurden in einem Beitrag im Magazin „Science“ kürzlich noch einmal wissenschaftlich aufgearbeitet. Demnach gab es zwischen 1979 und 1985 zehn interne Momoranden und eine durch das Peer-Review-Verfahren geprüfte wissenschaftliche Publikation, die eine erschreckend exakte Vorhersage der Entwicklungen machten. Zielsicher wurde das Jahr 2000, plus minus fünf Jahre, als der Zeitpunkt genannt, an dem erstmals die globale Erwärmung erkennbar sein würde. Die natürlichen Klimaschwankungen waren in das Modell eingerechnet worden.
Die Voraussage sollte exakt so eintreffen, der Konzern aber beharrte auf seiner Behauptung und stellte sie immer wieder ins Schaufenster, dass die These eines menschengemachten Klimawandels wissenschaftlich nicht beweisbar sei. Das Erschreckende an den für Exxon Mobile erstellten wissenschaftlichen Arbeiten war ihre Präzision, die etwa für das Jahr 2015 fast exakt den globalen Temperaturanstieg vorhersagte, der dann auch gemessen wurde.
Stellt sich die Frage, wie solche Konzerne und ihre Lenker zur Verantwortung gezogen werden müssen. Die „Süddeutsche Zeitung“ brachte Sondertribunale ins Gespräch, wie sie etwa nach dem Zweiten Weltkrieg oder nach dem Jugoslawien-Krieg eingerichtet worden waren, um die schlimmsten Übeltäter ihrer Strafe zuzuführen. Möglicherweise sind die von den Mineralölkonzernen verursachten Folgen deutlich schlimmer und weitreichender als die beiden Weltkriege zusammen. Insofern könnten das Bosnien-Tribunal oder das Nürnberger-Prozess-Verfahren eine Blaupause für die Aufarbeitung der Schuldfragen vorgeben – so die SZ –, die sich im Fall von Konzernen, Wissenschaftlern und Ingenieuren in besonderer Weise stellt.
Auch wenn viele Menschen hoffen, dass der Klimawandel in seiner drastischen Form doch noch aufgehalten werden kann, ist die Realität möglicherweise deutlich unerbittlicher. Der US-Schriftsteller Jonathan Franzen hatte vor einigen Jahren behauptet: „Wir sollten uns nichts vormachen, den Klimawandel werden wir nicht mehr aufhalten können.“ Franzen berichtete, er habe einmal nachgerechnet, was eine durchschnittliche amerikanische Familie für ihr Leben benötige und wie sie sich einschränken müsse, damit es einen Einfluss auf das Klima hat. Im Grunde genommen seien die Einschränkungen so hoch, dass an ein einigermaßen normales Leben nicht mehr zu denken sei. Man sollte sich besser gleich von der Wachstumsmaxime verabschieden. Aber dies hält Franzen für so unwahrscheinlich, dass er der Welt den Untergang prophezeit.
Mit diesem Gedanken steht er nicht allein. Die Chance eines wirklichen Neuanfangs ist auch unter einigen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern als relativ klein angesehen worden. Rupert Read und Samuel Alexander sind zwei davon, beide äußerst interessante Intellektuelle, die über diese Frage in Lagerfeuerromantik eine sehr tiefsinnige Diskussion geführt haben. Alexander lehrt Umweltökonomie an der University of Melbourne, ist Co-Direktor des Simplicity Institute und Forscher am Melbourne Sustainable Society Institute. Er zählt zu den weltweit bedeutendsten Nachhaltigkeitsforschern und hat eine Vielzahl an Büchern und Aufsätzen zur Postwachstumsökonomie, Konsumkritik und zu Perspektiven einer nachhaltigeren Gesellschaft und Demokratie publiziert.
Read ist Philosophie-Dozent an der University of East Anglia. Read hat Bücher zu Wittgenstein, Thomas Kuhn, zur Filmphilosophie, zur Angewandten Philosophie sowie zum Vorsorgeprinzip in der Umwelt- und Gesundheitspolitik veröffentlicht. Er ist zudem bei den britischen Grünen aktiv – er war mehrfach regionaler Parlamentsabgeordneter und Kandidat für das Europaparlament – und auch bei Extinction Rebellion.
