Erinnerungskultur: Vergangenheit, die nicht vergeht

Die Geschichte geht in unsere Körper ein, sie prägt unser Gedächtnis - das gilt auch für den Nationalsozialismus. Doch es gibt ganz unterschiedliche Formen des Umgangs mit Geschichte.
Die aktuelle Debatte über einen „Zweiten Historikerstreit“, die mit immer weiteren Beiträgen die Gemüter bewegt, wirft grundsätzliche Fragen auf, die im Eifer des Gefechts meist übersprungen werden: Müssen sich erforschte und erinnerte Geschichte widersprechen und ausschließen? Vergeht die Vergangenheit oder vergeht sie nicht? Und wer ist überhaupt dafür zuständig, solche Fragen zu entscheiden?
Der Erste Historikerstreit 1986 wurde mit einer Überschrift eingeleitet, die selbst unvergesslich geworden ist: „Vergangenheit, die nicht vergeht.“ Daran schließt sich die Frage an: Vergeht die Vergangenheit, oder vergeht sie nicht? Die Antwort aus Historikersicht lautet: Natürlich nicht! Was vergeht, ist die Gegenwart, denn sie verwandelt sich ständig in Vergangenheit. Der Lauf der Zeit und das damit verbundene Vergessen entziehen uns die klare Anschauung der Ereignisse, lassen sie verschwimmen und machen sie immer schwerer zugänglich. Aber Historiker und Historikerinnen leisten Widerstand gegen dieses allgemeine Vergessen. Für sie vergeht die Vergangenheit nicht, sofern es noch Zeugnisse, Dokumente, Quellen gibt, mit deren Hilfe sie sich ein Bild oder mehrere Bilder von ihr machen können. Genau das ist ihre Aufgabe.
Die Antwort der Erinnerungskultur fällt anders aus. Nicht nur die Gegenwart, auch die erforschte Geschichte ist vergangen, wenn sie keinen lebendigen Bezug zur jeweils aktuellen Gegenwart aufbaut. Das nationale Gedächtnis ist ein effektiver Schutz gegen Vergehen und Vergessen. Die Geschichte bleibt in dem Maße präsent, wie sie für das Selbstbild der Nation aufbereitet wird und ein Anliegen der gesamten Gesellschaft bleibt.
Die Formen des nationalen Gedächtnisses haben sich im 19. Jahrhundert als eine öffentliche Domäne nationaler Geschichtserziehung und -präsentation neben der Geschichtswissenschaft entwickelt, wovon entsprechende Denkmäler, Museen, Schulunterricht und Jahrestage zeugen. Das Gegenwärtighalten von Vergangenheit – man denke an das Panthéon, den Louvre oder den Arc de Triomphe in Paris – ist also nichts Neues, das gibt es in Demokratien ebenso wie in Diktaturen.
Als Ernst Nolte den Satz prägte über die Vergangenheit, die nicht vergeht, begann ein tiefgreifender Wandel im deutschen nationalen Gedächtnis. Während sich Nolte ein Zurückweichen von traumatischer Vergangenheit ins historische Archiv wünschte, wuchs auf der anderen Seite die Sorge, dass das Wissen über die Verbrechen der NS-Zeit mit den Jahren in der Gesellschaft verblassen würde. Man machte sich Gedanken über die gesellschaftliche Verankerung der Werte und Maßstäbe der neuen Bundesrepublik. Die Sorge war berechtigt angesichts einer Zunahme von antisemitischen Straftaten. Es gab also durchaus eine Vergangenheit, die nicht verging und in rechtsextremen Haltungen und Handlungen gegenwärtig geblieben war.
Einer von ihnen war der US-amerikanische Jurist Eric Stein (1913-2011). Er bereitete ein Gesetz gegen die Auschwitz-Lüge vor, das 1985 verabschiedet wurde. Das war einen Monat nach Weizsäckers Gedenkrede zum 40. Jahrestag des Kriegsendes und kurz vor dem Ausbruch des Historikerstreits. Die Initiative richtete sich an die Deutschen im Land der Täter. Mit seinem Gesetz wollte Stein die jüdischen Opfer gegen eine unzumutbare Beleidigung schützen.
Die Protagonisten des Historikerstreits haben unterschiedlich auf sein Gesetz reagiert. Während sich Ernst Nolte gegen eine Einschränkung von Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit wehrte, war Christian Meier gegenüber der neuen Rechtssprechung aufgeschlossener, warnte aber auch davor, die Wahrheit historischer Fakten mithilfe von Gesetzen festzulegen. Darin sah er einen Eingriff in die wissenschaftliche Autonomie der Historiker. Von einer „Erinnerungskultur“ war damals noch nicht die Rede. Stein fürchtete sogar, dass die Implementierung einer negativen Erinnerung in Deutschland Ressentiments mobilisieren und die Demokratie gefährden könne. Angesichts der Alternative zwischen Vergessen und Erinnern hielt er ein Gesetz für den besseren Weg.
