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Der Dichter Dieter Leisegang: Am besten im Frühling sterben

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Von: Ulrich Rüdenauer

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Hochschule für Gestaltung in Offenbach am Main
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An der Werkkunstschule für Gestaltung in Offenbach lehrt Dieter Leisegang Ästhetik. © Imago

Sich friedlich im Bett liegend von der Welt zu verabschieden: Das ist nicht jedem vergönnt.

In seinem Gedicht „Auch ein Wunsch“ schrieb Dieter Leisegang die geradezu prophetischen Zeilen: „Am besten im Frühling sterben / Wenn alles / Erwachen will: // Nur ja nicht im Herbst / Mit den Müden“. Im Frühling vor 50 Jahren nahm sich der Dichter in Offenbach am Main das Leben, mit einem gezielten Schuss in den Kopf – eine Todesart, die er im Gedicht „It’s easy to remember“ seinem Kollegen Wladimir Majakowski zudachte, obwohl der sich ins Herz geschossen hatte: „Wladimir hat recht / Nur keine Erinnerungen / Schießt sich den ganzen Klimbim / Aus dem Hirn / Einig am Ende / Mit so vielen / Sogar mit Serjoscha“.

Dieter Leisegang konnte gut mit Waffen umgehen. Sein Bruder Joachim Leisegang, der eine enge Beziehung zu seinem Bruder hatte, erzählte einmal im Interview von dessen Talent: „Wie kleine Jungs, die gerne auf den Jahrmarkt gehen, musste der Dieter mit seinem Sohn auf den Jahrmarkt gehen. Da gab es Schießbuden, und es existiert noch ein hochinteressantes Foto: Dieter nimmt das Gewehr, zielt und trifft wirklich ins Schwarze, was sehr schwer ist mit diesen Jahrmarktgewehren. Und wissen Sie, was dann passierte? Da wurde eine Kamera ausgelöst. Und Sie sehen den Dieter mit dem Gewehr im Anschlag und unten den kleinen Jungen, der erstaunt guckt. Ein wunderschönes Foto. Das war kurz vor seinem eigenen Ende.

Er war ja ein toller Schütze. Auch wie er sich getötet hat, das sei geradezu brillant gewesen, sagte mir die Pathologin: Ein toller Schuss, mal abgesehen davon, wie traurig die Sache ist. Er hat genau die Schädelbasis getroffen, und dann ging das sehr schnell. Da floss etwas Blut aus den Ohren, und er sah eigentlich aus wie schlafend. Die Brille war etwas verrückt, und er saß so da, die Pistole hatte er noch in der Hand, und das ist nicht einfach, machen Sie mal so einen Schuss! Aber das konnte er. Dieter war in vielen Dingen schon sehr ungewöhnlich.“

Mit einer Geige gegen die Verstärkerwand

Dieter Leisegang, geboren am 25. November 1942 in Wiesbaden, gestorben am 21. März 1973, wurde gerade einmal 30, schrieb viel in diesen wenigen Jahren, vor allem Lyrik, und er schrieb gut. Er schrieb anders. Es ist schwer, ihn als Zeitgenossen der Literatur um 1968 zu begreifen. Es ist so, als würde da einer mit einer Geige gegen die Verstärkerwand einer Rockband anspielen wollen. Leisegang war ein Dichter ohne Resonanzraum, und er ist es bis heute geblieben. In Antiquariaten kann man seine Bücher manchmal noch finden, aber nicht mehr im Verzeichnis lieferbarer Bücher. Man kann ihn ausgraben, ein paar der wenigen Spuren verfolgen, die er hinterlassen hat. Aber wiederentdecken? Überhaupt entdecken?

Schon in den sechziger und siebziger Jahren hörte ja niemand so richtig hin. Als der Schriftsteller Reiner Kunze ihn das erste Mal begeistert las, kurz nach Dieter Leisegangs Freitod, rügte er von Ostdeutschland herüber die westdeutsche Fachwelt: „Das ist ja Goldstaub. Ich lese sie mit einer Spannung, wie einen großen Roman. Ich frage mich nur, wo war (ist) Eure anspruchsvolle Literaturkritik, als Leisegang auftauchte? Oder war die Umwelt so, daß sie nicht nur Leisegang selbst, sondern auch seine Fürsprecher nicht hören wollte (konnte)?“

