Erbarmen mit Olaf Scholz!

Ein Journalist schreibt: „Olaf Scholz ist einfach erbärmlich.“ Aus solchen Sätzen zeugt nicht nur Kritik gegen die SPD, sondern auch Staatsverachtung.
In den rund zwei Monaten, die seit Beginn des Krieges vergangen sind, hat nicht nur die Besorgnis über dessen Verlauf zugenommen, sondern auch das Misstrauen in die Möglichkeiten einer politischen Befriedung. Besonders kritisch wird dabei die Rolle der Deutschen gesehen.
Nach Ausrufung der Zeitenwende lautet die bange Frage nun, ob die kürzich erst gewählte deutsche Regierung in der Lage sei, einer solch pathetischen Formel überhaupt gerecht zu werden. Für viele ist die Sache bereits klar: Bundeskanzler Olaf Scholz erweist sich ihnen als kläglicher Zauderer, der weder den Erwartungen seiner Bürgerinnen und Bürger zu entsprechen vermag noch den verzweifelten Wünschen der Ukrainer nach Waffenlieferungen. Der Kanzler und seine in Kungeleien mit Russland verstrickte Partei als unsichere Kantonisten eines Landes, das sich eben noch stolz darin wähnte, eine quälende historische Schuld bearbeitet zu haben? Droht hier die Wiederkehr des Verdrängten durch die Anhäufung neuer Schuld?
Verbaler Zorn als Ventil
Die Zeit der Entscheidung ist nicht der Augenblick feinsinniger Differenzierung. Und so fällt in der veröffentlichten Meinung und im Rauschen der sozialen Medien denn auch die unverhohlene Wut auf, die insbesondere Sozialdemokraten entgegenschlägt, die einst für ihre Verbindungen zu russischer Politik und Wirtschaft gerühmt wurden, worin immer sie auch bestanden haben mögen. Von Bundespräsident Steinmeier wird Abbitte gefordert, von Manuela Schwesig, der Ministerpräsidentin Mecklenburg-Vorpommerns, der Rücktritt, und ein namhafter Journalist schreibt, als sei ihm der verbale Zorn ein notwendiges Ventil: „Olaf Scholz ist einfach erbärmlich.“
Es mag an der österlichen Stimmung gelegen haben, dass das christliche Erbarmen im selben Augenblick aufgerufen wurde, in dem es wichtigen Funktionsträgern der politischen Klasse demonstrativ verweigert wird. Auffällig ist ferner, dass die Empörung, die sich an den obersten Repräsentanten des Staates entlädt, auf Schuldeingeständnis und Sühne zielt, die der Ukraine womöglich eine Genugtuung wären, aber keine akute Hilfe sind. Es ist zweifellos richtig, dass die deutsche Politik- und Wirtschaftsgeschichte seit 1989 einer gründlichen Revision im Lichte der jüngsten von Wladimir Putin brachial losgetretenen Gewaltgeschichte bedarf. Richtig ist aber wohl auch, dass die Bewertung dieser Geschichte nicht allein über die Versäumnisse und Schuld einzelner Politiker verläuft.
Je lauter und anklagender die Namen Steinmeier, Schwesig und Merkel gerufen werden – an Schröder mag man dabei schon gar nicht mehr denken, der just zum Austritt aus der SPD aufgefordert wurde –, desto stärker scheint eine zivilgesellschaftliche Verantwortung zu verblassen, in der in den zurückliegenden Jahrzehnten ein Desinteresse an Entwicklungen in Osteuropa ebenso offenbar wurde wie die Blindheit gegenüber einem sich in schamlose Despotie verwandelnden Autoritarismus putinscher Prägung.
Als die Journalistin Anna Politkowskaja im Oktober 2006 in Moskau ermordet wurde, konnte kein Zweifel über die Auftraggeber dieses Fememordes bestehen. Im Rahmen der zeitgleich stattfindenden Frankfurter Buchmesse wurde dies ausdrücklich auch bemerkt. Und doch schien es, als könne man diese und die nachfolgenden staatsterroristischen Verbrechen abspalten von zwischenstaatlicher Politik und Diplomatie. Der Vorwurf, diesen Widerspruch nicht stärker in den öffentlichen Raum getragen zu haben, trifft leider nicht nur die jeweils zuständige Kanzlerin und ihre Minister, sondern auch viele zivilgesellschaftliche Akteure.
Das Dilemma, vor Entscheidungen zu stehen, für die es keine goldene Formel gibt, ist hinlänglich beschrieben. Umso unangenehmer ist es, dass die Debatte von starken Meinungen aus dem weiten Feld der Psychopathologie dominiert wird. Olaf Scholz‘ Zaudern gerinnt dabei zu nackter Feigheit oder mündet in der schlichten Unterstellung, die ewigfalsche Russlandfreundlichkeit der Sozialdemokratie weiter schützen zu wollen.
Das Wichtige zuerst
Es ist leider nicht auszuschließen, dass in den vergangenen Wochen fatale politische Fehler begangen wurden und weitere folgen werden. Die Annahme jedoch, dass das politische Handeln derzeit vor allem von niederen Beweggründen und nicht etwa von strategischen Zielen geleitet werde, zeugt von einer erschütternden Staatsverachtung. Zu einer Zeitenwende, die den Namen verdient, gehört der pragmatische Grundsatz: First things first – das Wichtige zuerst. Sollte dies nicht auch für die begleitenden gesellschaftspolitischen Debatten gelten? Und die Bearbeitung von Befindlichkeiten? Gerne später.