„Die Wahrheit, sie ist hier, in diesem Raum“

Im Frankfurter Kunstverein präsentiert das Recherchekollektiv Forensic Architecture Untersuchungsergebnisse, die aufwühlen.
Hinterher ist man fassungslos. Und wütend. Ohnmächtig. Traurig. Man fragt sich: Wie kann das alles sein? Obwohl man ja bereits wusste, dass so etwas sein kann. Man hatte es ja immer wieder gelesen, im Fernsehen gesehen, gehört. Überall auf der Welt werden Mordfälle unzureichend aufgeklärt, auch bei uns. Über die Gründe kann man nur spekulieren.
Die Gründe für die jeweiligen Morde, um die es in der Ausstellung „Three Doors“ im Frankfurter Kunstverein geht, liegen auf der Hand: Rassismus, Ausländerfeindlichkeit, Wahn. Es geht um den Terroranschlag, der am 19. Februar 2020 in Hanau verübt wurde, und bei dem neun Menschen zu Tode kamen. Und es geht um den Tod von Oury Jalloh, der 2005 an eine Matratze gefesselt in einer Polizeizelle in Dessau verbrannte.
Es geht darum, dass diese Fälle nicht anständig ermittelt und aufgeklärt, dass womöglich Ermittlungsergebnisse vertuscht wurden. Es geht darum, wie mit den Überlebenden und Hinterbliebenen umgegangen wurde. Was sie mit Behörden erleben mussten. Vor allem geht es darum, was uns als Gesellschaft wichtig ist. In was für einem Land, in was für einer Welt wir leben wollen. Was uns Gerechtigkeit, Menschlichkeit bedeuten.
Die Ausstellung ist womöglich keine Kunstausstellung. Ästhetik ist allenfalls zur Verdeutlichung von Fakten interessant. Wenn man davon ausgeht, dass es bei Kunst auch um Menschlichkeit und ein lebenswertes Leben geht, um soziale Aspekte und Politik, um Gesellschaftsentwürfe, dann hat diese Ausstellung wiederum sehr viel mit Kunst zu tun.
Für diese Schau haben viele Menschen zusammengearbeitet. Die zentralen Akteure sind Künstlerinnen und Künstler, Architekten und Architektinnen des unabhängigen Londoner Recherchekollektivs Forensic Architecture und deren Schwesteragentur Forensis Berlin. Ein Team, das sich mit der Aufklärung von ungeklärten Fällen staatlicher Gewalt bereits einen Namen gemacht hat, das seine Ergebnisse nicht nur regelmäßig vor Gericht, sondern auch in Ausstellungshäusern zeigt.
Die Recherchemethoden der 2011 von dem britisch-israelischen Architekten Eyal Weizman gegründeten Gruppe reichen von der Nachbildung von Räumen, der Auswertung von Handyvideos, Bildern aus den sozialen Netzen und Augenzeugenberichten bis zur sekundengenauen digitalen Rekonstruktion von Tatvorgängen. Das können Bombenanschläge im Gazastreifen sein, ein sinkendes Flüchtlingsboot vor der griechischen Küste, ein Foltergefängnis in Syrien oder die NSU-Morde in Kassel. „Hier sind wir also wieder in Hessen und stehen vor weiteren rassistischen Morden“, erklärt Weizman bei der Pressekonferenz und ergänzt, dass der Hanauer Fall eine der emotionalsten Untersuchungen gewesen sei, die sie jemals durchgeführt hätten. Was womöglich an den zahlreichen Angehörigen liegt, die seit mittlerweile zwei Jahren um Gerechtigkeit und Aufklärung kämpfen.
Es geht den Akteuren und Akteurinnen ja nicht nur darum, was die Wahrheit ist. Genauso wichtig ist ihnen, wie und von wem sie produziert wird. Wessen Stimme gehört und wessen Stimmen nicht gehört werden. Hören wir den Menschen zu, die staatliche Gewalt hautnah erleben?
Im Kunstverein präsentiert das Kollektiv jetzt eine komplexe Zeitschiene, die die Ereignisse in Hanau sekundengenau festhält, sowie einen Film, der ein Experiment dokumentiert, für das der Schall zweier Schüsse untersucht wurde, die der Täter zur Ermordung seiner Mutter abgefeuert hat, bevor er sich selbst erschoss.