Zehn Jahre später und 50 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs kommentierte der Autor und Jurist Lawrence Douglas, Eric Steins Gesetz der Auschwitz-Lüge sei für die Deutschen so etwas wie ein „Gedächtnis-Muskel“ gewesen. Mit dem Historikerstreit begann der deutsche Sonderweg einer neuen Form von Erinnerungskultur. Während andere Staaten damit befasst waren, ihre Geschichte so umzuerzählen, dass beschämende Episoden aus ihr verschwanden, galt für Deutschland das genaue Gegenteil: hier wurde die nationale Geschichtserzählung auf das unumstößliche Faktum des Holocaust gegründet. Nicht nur das: das Ereignis/Faktum sollte in Zukunft im Verbund mit seiner Bewertung/Deutung die Grundlage für eine neue Rechts- und Geschichtskultur bilden. Es ging also nicht nur um Wahrheit, sondern auch um Identität und Erinnerung. Diese Vergangenheit galt nicht mehr als vergangen, seit sie zum Gegenstand einer zu erinnernden Geschichte wurde. In dieser Form stützt sie das Gewissen der Nation und bildet eine dauerhafte moralische Folie für die Orientierung der Gegenwart und Zukunft.
37 Jahre nach dem ersten Gesetz gegen die Auschwitz-Lüge ist am 20. Januar 2022, auf den Tag 80 Jahre nach der Wannsee-Konferenz in Berlin, wo die sogenannte „Endlösung der Judenfrage“ durch den Mord an elf Millionen Juden geplant wurde, von Deutschland und Israel in der UN-Vollversammlung eine Resolution gegen die Holocaust-Lüge eingebracht worden. Die aktuelle UN-Resolution markiert einen Bund zwischen Täter- und Opfer-Nation (auch wenn die Opfer natürlich auf der ganzen Welt verteilt sind) und reagiert auf ein neues Problem, nämlich den Schutz der historischen Wahrheit angesichts gezielter Desinformations-Kampagnen in den digitalen Medien. Gleichzeitig ist sie Teil einer weltweiten Kampagne der transnationalen Holocaust-Erinnerungsgemeinschaft (IHRA) gegen Antisemitismus.
Obwohl in Deutschland inzwischen über 75 000 Stolpersteine verlegt, weitere Gedenkorte geschaffen und NS-Dokumentationszentren eröffnet worden sind, befinden wir uns gerade in einem „zweiten Historikerstreit“. Der Grund dafür ist die Sorge, bzw. Panik, die Holocausterinnerung sei in Deutschland gefährdet und stünde kurz vor der Abschaffung.
Grund dafür sind die Äußerungen zweier Historiker. Einer von ihnen ist Dirk Moses, der die polemische Formel von der Holocaust-Erinnerung als „deutschem Katechismus“ geprägt hat, weil er glaubt, dass sie einer ernsthaften Auseinandersetzung mit der deutschen Kolonialgeschichte im Wege steht, eine Geschichte, die nicht nur im Archiv der Wissenschaft bearbeitet wird, sondern auch in den Erinnerungs- und Verantwortungshorizont der Gesellschaft gehört. Sie kehrt gerade in die Öffentlichkeit zurück, weil auch sie eben noch nicht vergangen, sondern in ihren Folgen durchaus noch Gegenwart ist. Das wirft die grundsätzliche Frage auf, ob im nationalen Gedächtnis der Deutschen neben dem Holocaust noch eine zweite „negative“ Erinnerung an Schuld und Verbrechen Platz finden kann.
Wolfgang Reinhard (vgl. „FAZ“ vom 10.1. und Kommentar in der FR vom 20.1.2022) steht Dirk Moses in seiner „in yer face“-Polemik keineswegs nach, aber bei genauerer Betrachtung vertritt er ganz andere Ansichten, was auch etwas mit den unterschiedlichen Jahrgängen der beiden Historiker zu tun hat. Moses (Jahrgang 1967) verkörpert eine Historikergeneration, die auf die neuen Herausforderungen in der globalisierten Welt reagiert, Reinhard (Jahrgang 1937) ist von der deutschen Geschichte geprägt.