Lauter letzte Worte

Seine Bücher erschienen in kleinen Verlagen. Die Bände hießen „Unordentliche Gegend“ oder „Aus privaten Gründen“. Und auch heute ist es schwer, jemanden zu finden, der über ihn sprechen kann. Immerhin einen gewichtigen Fürsprecher gab und gibt es: Der Literaturwissenschaftler Karl Corino brachte bei Suhrkamp 1980 den einzigen Sammelband heraus und widmete ihm Beiträge im Radio. In den siebziger Jahren war er durch Leisegangs Schwägerin auf erste Gedichte aufmerksam geworden. Corino erkennt bei Leisegang ein zentrales Thema, wenn man es zuspitzen wollte: überhaupt nur ein Thema: „Das ist der frühe, selbstgewählte Tod“, sagt Corino im Gespräch. „Es gibt Sätze von ihm, die einem eine Gänsehaut über den Rücken jagen. Wenn er mal schreibt: ‚Jeder muss wissen, wohin er gehört, ich gehöre eigentlich unter die Erde.‘ Oder ‚Meine Gedichte sind eigentlich lauter letzte Worte, von daher besteht ein Zwang, mich in Kürze aufzulösen‘ – dann ist damit das Generalthema seiner Lyrik formuliert.“ Corino nennt dieses Werk unauffällig, „fast so unauffällig, wie Leisegang es als Autor und Person war“. „Aufgehoben zu sein“, heißt es in einem von Leisegangs Gedichten, „Ohne Mitte, ichlos, vorbei / Nur so dahinfließen / Ein Ding unter Dingen.“ Reduziert und ernsthaft ist das, als würden die Gedichtzeilen sich während des Lesens aufbäumen und zugleich auflösen.

Aus der Zeit gefallen

Dieser Dichter, der in Philosophie promovierte, an Werbefachschulen dozierte, Filme produzierte, scheint aus der Zeit gefallen. Aus der eigenen, in der das Schrille den Ton angibt. Und aus der heutigen, wo man die Scherben seines kurzen Lebens mühsam ausgraben muss, fünfzig Jahre nach dem Freitod. Dieter Leisegang wächst mit elf Geschwistern in Wiesbaden auf. In der Familie bilden sich eng verbandelte Gruppen heraus, der Vater aber ist für alle eine prägende, großzügige, künstlerisch begabte Gestalt. „Über Seelenzustände, Intimes schwieg / Er sich aus, seine / Kunst blieb leidenschaftslos // Unöffentlich, Spiel nebenbei. / Er war / Keiner, der / Mitreden wollte // Ein Mensch, der von ferne den Hut hob / Grüßte – und / Lächelnd vorbeiging“, heißt es in dem Gedicht „Nachwort zu meinem Vater“. Die amerikanischen Besatzer spielen für die Leisegangs eine große Rolle, die USA werden zu einem Sehnsuchtsort – einige der Geschwister schaffen es ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten, für Dieter und Joachim bleibt der Westen eine Traumlandschaft. Dieter Leisegang beginnt früh, Gedichte zu schreiben, unter dem Einfluss von ersten Lektüren, von Erich Kästner und Joachim Ringelnatz. Schnell kommen die Franzosen hinzu, aber auch Pound, Rilke und Benn. Er tastet noch ab, was möglich ist. Das Pathos ist so groß wie der existentielle Ernst, dazu kommen eine Todesnote und expressive Kühnheit. Aber nur Wochen später ist sein Gespür für das, was geht, was möglich ist in einem Text, schon erkennbar. In seinem Gedicht „Dädalus. Dädalus“ über den Vater des abstürzenden Ikarus setzt er das Thema, das seine Lyrik die nächsten, letzten 14 Jahre durchzieht: Es ist der Suizid. „Was da alles zu sagen wäre / Stell sich das mal einer vor: // Wie er im Sommer / einen gefallenen Vogel begräbt // Und – einige Jahre später / Mit dem unschuldigsten Gesicht von der Welt / Im Schauhaus liegt“.

Dieter Leisegang, der drittjüngste Sohn, schreibt nicht nur. Er malt auch, wie der Vater und der Bruder Joachim. Kleine Miniaturen, wenig größer als eine Streichholzschachtel. Im Marbacher Literaturarchiv sind sie aufbewahrt, in grünen Kartons, die kaum jemand sichtet, neben Briefen, Manuskripten und anderen Lebensspuren. Spuren zu Leben und Werk finden sich auch in den kleinen Bildern, die Leisegang zu manchen seiner Gedichte angefertigt hat, beispielsweise zu „Wallenstein 1947“. Im Vordergrund stehen drei Kinder. Ihre Körper werfen Schatten zwischen Häuser mit filigranen Fenstern. An einem Baum hängen, mit feinem Pinselstrich gezeichnet, Schilder – Wegmarkierungen; die Militärzeichen der Amerikaner.