Zentral ist dies, weil die Polizei, die sich nach eigenen Angaben zur Tatzeit vor dem Haus befand, diese Schüsse angeblich nicht gehört hatte. Kaum möglich, wie das Experiment demonstriert. Doch das ist nur einer von zahlreichen Widersprüchen, die zeigen, dass der Einsatz chaotisch ablief, dass überdies gelogen wurde (siehe auch FR vom Donnerstag sowie die Seiten 6 und F2 in der heutigen Ausgabe).
Dass auch im Umgang mit den Opferfamilien kaum etwas richtig lief, erzählt bei der Pressekonferenz stellvertretend Niculescu Paun, der Vater von Vili-Viorel Paun, der bei dem Anschlag in seinem Auto erschossen wurde, weil er den Täter verfolgt hatte. Und – das ist besonders tragisch – weil seine telefonischen Notrufe mehrmals ins Leere liefen.
Den Eltern des mutigen jungen Mannes wurde tagelang der Verbleib des Sohnes verschwiegen. Was genau geschehen ist, wie ihr Sohn zu Tode kam, fanden sie nur durch eigene Recherchen heraus. Besonders fassungslos macht ein Detail. Nachdem man Vili obduziert hatte, stellte man die Todesurkunde auf den Namen und mit dem Geburtsdatum des Vaters aus. Dass der Tote – der übrigens seine Papiere bei sich trug – nicht Mitte vierzig, sondern Anfang zwanzig war, hatte man bei der Autopsie offenbar nicht bemerkt. „Ich war mehr als vier Tage lang offiziell tot“, sagt der Vater. „Wo sind die Profis?“
Dass die Augenzeugen und Angehörigen bei den ursprünglichen Ermittlungen kaum gehört wurden, dass ihre Kenntnisse, ihr Schmerz, ihre Wut bei der Aufklärung offenbar keine Rolle spielten, dass man sich bis heute nicht entschuldigt hat, es ist schwer zu verdauen. „Der Staatsanwalt“, so Niculesu Paun, „soll hierher kommen. Er soll sich die Beweise ansehen. Die Wahrheit ist in diesem Raum.“
Zumindest im Frankfurter Kunstverein finden er und zahlreiche weitere Angehörige jetzt Gehör. In einem Raum dokumentiert die „Initiative 19. Februar Hanau“, deren Recherchen ebenfalls berücksichtigt wurden, die Aussagen der Angehörigen und Überlebenden vor dem Untersuchungsausschuss des Hessischen Landtages, der überhaupt nur durch ihre beharrlichen Forderungen zustande kam.
Es sind Aussagen, die aufwühlen, und es ist gut, dass sie auf diese Weise eine breite Öffentlichkeit finden. Gut für die, die da sprechen. Gut für uns alle. Denn es geht auch darum, nicht zu vergessen, nicht zu verschweigen, auch nicht die Namen der Opfer: Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtovic, Vili-Viorel Paun, Fatih Saraçoglu, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov.
Im Obergeschoss des Kunstvereins steht ein weiteres Indiz in einem ungeklärten Todesfall: das Architekturmodell jener Zelle, in der vor 17 Jahren der Asylsuchende Oury Jalloh aus Sierra Leone verbrannte. An den Wänden und Türen sieht man die Rauchspuren, sie stammen von Aufnahmen der Überwachungskameras. Die Untersuchung dieser Spuren erfolgte in Zusammenarbeit mit der „Initiative in Gedenken an Oury Jalloh“, und das was man sehen kann, wirkt so eindeutig, dass – so scheint es einem zumindest als Ausstellungsbesucherin – keine Fragen offenbleiben. Oder andersherum: sehr viele Fragen offenbleiben, nur nicht die eine: Wer ist Schuld an diesem Tod? Oury Jalloh war es nicht.
„Three Doors“ heißt die Ausstellung, drei Türen stehen im Zentrum der Schau: Ein verschlossener Notausgang in einer Bar in Kesselstadt, die Haustür des Täters in Hanau-Kesselstadt, die von der Polizei nicht gesichert wurde, die Zellentür in Dessau, die ganz offensichtlich zum Brandzeitpunkt nicht verschlossen war. Man kann diese Türen als Metaphern verstehen, aber dann wird es pathetisch. Die Ausstellung, die formal sehr nüchtern wirkt, braucht kein Pathos, um zu wirken. Das, was zu sehen ist, wirkt beklemmend. Es zeigt, dass in Deutschland erschreckend viel falsch läuft. Man hatte es ja gewusst. Es so deutlich vor Augen geführt zu bekommen, ist trotzdem hart.
Frankfurter Kunstverein: bis 11. September. www.fkv.de