Oberflächlich gesehen stoßen beide in dasselbe Horn. Moses spricht vom „deutschen Katechismus“, Reinhard von „Holocaust-Orthodoxie“ und „politischer Rechtgläubigkeit“. Doch Reinhard geht es nicht um die Aufnahme der Kolonialgeschichte in einen erweiterten Erinnerungsrahmen. Er plädiert tatsächlich für eine Abschaffung der Holocaust-Erinnerung. Dieses Plädoyer entspringt einer unter Historikern und Historikerinnen verbreiteten Aversion gegenüber der Erinnerungskultur, in der sie nichts anderes sehen als eine fatale Verfälschung und Verformung der Geschichte. Hier gilt es unbedingt zu unterscheiden zwischen einer allgemeinen Abwehr der Geschichtserinnerung einerseits und einer legitimen Kritik an der Art, wie sie betrieben wird, wenn zum Beispiel eine Erinnerung als Bollwerk gegen eine andere Erinnerung eingesetzt wird.
Als die Geschichtserinnerung in den 1990er Jahren entstand, hielten viele in der Forschung sie nicht nur für entbehrlich, sondern auch für störend und gefährlich. Obwohl sich längst herumgesprochen hat, dass sich Forschung und Erinnerung gegenseitig ergänzen, aufeinander angewiesen sind und in der Regel auch konstruktiv miteinander kooperieren, hält Reinhard weiterhin an diesem alten Feindbild fest. Er spricht von der Holocaust-Erinnerung pauschal als einer symbolischen Chiffre und einer Identifikationsfigur, die sakralisiert, tabuisiert, emotionalisiert und machtbesetzt ist.
Deshalb setzt er auf die Karte des Vergessens: „Das natürliche Ausdünnen der Erinnerung lässt auch das kulturelle Gedächtnis nicht ungeschoren.“ Nach 80 Jahren gehe es „überwiegend nur noch um die Enkel der Täter (…), denen keine zweite Schuld (des Vergessens, A. A.) zugeschrieben werden kann“.
Reinhards Plädoyer kommt damit der Aufkündigung eines Erinnerungsbundes gleich und führt zurück in eine Welt der Verdrängung, in der die deutschen Täter sich das Recht nahmen zu vergessen, während sich die jüdischen Opfer sehr gut erinnern. Das Vergessens stellt sich aber nicht so einfach ein, wie Reinhard annimmt. Er zitiert zwar Yehuda Elkana, aber nicht Yehuda Bauer, den Architekten und Mastermind der Holocausterinnerung, der Yad Va Shem aufgebaut, 2000 in Stockholm die internationale Holocaust-Erinnerungsgemeinschaft IHRA ins Leben gerufen und 2022 die UN-Resolution gegen Holocaust-Leugnung auf den Weg gebracht hat.
Wir könnten uns viele Missverständnisse sparen, wenn man sich auf ein paar Grundannahmen einigen könnte. Die erste könnte sein, dass es unterschiedliche Formen des Umgangs mit der Geschichte gibt, die gleichermaßen legitim sind. Neben der Geschichtsforschung hat sich eine Erinnerungskultur etabliert, die die Forschung keineswegs infrage stellt, sondern im Gegenteil zur Beglaubigung der Wahrheit und Tatsachen dringend auf sie angewiesen ist. Umgekehrt gilt, dass die Geschichtsforschung für die Anerkennung, Bewertung, Deutung und Aneignung historischer Ereignisse auf die Erinnerungskultur angewiesen ist.
Zweitens wäre festzuhalten, dass die Anerkennung des Umgangs mit Geschichte im Modus einer Erinnerungskultur die Kritik an ihr keineswegs ausschließt. Das gilt nicht nur für ihre Erstarrung und Ritualisierung, sondern auch für ihre Vereinnahmung durch die Politik. Politische Instrumentalisierung geht mit einer Verengung und Verhärtung des Erinnerungsrahmens einher, wobei abweichende Meinungen unter Antisemitismus-Verdacht gestellt werden.
Drittens ist Panikmache fehl am Platz, denn weder wird in der aktuellen Debatte der Holocaust geleugnet oder verkleinert, noch steht die Erinnerungskultur kurz vor dem Aus. Ganz im Gegenteil. Sie hat Schule gemacht und einen Prozess eingeleitet, der mit Stopp-schildern nicht einfach abgebrochen werden kann. Das hat Eric Stein 1985 bereits klar ausgesprochen: „Jeder Genozid muss als ein solcher anerkannt werden. Es kommt darauf an, dass jede Nation ihre historische Verantwortung für die Verbrechen ihrer eigenen Regierung anerkennt.“
Aleida Assmann ist Literatur- und Kulturwissenschaftlerin und für ihre Forschungen auf dem Gebiet des kollektiven kulturellen Gedächtnisses u. a. mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet worden.