Dieter Leisegang hat das nach einer Fotografie gezeichnet.

Eine ewige Zwiesprache

Vieles im Werk von Dieter Leisegang steht im Bezug zum Vater und auch zum Bruder – eine ewige Zwiesprache. Was der Vater vorlebt, hat Gewicht. Was er sagt, wird aufgesogen. Eine Abwehr scheint es auch später nicht zu geben, in einem Alter, in dem das normalerweise geschieht. Diese Nähe zum Vater, spürbar in vielen Gedichten Dieter Leisegangs, ist etwas Besonderes. Hier schreibt nicht einer gegen etwas an, wie in dieser Zeit üblich. „Da fand eine Spiegelung statt“, meinte der Bruder Joachim. Immer wieder kehrt er zum Thema Tod zurück, das er umkreist und beschwört. Und der Schüler, später der Student findet dabei einen eigenen, allerdings von der Tradition genährten Ton, wie Karl Corino erklärt: „Er war kein sprachlicher Neuerer. Seine Gedichte sind sprachlich oft sehr schlicht. Fast aphoristisch in der Zuspitzung. Alles expressionistische Neuerertum mit Neologismen, mit surrealistischen Metaphern, das alles war nicht sein Ding, um es mal flapsig zu sagen.“ Es entstehen epigrammatische Kurzgedichte, in denen das Gefühl in wenigen Zeilen verdichtet ist. Zeitgenössische Lyrik scheint ihn nicht zu interessieren. Eher die Klassiker, deren Reichtum immens ist. Sein Lesehunger ist kaum zu stillen.

Den Frieden innen errichtet

Auch Wiesbaden wird irgendwann zu klein. Dieter Leisegang erobert sich nicht nur im Schreiben eigene Räume, sein Denken sucht nach neuen Herausforderungen. Nach dem Abitur 1963 studiert er in Frankfurt Philosophie, Germanistik und Geschichte – unter anderem bei Theodor W. Adorno und Julius Schaaf. Er macht alles schnell, als hätte er nur wenig Zeit, die Promotion geht ihm leicht von der Hand. 1968 dann die Studentenrevolte.

Frankfurt ist stark politisiert. Professoren werden vom Rednerpult gedrängt. Leisegang hält sich zurück und bedeckt. In den Chor seiner Zeitgenossen will er nicht recht einstimmen. Der ist ihm zu laut, zu schrill und oft zu unreflektiert. Oder schlicht zu weit entfernt von eigenen Erfahrungen. An Leisegang prallt die aufgewühlte Stimmung ab, vielleicht gefällt er sich in der Pose des Abgeklärten. Auch durch seine Kleidung – Anzug statt Jeans – betont er sein Anderssein: Der Gestus der Bürgerlichkeit ist auch ein Schutz davor, in der Masse auf- oder untergehen zu müssen. Diese Haltung hat vermutlich weniger mit politischer Gesinnung als vielmehr mit einer tiefen Scheu vor dem wahrgenommenen Vergemeinschaftungszwang zu tun. Der existentielle Kampf spielt sich eben doch im Innern ab, nicht auf der Straße.

Leisegang glaubt nicht daran, die Welt retten zu können, geschweige denn sich selbst. „Coca-Cola“ heißt ein seinem Bruder Joachim gewidmetes Gedicht, das auf Innerlichkeit besteht: „Wir beide aber, dessen eingedenk / haben uns ganz in uns selbst entwickelt: kein / Äußeres läßt uns noch aufhorchen. Gerade weil / heute alles nach außen geht, das Private verfemt ist / als Chinoiserie, und die Lösung unsrer Probleme / abhängen soll nicht von ‚Kunst und nochmals Kunst‘ / sondern von Politik, Haltung, Gewissen, / haben wir unseren Frieden innen errichtet“.

Philosophie der Beziehung

Sinnliche Weltwahrnehmung auf der einen Seite, auf der anderen Seite: Abstraktion. 1969 promoviert Dieter Leisegang in Philosophie über „Die drei Potentenzen der Relation“. Ein Thema aus der Beziehungstheorie, die sein Doktorvater Julius Schaaf mitbegründete.

