Direkte Demokratie: Die Angst vor dem Souverän

Die ehemalige Bundesverfassungsrichterin Gertrude Lübbe-Wolff macht in ihrem Buch „Demophobie“ Mut, mehr direkte Demokratie zu wagen.
Die prominente Autorin Gertrude Lübbe-Wolff geht von einem erstaunlichen Befund aus, von einer politischen Trendumkehr, die sie zu dem sprechenden Titel „Demophobie“ anregt: Die politischen Parteien in Deutschland fürchten sich seit einigen Jahren vor der Instanz, von der doch all ihre Gewalt ausgeht und der sie Rechenschaft schuldet, vor dem Demos, dem Staatsvolk. Ihre Wahl- oder Parteiprogramme sehen nämlich für die Bundesebene keine Volksabstimmungen mehr vor. Dem Volk soll hier also die politische Mitwirkung weiterhin nur in Form von Wahlen, nicht auch von Sachentscheidungen erlaubt sein.
Dass unsere Politiker und Politikerinnen kein Interesse haben, die repräsentative Demokratie um Elemente direkter Demokratie zu erweitern, ist trotz früher anderslautender Ankündigungen zum einen nicht erstaunlich, zum anderen doch. Nicht erstaunlich ist es, weil sie müssten, was niemand gern unternimmt: auf ein Vorrecht verzichten. Denn die Politiker und ihre Parteien müssten, klammert man die Verfassungsgerichtsbarkeit ein, das hier bislang faktisch gegebene Machtmonopol hinsichtlich Sachfragen aufgeben. Andererseits ist es denn doch erstaunlich, weil sie das Machtmonopol lediglich mit denen teilen sollen, in deren Namen und zu deren Gunsten sie ihre Macht ausüben sollten. Das vielbeschworene Ideal der Betroffenen als mündige Bürger:innen schließt nämlich, würde man meinen, deren Recht, aber auch die Pflicht zur inhaltlichen Selbstbestimmung ein, einschließlich dem Recht und der Pflicht, die nicht immer glücklichen Folgen zu tragen.
In der angenehm lesbaren, nach Umfang der Fußnoten und der Literaturliste hochgelehrten, beinahe übergelehrten Studie setzt sich Gertrude Lübbe-Wolff, immerhin eine ehemalige Bundesverfassungsrichterin, in einem ersten, weitaus längsten Hauptteil mit zehn „Vorbehalten gegen direktdemokratische Entscheidungen“ auseinander. Dazu gehören etwa die Ansichten: „Für Sachentscheidungen ist das Volk zu dumm“, „Vor allem in Finanzfragen ist dem Volk nichts zuzutrauen“, „Direkte Demokratie ist unsozial“, „Ja-Nein-Entscheidungen sind kompromisswidrig“ und „Es fehlt an Verantwortung“.
Wie von einer hochkompetenten Rechtsprofessorin zu erwarten, ist der Autorin jede Art von voreiligen Urteilen fremd. Sehr sorgfältig geht sie auf die einschlägigen Phänomene ein, die wie das Brexit-Votum und der Wahlsieg Donald Trumps zur „neuen Angst vor dem Bürger als Entscheider“ führten oder auf ältere Befürchtungen wie die Rückkehr zu den sogenannten Weimarer Verhältnissen oder die Wiedereinführung der Todesstrafe. Auf der Grundlage vieler empirischer Befunde und zahlloser Sachüberlegungen nimmt sie dann zu den Vor- und Nachteilen direkter Demokratie eine umsichtige, sowohl in Teilen als auch insgesamt weithin überzeugende Abwägung der Chancen und Risiken vor.
Nur in Klammern sei mir als Philosophen erlaubt, in der fast uferlos herangezogenen Literatur den gelegentlichen Blick auf die Klassiker meiner Profession zu vermissen. Kants These aus der Schrift „Zum ewigen Frieden“, Demokratien würden, von der Selbstverteidigung abgesehen, höchst ungern Kriege führen, fügt sich meines Erachtens doch gut in ein Plädoyer ein, auch Sachentscheide vom Volk treffen zu lassen.
