Ethikrat zur Künstlichen Intelligenz: Die Verteidigung der Mündigkeit

Der Deutsche Ethikrat versucht, mit seiner Erklärung zur Entwicklung der Künstlichen Intelligenz das Erbe der Aufklärung zu retten.
Was wäre wenn – ein automatisch betriebenes Auto einen Unfall verursacht oder ein medizinischer Hightech-Apparat eine falsche Diagnose erstellt, die anschließend eine folgenschwere Therapie nach sich zieht? Und was wäre wenn – ein Programm eine unzutreffende Vorhersage über eine mögliche Wiederholungstat von Straffälligen trifft? Während der technische Fortschritt schon längst derartige Technologien entwickelt hat, sind die meisten moralischen und rechtlichen Fragen dazu noch offen.
Nun hat sich der Deutsche Ethikrat endlich mit einer ausführlichen Stellungnahme zu Chancen und Risiken der KI zu Wort gemeldet (vgl. FR v. 21. März). Überraschendes oder gar Revolutionäres findet sich in dem Papier nicht. Stattdessen durchzieht der Geist des Bewahrens und Schützens den Text, der vor allem einer Prämisse folgt: Die Verteidigung der Aufklärung.
„Die einzelne Person zerfällt nicht in Funktionalitäten, sondern wird zusammengehalten durch Gründe, die ihre theoretische und praktische Lebensorientierung bestimmen“, heißt es darin. Abgehoben wird hier natürlich auf die kantianische Vernunft, mittels deren der Mensch Verantwortung für sein Handeln zu übernehmen imstande ist. Maschinen sprechen die obersten Ethiker und Ethikerinnen der Republik jene Kompetenz ab: „Es wird der Software der Zukunft vermutlich in wachsendem Umfang gelingen, menschliche Fähigkeiten zu simulieren und in vielen Fällen zu übertreffen. Das sollte uns aber nicht dazu verführen, ihnen personale Eigenschaften zuzuschreiben, die für genuin menschliche Existenz essentiell sind.“
Diese Klarstellung ist insofern von außerordentlicher Bedeutung, als dass in akademischen Denkstuben schon lange Überlegungen darüber angestellt werden, ob Robotern irgendwann auch Grundrechte zustehen sollten, zumal Hollywood nicht an Filmen mit empfindsamen Androiden spart.
Indem der Rat nun mit Entschiedenheit auf diese Diskussionen reagiert, tut er der Philosophie etwas Gutes. Er beweist ihre Geltung für die Wirklichkeit. Denn man mag über logische Deduktion immer Argumente für und wider eine Ausweitung der Menschrechte finden. Nur wem ist damit geholfen, wenn irgendwann noch unbelebte Materie in deren Genuss kommt? Wenn überhaupt, so müsste eine rechtliche Höherstellung zunächst für Tiere zu erstreiten sein und bei Weitem nicht für Maschinen.
Letzteren ordnet das Gremium hingegen eine Zweckmäßigkeit zu. KI soll, wie es eines schon Marshall McLuhan forderte, der Erweiterung humanen Agierens – zum Beispiel bei der Auswertung großer Datenmengen – dienen. Aber sie darf seine Tätigkeit nicht ersetzen. Denn glaubt man der sich durch alle Kapitel ziehenden Befürchtung, könnte smarte Technik gerade in Bereichen mit Personalmangel ausgiebig zum Einsatz kommen. Sei es der Schulunterricht oder der Bürgergeldantrag oder gar das klärende Arztgespräch – das menschliche Gegenüber ließe sich nur allzu leicht durch einen sterilen und seelenlosen Avatar auswechseln. Umso mehr betont das Papier die Dringlichkeit, schleichenden „Verselbstständigungstendenzen“ beim Einsatz smarter Technik entgegenzuwirken und gezielt Warnhinweise anzubringen, wo KI als „Quasi-Akteur“ in Erscheinung trete. Zugegeben, viele inflationäre, aber nicht weniger richtige Modeworte flankieren die Skepsis gegenüber langsam ein Eigenleben entwickelnden Programmen. So etwa Transparenz, Monitoring, Kontrolle, Datenschutz.