Leisegang entwirft eine eigene „Philosophie der Beziehung“. Man lobt das hohe Reflexionsniveau. Da ist er 27 Jahre alt und unterrichtet bereits. Nicht an der Universität, an der Werkkunstschule für Gestaltung in Offenbach lehrt Dieter Leisegang Ästhetik.

Daneben gibt er die Frankfurter Lyrikreihe „ars poetica“ heraus und die Kulturzeitschrift „eidos“, übersetzt unter anderen W. H. Auden und Hart Crane. Er arbeitet für den Hessischen Rundfunk und schreibt für eine Designzeitschrift. Ein Lehrauftrag an der Universität Frankfurt, Geld verdienen bei der Firma Olivetti, eine Gastdozentur in Johannesburg – das Arbeitsleben zwischen Werbung und Geisteswissenschaft läuft gut an. Einem Freund, der krank wird und den Abgabetermin seiner Dissertation nicht einhalten kann, diktiert er die Doktorarbeit in drei Tagen. Vielleicht sind das Legenden über einen Hochbegabten. Vielleicht ist da ein wahrer Kern.

Mit dem Verleger und Typographen Horst Heiderhoff gibt Dieter Leisegang die Reihe „Das Neueste Gedicht“ heraus. Das Interesse für die eher randständigen Stimmen verbindet sie, stark in ihren Texten, verhalten in der Öffentlichkeit. Wie Dieter Leiseggang selbst. Und es gibt einen Bruch in seinem Leben. 1963, im Jahr seines Abiturs und des ersten Semesters an der Universität, infiziert sich der starke Raucher mit Tuberkulose. 1966, mitten im Studium, wird er operiert. Er muss auf den Zauberberg, nach Davos, in die Lungenheilanstalt. Dort schreibt er eine Erzählung, die unveröffentlicht bleibt, sie trägt den Titel „Blut“: „Ich liege hier und habe eher ein Gefühl, als habe mich alle Welt verlassen. Meine Frau versichert das Gegenteil – aber 600 Kilometer, ein anderes Land. Mein Gott das ist tagtäglich unüberbrückbar. Der nebenan ist zwei Jahre hier. 2 Jahre. Er sagte: Die Zeit geht so schnell vorüber. Nun ja, er ist sechzig, da werden die Jahre schon kürzer.“

Über die Serie

Wir blicken in unserer Serie auf Autorinnen und Autoren, die nicht im Bett starben, meist auch nicht mit dem Stift in der Hand am Schreibtisch, sondern auf ungewöhnliche, verstörende Weise. Und wir fragen uns: Sagt uns der Tod etwas über ihr Leben und Werk? Bislang veröffentlicht:

1) Ödön von Horváth und sein früher Tod in Paris: Dass schon die Bäume exilierte Poeten erschlagen
2) Johann Joachim Winckelmann: Meuchelmord in Triest
3) Robert Walsers lautloses Verschwinden: „Eine Schneeflocke flog mir auf den Mund“
4) Wolfgang Herrndorf: Chronik eines angekündigten Freitodes
5) Karoline von Günderrode: Überall Liebe
6) Rolf Dieter Brinkmann: Einen Tag älter, tiefer und tot
7) Dagny Juel: Eine müde Lässigkeit der Bewegung
8) Georg Heym: Der dämonischste unter den zeitgenössischen Dichtern
9) Boris Sawinkow: Russlands apokalyptischer Reiter
10) Pier Paolo Pasolini: Eine Kraft der Vergangenheit

Das verlorene Ich

Vielleicht will Dieter Leisegang nicht warten, bis die Jahre kürzer werden, sich das Gefühl für die Zeit verabschiedet und sich die Gedanken, mit der die Zeit ausgefüllt werden, nicht mehr genau spüren lassen. Leisegang sollte in Davos mindestens ein halbes Jahr ausharren, flieht jedoch bereits nach drei Wochen. Lieber unterzieht er sich einer gefährlichen Operation. Die Schmerzen verschwinden nie ganz.

Ohne Zigarette geht es weiterhin nicht. Was ist das für eine Sucht nach Ausdruck, nach Tod? Je tiefer man eindringt in die Biographie, die sich in Dieter Leisegangs Werk spiegelt, desto deutlicher zeigen sich Risse. Diese dreißig Jahre Leben sind in keine Ordnung zu bringen.

