Echt jetzt? – Wie authentisch Be Real ist

Be Real und das Ephemere: Auf der Suche nach der Authentizität in den sozialen Medien.
Wie soll ein Mensch beweisen, dass er authentisch ist? Wer jetzt daran denkt, dass dazu Gedanken und Gefühle, Werte und Handeln, innere Überzeugungen und äußeres Verhalten in Einklang sein müssen – hat völlig recht und beweist damit doch zugleich, dass die eigene Sozialisation zurückliegt in einer Zeit ohne den Druck der sozialen Medien.
Der versierte Schönheitschirurg Werner Mang hat etwa in seinem aktuellen Buch auf den „Instagram-Wahnsinn“ hingewiesen. In den vergangen zehn Jahren habe der Bedarf an Operationen deutlich zugenommen, schon Kinder und Jugendliche lassen sich von ihm beraten. Sein Befund: Die sozialen Medien fördern einen „neuen Schönheitswahn.“
Als Rauschgift für die Sucht nach dem schönen Gesicht geht seit kurzem der neue Filter „Bold Glamour“ bei der auch in Deutschland sehr beliebten Plattform Tiktok durch die Decke (vgl. FR7 v. 25.3.). Rund 17 Millionen Porträts wurden damit schon in den Anfangswochen in ein westliches Schönheitsideal verwandelt. Das ist wesentlich billiger als eine Operation, doch fehlt noch jede Untersuchung dazu, wie tief der Absturz ist, wenn ein dauergefiltertes Lächeln erstmals wieder pur im Spiegel der Wahrheit die Mundwinkel nach unten zieht.
Man könnte es auch so zusammenfassen, wie es ein neurowissenschaftliches Team der Universität von North Carolina zu Beginn des Jahres veröffentlicht hat. Die Gruppe untersuchte 169 Jugendliche drei Jahre lang und erforschte, wie sich die sozialen Plattformen Snapchat, Instagram und Facebook auf soziales Verhalten auswirken. „Jugendliche, die laufend soziale Medien nutzen, reagieren empfindlicher auf erwartetes soziales Feedback. Jugendliche ohne soziale Medien werden mit der Zeit unabhängiger von der Einschätzung anderer“, schrieb Mitverfasserin Maria Maza auf Twitter.
Was „ständige Nutzung“ der sozialen Medien bedeutet, beleuchtet eine Studie des Rheingold-Salons, der das in 100 Tiefeninterviews und 3060 Online-Fragebögen mit 14- bis 22-Jährigen am Ende der Pandemie ermittelt hat. Danach gibt es einen engen Zusammenhang zwischen der Nutzungszeit des Smartphones und der Angst, aus der sozialen Bezugsgruppe ausgeschlossen zu werden. Bild posten, Likes zählen, Verhalten verstärken und neues Bild posten – oder altes Bild löschen. Einige der Untersuchten gaben an, dies acht bis neun Stunden am Tag zu machen – auch während der Schulzeit. Die sozialen Medien treiben die Selbstoptimierung ins Extrem.
Keine Bewegung ohne Gegenbewegung. Wer jetzt an Spaziergänge und persönliche Gespräche denkt – hat wieder völlig recht, ist womöglich Anhänger von „Digital Detox“ (Datenentgiftung klänge eleganter, aber natürlich muss auch der Gegenbegriff zum abgelehnten Coolen selbst hip sein) und beweist auf dem Spaziergang erneut, dass er in einer Generation groß geworden ist, in der das Mobiltelefon noch nicht vorhanden war. Heute ist das Smartphone immer an. Einfach immer. Also wirklich immer, außer der Akku ist leer – aber in diesem Moment möchte lieber niemand bei einem jungen Menschen sein.
Nach dieser Logik können Apps also nur mit Apps eingedämmt werden. Und das tat erstmals – natürlich – eine Smartphone-Anwendung für soziale Medien. Snapchat machte den Mechanismus der Selbstzerstörung populär. Wer sich anmeldet, legt bis heute kein Profil an. Jedes an Befreundete verschickte Bild oder Video verschwindet nach einer bestimmten Zeit wieder. Darüber hinaus wird etwa Enkelin oder Neffe informiert, sollten Opa oder Tante versuchen, das süße Bild als Bildschirmfoto zu sichern.
Durch das Flüchtige, das Verschwinden, das Ephemere passiert das wirklich Sensationelle – nämlich nichts. Selbst wenn das Alltägliche inszeniert sein mag und wie ein Feuerwerk das Phänomen des Spektakels in sich trägt – es bleibt doch nur eine Momentaufnahme. Theodor W. Adorno hatte, als er dies in seiner ästhetischen Theorie 1974 niederschrieb, ein Grundbedürfnis des Menschen im Sinn, aber damit zugleich das Entkommen aus der Reiz-Reaktions-Spirale des Internets vorweggenommen. Das Ephemere, das restlose Verschwinden, ist eine Sehnsucht, die nicht nur Zen-Meister am Ende ihres Lebensweges pflegen – es wird zur wichtigsten humanen Fähigkeit in der digitalen Welt.
Schnell haben diesen Mechanismus die Großen kopiert und pervertiert. Facebook und Instagram boten schon kurz nach der Gründung von Snapchat eine neue Funktion an: Stories. Neben dauerhaft verweilenden Inhalten und immer weiter angereicherten Profilen können die angemeldeten Personen dort auch Verschwindendes veröffentlichen. Der Fluch dieses Flüchtigen ist jedoch, dass es keinerlei Authentizität mehr besitzt, wenn Plattformen zugleich die totale Inszenierung nach westlich kolonialisiertem Schönheits-Ideal fördern.
Den bisher letzten Schritt geht deswegen seit wenigen Jahren ein Anti-Netzwerk. Be Real wurde von ehemaligen Mitarbeitern einer Kamerafirma für Fun-Sportarten entwickelt. Es können einmal am Tag zwei Bilder veröffentlicht werden. Diese müssen ungeschönt innerhalb von maximal zwei Minuten von der nach vorne und nach hinten gerichteten Kamera aufgenommen sein. Filter sind ebenso unmöglich wie der Zugriff auf gespeicherte und bearbeitete Aufnahmen. Und natürlich diffundieren die Fotos nach 14 Stunden im Datennirvana.
Fängt also die ephemere Hässlichkeit des Alltags endlich das Authentische digital ein? Kritiker und Kritikerinnen verweisen darauf, dass viele Jugendliche bei Be Real nicht damit umgehen können, dass Aufnahmen nicht nur einen lustigen Gesichtsausdruck zeigen, sondern auch die unaufgeräumte Wohnung, die Position von Minderjährigen verraten oder Fremden Einblicke verschaffen, die zu Missbrauch führen können.
Vielleicht, so steht zu befürchten, muss das Digitale dann doch zurück zum Anfang des Analogen, wo authentisch noch definiert war als Einklang von ... Wenn Sie sich jetzt noch an den Anfang dieses Textes erinnern, sind Sie ohnehin verloren. Zumindest für so manche digitale Vereinnahmung. Den flüchtigen Rest haben Sie ohnehin bald wieder vergessen.