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Erinnerungskultur: Empathie als intellektuelle Übung

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Von: Inge Günther

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Philosophin Susan Neiman.
Philosophin Susan Neiman. © Jürgen Heinrich/Imago

Holocaust, Nakba und die deutsche Erinnerungskultur: Das Einsteinforum in Potsdam ermöglicht eine in Tel Aviv verbannte Debatte.

Wofür Skandale – in diesem Fall eher ein „Skandälchen“ frei nach Susan Neiman – nicht alles gut sind. Eigentlich gebühre Dani Dayan, einst israelischer Siedlerführer, heute Direktor in Yad Vashem, und den anderen Rechten Dank, hieß Neiman launig-sarkastisch die Gäste im proppevollen Einsteinforum willkommen. Deren Cancel-Kampagne habe schließlich dazu geführt, an diesem Donnerstagabend die Debatte hier in Potsdam erleben zu können.

Ein Wink, den das Publikum goutierte, aber für die Leserschaft Erklärungsbedarf hinterlässt. Also kurz zur Vorgeschichte: Die nicht nur in Israel, sondern auch von den Springer-Medien hochgepeitschte Erregung hatte sich an einer ursprünglich im Goethe-Institut Tel Aviv geplanten und von der Rosa-Luxemburg-Stiftung unterstützten Veranstaltung über Holocaust, Nakba und die deutsche Erinnerungskultur festgemacht.

Test für Meinungsfreiheit

Mit Verweis auf den Termin 9. November, Jahrestag der Reichsprogromnacht, wurde den Beteiligten zunächst Geschichtsvergessenheit unterstellt. Nach terminlicher Verlegung empörte man sich alsbald, Holocaust und Nakba, die palästinensische Katastrophe von Flucht und Vertreibung, hätten im gleichen Satz nichts zu suchen. In Jerusalem und Berlin türmte sich politischer Druck auf, der schließlich die ersatzlose Absage nach sich zog.

Woraufhin Susan Neiman beschloss, die in Tel Aviv verbannten Diskutanten – neben der Autorin Charlotte Wiedemann („Den Schmerz der Anderen begreifen“) Amos Goldberg, Historiker der Hebräischen Universität, sowie Bashir Bashir, Politikwissenschaftler der Open University in Israel – nach Potsdam einzuladen. Sie, Neiman, verstehe das als „Test für die Meinungsfreiheit“, ganz im Sinne des legendären Namensgebers ihres Instituts. Aber eines stellte sie, jüdische Amerikanerin, lieber doch in Deutsch vor der in Englisch geführten Debatte klar: „Es geht nicht um eine Gleichsetzung von Holocaust und Nakba“ – sondern darum, wie das eine das andere bedingt habe. Das Eis ist spiegelglatt bei diesem Thema, und manche warten geradezu auf Ausrutscher.

Wiedemann schlägt da einen weiten Bogen, zieht Parallelen zum Postkolonialismus, hinterfragt – immer auch selbstkritisch –, warum uns Deutschen etwa der jüdische Widerstand im Ghetto von Warschau so viel nähergeht als der Maji-Maji-Aufstand gegen koloniale deutsche Unterdrückung vierzig Jahre zuvor, bei dem etwa 200 000 Afrikaner:innen gewaltsam umkamen. Wie weit spielt Hautfarbe eine Rolle, weshalb wir uns mit den einen leichter identifizieren als mit den anderen?

Nein, ihr gehe es nicht um weniger Holocaust-Gedenken zugunsten anderer Opfergruppen. Zurecht habe Israel für Deutschland einen besonderen Status. Aber anzunehmen, dass Israel wegen der Shoah ein singuläres Recht auf Straflosigkeit habe im Hinblick auf fortlaufend verletztes internationales Recht, das, so Wiedemann, „ist ein schreckliches Missverständnis“. Die Geschichte ist komplex. Weder lasse sich Al Nakba als Kollateralschaden bei der Gründung des jüdischen Staates abtun, noch der Zionismus, der ja auch Befreiungsbewegung war, auf einen Siedlerkolonialismus reduzieren. Die von Wiedemann geforderte Empathie als intellektuelle Übung, „sich für einen Moment in die Schuhe von jemand anderem zu versetzen“, teilen Goldberg und Bashir.

Blick nach vorne

Es komme aber nicht nur auf das Begreifen von fremdem Schmerz an, so Goldberg, sondern genauso auf Rechte und Verantwortung. Oder, wie es Bashir, Palästinenser mit israelischem Pass, ausdrückt, „auf den Blick nach vorne“ – eine „binationale Lösung, die auf den Prinzipien von Gleichheit, Freiheit und sozialer Gerechtigkeit“ fuße. Davon sind Israel, das demnächst sein 75-Jahr-Jubiläum feiert, und Palästina, das mit dem Datum Al Nakba verbindet, weiter denn je entfernt. Dabei galt in den frühen Jahren die Verbindung zwischen beiden Ereignissen als offenkundig. Goldberg berichtet von Holocaust-Überlebenden, denen nach Ankunft in Israel arabische Häuser zugewiesen wurden, auf denen noch das Essen auf dem Tisch stand. Einige verstanden sofort und lehnten den Einzug ab. Heute drohen in Israel bereits NGOs, die an Al Nakba erinnern, finanzielle Nachteile.

Und auch die israelfreundlichen Deutschen meiden das Thema. Ein Grund mehr, so Wiedemann, den hier lebenden 200 000 Palästinenserinnen und Palästinensern Gelegenheit zu geben, die Geschichte aus ihrer Sicht zu erzählen. Es wäre an der Zeit.

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