Die beiden Forscher saßen zusammen, wie man eben zusammensitzt, wenn man über Gott und die Welt philosophiert. Das Gespräch wurde in dem im Meiner-Verlag erschienenen Band „Diese Zivilisation ist am Ende“ publiziert. Es geht um die Frage, ob es einen Bewusstseinswandel bei den Menschen geben kann, der mit den Herausforderungen Schritt hält, die der sich ständig verschärfende Klimawandel an das Leben auf dem Planeten stellt. Sie führen ihr Gespräch, so haben sie es verabredet, in „rückhaltloser Aufrichtigkeit“, um ein möglichst wahhaftiges Ergebnis erzielen zu können.
Und so plaudern sie los. Alexander stellt die Fragen, so wie einst der griechische Philosoph Sokrates seine Gesprächspartner „gemolken“ hat, und Read antwortet schonungslos. Man könne sein Bewusstsein gar nicht anders bilden in dieser Frage, so Read, als in den Abgrund zu schauen mit einer Skizzierung dessen, was im schlimmsten Fall kommen könnte. Für Read gibt es drei denkbare Szenarien für das, was auf die Menschheit zukommen könnte.
Das Endspiel sieht wie folgt aus: „Unsere Zivilisation bricht zusammen, gänzlich und endgültig“, so Read. „Die Menschengattung verschwindet von der Erde.“ Oder, zweite Möglichkeit, „es gelingt uns, den Keim für eine Nachfolge-Zivilisation zu legen, die aus der Asche der kollabierenden alten erstehen könnte.“ Und die dritte Variante: „Der Zusammenbruch wird vermieden, weil unsere Zivilisation das Ruder doch noch radikal und rasch herumreißt.“ Read erklärt, dass es das dritte Szenario sei, auf das die alte Umweltbewegung, wie er sie nennt, abzielen würde.
Es sei mittlerweile das unwahrscheinlichste Szenario. Denn selbst wenn Fall drei eintreten sollte, das Wunder der sofortigen Umkehr, wäre dies so grundstürzend, dass die alte Zivilisation so, wie wir sie heute kennen, nicht fortexistieren würde. „Wenn sie auch nicht zur Gänze scheitert, so wird sie doch an ihr Ende gelangen“, so Read. Er mutmaßt, dass das erste Szenario genauso wahrscheinlich sei wie das zweite. Und er sieht für beide auch einen möglichen Katastrophenbeschleuniger: Pandemien. Das Buch war bereits vor dem Ausbruch der Coronavirus-Epidemie fertig. Umso erschütternder sind die Gedanken der Autoren.
„Die wirkliche Trennlinie in der Politik verläuft jetzt zwischen denen, die bereit sind, das Ende des Wachstumswahns zu akzeptieren und sich stattdessen eine Vorsorge-Ethik als neuen Commonsense zu eigen zu machen, und denen, die den Leichtsinn bevorzugen“, erklärt Read. „Zu glauben, dass alles, was entfernt dem Status quo ähnelt, so weiterlaufen kann, ist leichtsinnig.“ Er sagt: Wenn wir einmal akzeptiert haben, dass diese Zivilisation am Ende ist, sind wir frei, einen neuen Anfang zu suchen. „Zu suchen bedeutet: die nächste Zivilisation mitzugestalten (ob wir dafür durch eine Katastrophe gehen müssen oder nicht). Besser noch: Die Zukunft ruft uns dazu auf.“ Die Alternative sei zu schrecklich, um nicht den Mut aufzubringen, darüber nachzudenken. „Wir sehen einem unkontrollierten Zusammenbruch ins Auge.“
Read ist ein gewissenhafter Leser der Schriften des österreichischen Philosophen Ludwig Wittgenstein, der lange Zeit in Cambridge gelehrt hat. Wittgenstein schrieb einmal: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen. “ Damit meinte er allerdings spezifische Probleme der traditionellen Philosophie, insbesonders der Metaphysik. Die andere Seite dieses Satzes war für ihn, dass gedankliche Klarheit einen therapeutischen und befreienden Nutzen haben kann. Rupert Read hält es genau mit diesem Gedanken Wittgensteins. Nur wer sich nichts vormacht und das Verhängnis, das die Menschen umgibt, nicht leugnet, wird handlungsfähig sein. Auch wenn es fünf vor zwölf ist, bleibt noch Zeit, Richtiges zu tun.