An einigen Stellen finden sich wiederum sehr gehaltvolle Positionierungen. Zu ihnen zählen die Passagen über die sozialen Medien. Zum einen bereiten den Intellektuellen mitunter Bots, die heikle Themen befeuern und künstliche Shitstorms auslösen, Sorgen. Zum anderen ist es die Oligopolisierung der Betreiber hinter den Strukturen: Wegen des Einflusses der zur Massenmanipulation fähigen Netzgiganten - er entfaltet inzwischen demokratiegefährdende Wirkungen - sei neben einer „Machtbeschränkung“ von Twitter & Co vor allem die Etablierung einer „digitalen Kommunikationsinfrastruktur in öffentlich-rechtlicher Verantwortung“ geboten. Die Staaten sollten demnach Geld in die Hand nehmen und selbst europäische Plattformen einrichten und im Hinblick auf Rechtssicherheit überwachen.
Nur so bleibt aus Sicht der Ethiker und Ethikerinnen der Meinungspluralismus, mithin die Vernunft im Diskurs erhalten. Es geht dabei um nicht mehr und nicht weniger als um die Verteidigung der Mündigkeit im digitalen Zeitalter. Wird das gesprochene Wort, der Einspruch jedes Einzelnen in durchtechnisierten Verwaltungsprozessen noch Gehör finden? Und kann überdies der Minderheitenschutz gewährleistet werden?
Wo große Datenmengen Muster erkennen und daraus binnen Sekunden Handlungsempfehlungen ableiten, besteht das Risiko, Ausnahme- und Sonderfälle zu übersehen. Oder umgekehrt: In einem vermeintlich homogenen Datenfeld vermag die KI auch Diskriminierungen zu identifizieren. Wie sich an dieser Stelle zeigt, kann Technik somit durchaus einen Beitrag zur Verbesserung der Welt leisten.
Buchstäblich kann es jedoch auch zu viel des Guten geben, wenn man sich die letzten Studien des Medientheoretikers Roberto Simanowski vergegenwärtigt. Seine konzentrierten Gesellschaftsanalyse offenbaren auf bedenkliche Weise, dass so manche Entwicklung schon jetzt den normativen Stand der Ethik-Kommission überholt hat. Allen voran die sogenannte „Algocracy“ sollte uns zum Nachdenken anregen. Die Herrschaft der Algorithmen bedeutet, dass bestimmte menschliche Verhaltensweisen durch die Software durchgesetzt werden.
Ein Beispiel: In „Horizon Worlds“, einem Second Life-Game von Meta, werden um einen sexuell übergriffigen Avatar herum unsichtbare Sicherheitszonen erstellt. Versucht dieser dann erneut, sich unflätig einer anderen Person zu nähern, verschwinden schlichtweg seine Hände. Statt auf Erziehung oder Bestrafung, kurzum: einer Arbeit am Wertegerüst eines Menschen, fußt dieses System schlichtweg auf einer codifizierten Lösung von Fehlverhalten. Aber lernen wir auf diese Weise wirklich, gut zu werden? Wohl kaum. Man setzt uns Grenzen, die wir irgendwann nicht verstehen (müssen). Obwohl die Technik mit derlei Versuchen unser normatives Korsett eigentlich festigen sollte, dürfte sie genau das Gegenteil hervorrufen. Wir könnten vergessen, wofür wir stehen und was uns eigentlich zusammenhält.
Es bleibt eine glänzende Oberfläche übrig. Der Kosmos der KI und der neuen Medien ist eben charakterisiert durch die glatte Oberfläche von Kabeln und Bildschirmen. Er akzeptiert weder Widerstände noch Reibungsflächen. Wir werden, wie der Kulturkritiker Byung-Chul Han einmal treffend schreibt, eines „Konformitätszwangs“ gewahr, „der das Andere, das Fremde, das Abweichende beseitigt. Big Data macht vor allem kollektive Verhaltensmuster sichtbar. Der Dataismus selbst verstärkt das Zunehmen im Gleichwerden“. Um genau dies zu verhindern, erweist sich die Stellungnahme des Ethikrats als wichtiges Orientierungspapier. Es fordert ausdrücklich dazu auf, den Verlauf der Mensch-Maschine-Beziehung kontinuierlich zu verfolgen. Zu Recht! Denn in manchen Bereichen unseres Lebens gewinnt die KI schon jetzt mehr an Einfluss, als uns allen lieb und recht sein sollte.