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Erdbeben: Das Grauen in der besten aller möglichen Welten

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Von: Michael Hesse

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Erdbeben als Strafe Gottes: In Lissabon wütete 1755 in Folge der Erdstöße ein Feuer in der Stadt, zudem rollte ein Tsunami auf die Küste zu.
Erdbeben als Strafe Gottes: In Lissabon wütete 1755 in Folge der Erdstöße ein Feuer in der Stadt, zudem rollte ein Tsunami auf die Küste zu. © Imago

Nach der Katastrophe in der Türkei und Syrien: Erdbeben führen in der Neuzeit zu Diskussionen über das Verhältnis von Übeln und der Güte Gottes.

Sie galten als Fingerzeig Gottes zur Umkehr, bevor es zu spät ist. Zerstörerische Erdbeben – wie jetzt im Osten der Türkei und im Norden Syriens – wurden seit der Neuzeit nicht nur vom gemeinen Volk als eine Strafe gedeutet. Predigten befassten sich damit, und Philosophen interpretierten sie im Kontext ihrer Morallehren. Beben unterschieden sich von anderen Katastrophen wie Überschwemmungen, die für die betroffenen Menschen an Flüssen ein eher normales Szenario waren.

Damit stehen frühere Zeiten in einem besonderen Kontrast zur heutigen Wahrnehmung, in der Erdbeben als nicht beeinflussbare tektonische Verschiebungen der Erdplatten gelten, Überschwemmungen hingegen als Folge des menschengemachten Klimawandels gedeutet werden und daher moralische Fingerzeige nach sich ziehen. Bereits im 14. Jahrhundert setzte die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Ursache von Erdbeben ein, auch wenn die Messung der Intensivität der Erdstöße erst seit Mitte des 19. Jahrhunderts möglich ist. In China gab es bereits im zweiten Jahrhundert v.u.Z. ein erstes Seismokop, allerdings bedurfte es der theoretischen Grundlage der Arbeiten von William Hopkins und Robert Mallert, die nachwiesen, dass die Beben aufgrund von wellenförmigen Ausbreitungen der Erdstöße verursacht werden.

Schon früh gab es ein Paradigma. Als solches galten die Erdbeben in Kärnten und Friaul am 25. Januar 1348 und Basel am 18. Oktober 1356. Da sich in Kärnten bei Villach auch ein gewaltiger Bergsturz ereignete, der das Tal der Gail verstopfte und eine große Flutwelle zur Folge hatte, galt diese Katastrophe immer als wissenschaftlicher Referenzpunkt für ähnliche Untersuchungen. Allerdings war dies kein Vergleich zum Erdbeben von Lissabon, das Geschichte schreiben sollte.

Am 1. November 1755 wurde die Hauptstadt Portugals fast völlig von dem Beben zerstört. Vor allem die Brände und die gewaltige Flutwelle als Folge der heftigen Erdstöße führten zu einem Fiasko und hinterließen eine Trümmerlandschaft.

Die Opferzahlen konnten nur geschätzt werden. Man ging von 60 000 Toten in Portugal und von weiteren 10 000 Opfern in Marokko aus, das ebenfalls von dem Beben betroffen war.

In Deutschland wurden nach Bekanntwerden der Katastrophe von Lissabon in vielen Orten Gebetsstunden für die Opfer angeordnet. England leistete Wiederaufbauhilfe für die zerstörte Stadt. Das Erdbeben von Lissabon entfaltete aber wohl vor allem deshalb jene besondere Aufmerksamkeit, die ihm in der Geschichte zuteil werden sollte, weil es zum ersten medialen Großereignis ganz Europas werden sollte. Die aufgeklärten Zirkel in den europäischen Städten diskutierten aufgeregt über die Ursachen und Folgen der Zerstörungswut der Natur. Befeuert wurden sie durch die vom ausgehenden Mittelalter üblichen biblisch-theologischen Deutungsmuster der Erdbeben, die ihren Grund in der Bibel fanden, wo sie als Begleiterscheinung der Kreuzigung Jesu aufgeführt wurden. Zudem galten Erdbeben als Vorzeichen des Jüngsten Gerichts.

Die Erklärung des Naturphänomens als Strafe Gottes lag quasi auf der Hand. Dementsprechend aufgeregt fochten Voltaire, Jean-Jacques Rousseau und Immanuel Kant in Briefen über die Bewertung. Es ging auch um die Theorie des Universalgenies Gottfried Wilhelm Leibniz, dass diese Welt perfekt und von Gott wohlgeordnet sei.

Leibniz ging von der Vorstellung aus, dass die Welt das Produkt eines moralisch vollkommenen Welturhebers sein müsse. Allerdings sei die Spannung zwischen der besten aller möglichen Welten und den Übeln in der Welt unübersehbar. Daher sollte eine Theodizee dazu dienen, dass der Glaube an Gott trotz dieser Übel vernünftig bleibt.