Immer wieder stößt man bei der Spurensuche an Grenzen, auf Rätsel. „Aber der Dieter wusste immer: Länger als 30 lebt er nicht. Das sagte er so. Er wird nicht älter als 30. Das hat er schon mit 16 gesagt. Wir haben ja über die merkwürdigsten Dinge gesprochen“, erinnerte sich Joachim Leisegang.

Zur philosophischen Überzeugung Dieter Leisegangs, dass das Ich verloren ist, tritt zunehmend auch eine greifbare materielle Not. Dieter Leisegang heiratet und hat einen Sohn. Er muss die Familie versorgen. Er muss Geld verdienen,. Das wirklich Erstaunliche ist, dass auch die Arbeit, das Geldverdienen, nichts Nebensächliches hat. Jede Tätigkeit, die Dieter Leisegang ausführt, stößt das innere Zwiegespräch an. Aber er provoziert eben nicht. Er bezieht nur in Ruhe Stellung und zieht still die Konsequenz. Als gäbe es zur Abwehr des Untragbaren keine gemäßigten Alternativen.

Dass Autoren sich schwer tun, ihre eigene Werbetrommel zu rühren, ist nicht ungewöhnlich. Bei Leisegang aber ist es mehr. Fast eine Verweigerung, sich gemein zu machen mit den Dichtern, die ihre Waren auf dem Markt feilbieten. Man könnte das uneitel nennen; vielleicht ist es aber auch eine höhere Form von Eitelkeit: eine Art von Snobismus. Oder ein notgedrungener Rückzug, weil Leisegang klar ist, dass alle Deklamation, alle Agitation ins Leere laufen würde. Dass Literatur nur etwas leise und in kleinen Schritten verändern kann, wenn überhaupt.

Wiederholung braucht es nicht

Seine letzten Gedichte erschienen posthum. Sie klingen nach Abschied, kein Abschied mehr auf Raten, sondern ein zügiges Verschwinden. Die Krankheit zum Tode war das Leben selbst, in der Tuberkulose fand sie ihren Ausdruck. Auch die Lyrik konnte ihn nicht mehr halten. „In der Dichtung, bin ich überzeugt, hat Dieter alles gesagt, was wichtig war“, so Joachim Leisegang. „Wiederholung, war er überzeugt, braucht man nicht.“

1972 starb der Vater, ein Ereignis, das den Entschluss, dem eigenen Leben ein Ende zu setzen, vielleicht beschleunigt hat. Das „Motiv der Selbstaufhebung im Irgendwie, Irgendwo, Irgendwann“, so hat es Leisegang einmal über sich geschrieben, findet sich in vielen seiner Gedichte, manchmal nur in Spurenelementen. Wie ein Gift, das langsam zu wirken beginnt, bis es die Konzentration erreicht, die tödlich ist. „Er war sich der Unrettbarkeit des Ichs nicht nur im philosophischen, sondern auch im physischen Sinne bewusst“, sagt Karl Corino. In einem seiner schönsten Gedichte schreibt Leisegang: „Mir (ohne Bitterkeit, freilich) eingestehn, daß das meiste auch / Ohne mich auskommt / Dann werde ich, abschließend gleichsam / Einen letzten Blick auf die vollgeschriebenen Bögen werfen // Mit dem unabweisbaren Gefühl, etwas getan zu haben / Etwas Gutes, Nützliches / Und, wie immer, die Fragen verdrängen / ‚Warum?‘ und ‚Für wen?‘“ (Ulrich Rüdenauer)

Literatur

Dieter Leisegang: Unordentliche Gegend. Aphorismen, Gedichte, Übersetzungen 1960–1970. Acht Zeichnungen von Jolei. Heiderhoff. Frankfurt 1971

Dieter Leisegang: Dimension und Totalität. Entwurf einer Philosophie der Beziehung. Heiderhoff. Frankfurt 1972.

Dieter Leisegang: Aus privaten Gründen. Gedichte und Aphorismen. Heiderhoff. Frankfurt 1973.

Dieter Leisegang: Lauter letzte Worte. Gedichte und Miniaturen. Hg. u. Nachwort Karl Corino. Suhrkamp. Frankfurt 1980.

Das Interview mit Joachim Leisegang („Jolei“) wurde 2012 zusammen mit Anja Hirsch geführt.

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