Zu Recht legt die Autorin auf die nähere Ausgestaltung einer direkten Demokratie Wert. Beispielsweise soll „die Anzahl der Vorlagen das bewältigbare Maß“ nicht übersteigen. Ferner empfiehlt sie, was beim Brexit-Referendum gefehlt habe, im Vorfeld einer Volksabstimmung nach dem Muster des Schweizer „Abstimmungsbüechli“ an alle Haushalte eine Regierungsbroschüre zu verteilen, die sowohl die Argumente der Gegner als auch die der Befürworter vorstellt. Auch helfe es der Wahlbeteiligung, wenn Abstimmungstermine mit Wahlterminen zusammengelegt würden. Vor allem aber dürfen entsprechende Initiativen nicht wie beim Brexit-Referendum „von oben“ erfolgen, „also zum Instrumentenkasten der Regierung“ gehören.
Um stattdessen zu einem Instrument „der Bürger“ zu werden, müssen sie, wofür ich in meiner Studie „Für ein Europa der Bürger!“ plädierte, „von unten“ her kommen. Dann kann geschehen, was unkritische Pauschalbefürworter des Schlagwortes „Mehr Europa!“ befürchten, Frau Lübbe-Wolff hingegen nicht für einen Nachteil halten muss: dass so einschneidende Prozesse wie die Vertiefung der Europäischen Union, auch deren Erweiterung sich stärker an den Willen aller Betroffenen, nicht nur einer gebildeten Elite, sondern des gesamten Volkes binden. Wenn die Prozesse dann langsamer, vermutlich auch behutsamer vonstattengehen, so ist das nicht als Schaden, sondern als demokratischer Gewinn zu verbuchen. Generell liege ein demokratietheoretischer Vorteil der direkten Demokratie in ihrer „Intensivierung sachbezogener öffentlicher Diskussion“. Ein anderes, keineswegs geringes Pro-Argument: „Gegen die Selbststilisierung der Populisten als wahre Vertreter des Volkes (…) würde nichts so wirksam helfen wie die Bereitschaft, den Bürgern selbst auch in Sachfragen, die sie bewegen, eine entscheidende Stimme zu geben.“
Zu den Standardargumenten gegen die direkte Demokratie gehört die Behauptung, sie wirke unsozial, wofür es laut Lübbe-Wolff „nicht die geringste Bestätigung“ gibt. Dagegen hat sie, deutlich sichtbar in der Schweiz, den Vorteil, eine Kultur des Kompromisses und der Kollegialität zu fördern.
Die Autorin macht auf zwei grundlegende Fehler aufmerksam: Beim Idealvergleichsfehler wird nicht die reale, sondern eine kultivierte, ethisch hochstehende repräsentative Demokratie mit der realen direkten Demokratie verglichen, so dass Letztere nur verlieren kann. Beim Pauschalisierungsfehler hingegen wird ein Argument, das auf einen Teil der direkten Demokratie, die Versammlungsdemokratie, in der über Volksentscheide in öffentlicher Versammlung entschieden wird, zutrifft, „unbesehen auf die direkte Demokratie als solche“ übertragen.
Auf die gründliche Erörterung der Vorbehalte folgen als weitaus kürzerer zweiter Hauptteil „Vernachlässigte Argumente für direktdemokratisches Entscheiden“. Die Autorin weist zu Recht darauf hin, dass sie bei der Diskussion der Vorbehalte gegen die direkte Demokratie wichtige Argumente zu deren Gunsten schon zur Sprache gebracht habe. Für ein Plädoyer gegen die Demophobie wäre es aber besser gewesen, diese Argumente nicht nur schlicht aufzulisten. Die direktere Selbstbestimmtheit, die stärkere Orientierung an Wählerinteressen und das verstärkte Bemühen um sachliche Überzeugungsarbeit, das Zurückdrängen parteipolitischer Eigeninteressen und die erhöhte Zufriedenheit mit dem politischen System sind doch so wichtige Gründe, die direkte Demokratie nicht länger zu fürchten, sondern in sie große Hoffnungen zu setzen, dass sie eine ausführlichere Darstellung verdient hätten.
Denn das schließlich gezogene Fazit sollte von den Parteien, von den politischen Medien und von allen am Wohl unserer Demokratie Interessierten ernst genommen werden (hier etwas gestrafft): „Direktdemokratische Institutionen sind kein Allheilmittel. Sie begünstigen aber eine stärker an den Interessen der Bürger orientierte Politik, eine Steigerung des Niveaus politischer Kommunikation, eine Zunahme von Bürgersinn und Bürgerkompetenz und größeres Vertrauen in die Institutionen und Akteure der repräsentativdemokratischen Politik.“
Otfried Höffe ist Prof. em. für Philosophie und Leiter der Forschungsstelle für Politische Philosophie an der Universität Tübingen und Professor für Praktische Philosophie an der Tsinghua-Universität in Peking.