Der Philosoph hatte besonders intensive Diskussionen hierüber mit der Prinzessin Sophie Charlotte, der späteren preußischen Königin, geführt – sie wurde von vielen für ihren scharfen Verstand und ihre Schönheit verehrt. Mit ihr führte Leibniz gerne tiefgründige Gespräche über Gott und die Welt. Da die Königin eine große Verehrerin des französischen Philosophen Pierre Bayle war, der für sein historisch-kritisches Wörterbuch viel Ruhm erntete, kamen sie auf ein für Bayle traumatisierendes Ereignis zu sprechen. Bayles Bruder war bei der grausamen Verfolgung der Hugenotten ermordet worden. Daher warf er die Frage auf, ob sich Gottesglaube mit Vernunft vereinen lasse. Für Leibniz war Gott ein Schöpfer, der sich die Welt einmal ausgedacht und alles vorhergesehen hatte. Naturkatastrophen gingen zwar auf das Konto des Schöpfers, waren aber unvermeidbar.

Leibniz war alles andere als ein Romantiker, als er seine These aufschrieb, die nach intensiven Dialogen mit der Königin gereift war. Er war Logiker, Naturwissenschaftler, als er erklärte, dass die Welt die beste aller denkbaren sei, auch wenn sie nicht als gut gilt. Im Jahr 1701 und 1702 schrieb er sie dann in Form einer Abhandlung nieder. „Versuche in der Theodizee über die Güte Gottes, die Freiheit des Menschen und den Ursprung des Übels“, lautete der Titel. Allerdings, teilte er einem Freund mit, habe er seit 1671 an der Frage gearbeitet. Seine Theodizee wird zu einer der einflussreichsten Schriften nicht nur seiner Zeit, sondern der ganzen Philosophie-Geschichte. Sie erregte Bewunderung – und Spott.

Voltaire schrieb sogleich ein freches Gedicht, das den Titel trug: „Gedicht über das Unglück von Lissabon“ (1956). Da Leibniz die beste aller möglichen Welten lehrte, schickte er zudem in einer Erzählung mit dem gleichnamigen Titel den einfältigen Helden mit dem Namen Candide durch die Welt, in der ihm ein Übel nach dem anderen ereilt. Nach all den Plagen, die er hat erdulden müssen, zieht Candide sich schließlich in seinen eigenen Garten zurück, wo er sich nunmehr nur noch darum kümmern will, diesen zu bestellen.

Während sich viele über die moralischen Folgen des Bebens Gedanken machten, war Moralphilosoph Kant den praktischen Fragen zugewandt. Sein Rat könnte auch Heutigen gelten, dass man Häuser in Erdbebengebieten nicht zu nah an Gebirgen und Flüssen bauen sollte. Er freute sich, dass seine preußische Heimatregion den Vorteil genieße, dass im Flachland die Erdkruste überall gleich dick sei, die Landesnatur also einen perfekten Schutz gegen Erdbeben biete.

Kant hielt es für „vorwitzig“ zu meinen, die göttlichen Absichten bei Übeln wie dem Lissabonner Beben ließen sich verlässlich ergrübeln. Ganz wie Leibniz stand auch er dem Gedanken nahe, dass aus der unbezweifelbaren Existenz eines vollkommenen Gottes sowie aus der notwendigen Annahme, dass nur eine beste aller möglichen Welten existieren könne, der Schluss folge, dass Gott die beste aller möglichen Welten geschaffen habe.

Kant schenkte der in seiner Zeit verbreiteten Meinung, dass der Genuss des Menschen gegenüber dem Leid im Leben ein Übergewicht habe, keine Beachtung. Dass Gott auch die Übel zulasse, die nicht durch Natur, sondern Menschen verübt werden, begründete er damit, dass Gott böse Taten aus weisen Gründen zulasse. Der Grund sei darin zu suchen, dass die Freiheit des Menschen einen höheren Zweck darstelle, als moralisch gute Handlungen zu erzwingen. Seit dem Erscheinen seiner „Kritik der reinen Vernunft“ 1781 ignoriert er das Theodizee-Problem mit erstaunlicher Beharrlichkeit.

Heinrich von Kleist war von dem Ereignis in Lissabon hingegen so beeindruckt, dass er die Novelle „Das Erdbeben von Chili“ im Jahr 1807 schrieb. Sie ist die Geschichte eines jungen Liebespaares namens Jeronimo und Josephe. Wegen ihrer unehelichen und daher nicht standesgemäßen Beziehung werden sie inhaftiert. Josephe wird sogar zum Tode verurteilt. Durch ein Erdbeben können sie ausbrechen. Das Glück scheint zurückzukehren. Doch eine rasende Menschenmenge gibt ihnen die Schuld an der Naturkatastrophe und tötet sie.

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