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Direktorin der Tretjakow-Galerie muss gehen – Und eine kopflose Muttergottes

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Von: Stefan Scholl

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Selfira Tregulowa.
Selfira Tregulowa. © Alexander Shcherbak/Imago

Selfira Tregulowa, Direktorin der Tretjakow-Galerie in Moskau, verliert ihren Job offenbar, weil sie dem Publikum zu viel moderne Kunst zugemutet hat.

Die Tretjakow-Galerie stelle Werke aus, „die Anzeichen einer destruktiven Ideologie aufweisen“, heißt es in dem Brief. Da gebe es einen Zyklus zum „Letzten Abendmahl“, dessen 13 Bilder nicht eindeutig klarmachten, wer Judas sei. Und die Skulptur „Pietà“ des Künstlers Alexander Burganow solle offenbar die Gottesmutter ohne Kopf darstellen, „eine teuflische Interpretation“. Der Verfasser des Briefes, Sergei Schadrin, schreibt, er habe das Museum mit einem Gefühl tiefen Pessimismus, der Leere und Unklarheit verlassen. Am Donnerstag wurde bekannt, dass das russische Kulturministerium den an diesem Tag auslaufenden Arbeitsvertrag mit Selfira Tregulowa, der Direktorin der Staatlichen Tretjakow-Galerie, nicht verlängern wird. Und es scheint, als habe auch der fehlende Kopf der „Pietà“ ihr den Job gekostet.

Seit 2015 leitet die Kunstwissenschaftlerin und Kuratorin Moskaus größtes Kunstmuseum, bestehend aus einem Palast, in dem ein Großteil der russischen Kunstklassiker ausgestellt ist, sowie einem zweiten Großbau für moderne Kunst. Sie gilt als international anerkannte Expertin, politisch eher vorsichtig, aber immer mit dem Ehrgeiz, die weltbesten Künstler und Künstlerinnen in ihr Museum zu bringen. Ihre Entlassung stand schon mehr als eine Woche im Raum: Zum einen hatte das Kulturministerium die Tretjakow-Galerie offiziell aufgefordert, „Rechenschaft darüber abzulegen, dass ihre Ausstellungen in Einklang mit den geistlich-moralischen Werten gebracht werden.“ Zum anderen hatte das Ministerium Schadrins Brief publik gemacht.

In der Moskauer Kulturszene wird die sowjetische Praxis wieder lebendig, die Ausschaltung missliebiger Kulturschaffender durch schriftliche Kritik aus dem Volk einzuleiten. Erst vor wenigen Tagen hatte das Moskauer Theater Sowremennik alle Stücke mit Lija Achedschakowa abgesetzt, einem Altstar des russischen und sowjetischen Kinos. „Der Direktor sagte, ich werde aus dem Repertoire genommen, weil das alle möglichen Leute in zornigen Briefen fordern“, erklärte die Schauspielerin, die sich 2022 gegen Wladimir Putins „Kriegsspezialoperation“ in der Ukraine ausgesprochen hatte.

Tregulowa dagegen riskierte keine lauten politischen Äußerungen, die Kunstkritikerin Kira Dolinina bescheinigt ihr sogar „Konformismus.“ So schloss vergangenen März die Tretjakow-Galerie sehr plötzlich die erst sieben Tage vorher eröffnete Ausstellung „Szenenwechsel“ des US-amerikanisch-russischen Künstlers Grischa Bruskin. Dessen Spielzeugarmeen waren wenige Wochen nach Beginn der Kämpfe in der Ukraine durchaus pazifistisch zu interpretieren. Und Bruskins Sozart-Ästhetik kollidierte nach Ansicht von Moskauer Kritikern heftig mit dem neusowjetischen Zeitgeist. Es hieß danach, Tregulowa habe den „Szenenwechsel“ so eilig demontiert, weil das Kulturministerium es verlangte.

Eine Politologin übernimmt

Die Tretjakow-Galerie aber übernimmt jetzt Jelena Pronitschewa, 39, Tochter eines FSB-Generals und gelernte Politologin. Zuletzt leitete sie das Polytechnische Museum Moskaus. Und sie gehört zur Arbeitsgruppe „Kultur“ der „Regulatorischen Guillotine“, einer Behörde, die Kontroll- und Erlaubnisfunktionen im Wirtschaftsleben vervollkommnen soll.

In Moskau wird spekuliert, ob ihre Ernennung zum Signal wird, um moderne, vieldeutige Kunst überhaupt aus dem öffentlichen Raum Russlands zu entfernen. Ex-Direktorin Tregulowa selbst wollte sich dazu am Donnerstag nicht äußern. „Was ich über meine Entlassung denke, von der ich aus den Medien erfahren habe?“, fragte sie einen Reporter der Radioagentur nsn.fm am Telefon. „Nichts. Danke.“

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