Die Stunde der Streitkultur

An den Grenzen der entspannten Weisheit: Über den Umgang mit unterschiedlichen Sichtweisen.
Wir leben in einer kulturellen Umbruchszeit. In rasanter Geschwindigkeit zerfällt, was bisher gewiss schien. Überkommene Wertorientierungen, Geschlechterrollen und Identitäten werden in Frage gestellt, neue Identitäten kämpfen um ihre Anerkennung. Wer kann mit welchem Recht noch beanspruchen, zu wissen, was als wahr, richtig, gut, fortschrittlich, nachhaltig gelten kann? Welche Sprech- und Verhaltensformen setzen sich durch? Wie viel politisch Unkorrektes ist noch erlaubt?
Angesichts der Zerrissenheit der Orientierungen bietet sich eine scheinbar humane Einstellung an: Man sagt, der fruchtlose Streit der Meinungen beruhe darauf, dass jeder seine je eigene Sicht verabsolutiert und für wahr, die der Anderen aber für falsch hält. Doch es gebe keine „wahre“ (und entsprechend keine „falsche“) Sicht auf die Welt, nur unterschiedliche Sichtweisen.
Und man rät: Klärt bei euren Auseinandersetzungen über Richtig und Falsch in Beziehungen, Politik oder Wirtschaft erst einmal, welche Ziele und Mittel in Rede stehen. Hört einander zu, fragt nach, was das Gegenüber gemeint hat, wägt ab, was die jeweils triftigeren Gründe sind. Zweifellos sind das vernünftige Ratschläge, auch wenn sie angesichts der massiven „Logik“ des Streitens, die sich im Privaten, mehr noch in öffentlichen Reden wie Parlamentsdebatten oder Interviews zeigt, zu kurz gegriffen erscheinen.
Die These, es gebe keine „Wahr“-Nehmung, nur diverse Interpretationen, wurde philosophisch prominent schon von Friedrich Nietzsche in einer Notiz aus den 1880er Jahren vertreten: „Tatsachen gibt es nicht, nur Interpretationen.“ Nietzsches Begründung dafür lautete: „Unsere Bedürfnisse sind es, die die Welt auslegen, unsere Triebe und deren Für und Wider.“ Heute beruft sich dieser „Perspektivismus“ gerne auf neurowissenschaftliche Erkenntnisse, die erklären sollen, warum unterschiedliche Menschen die Welt unterschiedlich wahrnehmen.
Als Beispiel wird gelegentlich die neurologisch bedingte Farbkonstanz angeführt. Demnach „rechnen“ unsere Gehirne bestimmte Farbnuancen, die bei unterschiedlichen Lichtverhältnissen erscheinen, automatisch gleichsam heraus, mit dem Effekt, dass unser Bewusstsein den Gegenständen unabhängig von den sich ändernden Lichtverhältnissen eine einheitliche Farbe zuschreibt – aber auf individuell unterschiedliche Weise. Die Frage nach der „richtigen“ Farbwahrnehmung erscheint unbeantwortbar. (Unter Stichworten wie „Kleid blau-schwarz oder weiß-gold?“ kann man einen entsprechenden Wahrnehmungsstreit googeln.)
Andere, sozialpsychologische Erkenntnisse verweisen auf einen gegenteiligen Effekt, nämlich dass wir dazu neigen, unsere subjektiven Wahrnehmungen im Sinne eines sozialen Konformismus zu zensieren und einer (angenommenen oder tatsächlichen) Mehrheitsmeinung anzupassen. Wegweisend dafür waren schon in den 1950er Jahren Experimente Solomon Aschs, die zeigten, wie sich unter sozialem Druck die Wahrnehmung von Versuchspersonen – sie sollten unterschiedlich lange Linien vergleichen – in eine offensichtlich falsche Richtung veränderte. Damit inspirierte er auch Stanley Milgram, der in den 1970er Jahren mit seinen berühmten Experimenten mit (fingierten) Elektroschocks eine erschreckende Bereitschaft der Mehrzahl von Probanden zeigte, anderen gehorsam Schmerzen zuzufügen.
Die einander entgegengesetzten Tendenzen zu Individualismus oder Konformismus bei der Wahrnehmung von „Tatsachen“ haben eine gemeinsame Wurzel in den von Nietzsche genannten Bedürfnissen und Trieben. Diese Begründung hat viel für sich, und doch stellt sie, nicht anders als die neurologische oder die sozialpsychologische Erklärung, nur eine Teilwahrheit dar. Das erkennt man daran, dass die Behauptung, es gebe keine „richtige“ Sicht auf die Welt, selbst mit dem starken Anspruch einer „richtigen“ Sicht auftritt. Sie selbst stellt sich keineswegs perspektivistisch in Frage.
In professionellen Zusammenhängen wie Wissenschaft oder Justiz werden für Behauptungen haltbare Begründungen verlangt. In der Alltagssprache ist mit einer Behauptung normalerweise implizit ein Anspruch auf Wahrheit verbunden. Dieser gewöhnliche Wahrheitsanspruch ist in der Struktur der Sprache selbst angelegt und hat nichts mit einer Verleugnung der unvermeidlich subjektiven Perspektive zu tun. Wobei wir ihn durch verschwiegene Bedürfnisse, Triebe oder auch Strategien unterlaufen können (unvergessen: die Washingtoner Proklamation „alternativer Tatsachen“).
Zwar können und sollten wir uns selbstkritisch fragen, ob wir Anderen mit bestimmten fragwürdigen Vorurteilen begegnen, die sich vermeiden ließen. Wenn wir aber vernünftige Gründe für die Annahme haben, dass Andere ihrerseits fragwürdigen Vorurteilen folgen, können wir dem nicht dadurch sinnvoll begegnen, dass wir uns entspannt der Weisheit überlassen, jeder habe eben seine eigene Perspektive. Die humane Toleranz findet ihre Grenze dort, wo humane Basiswerte verletzt werden. Dann bleibt uns nichts anderes übrig, als uns mit Streitkultur über die in Frage stehenden Tatsachen und Bewertungen auseinanderzusetzen.
Der Autor ist Professor für Philosophie an der Hochschule Niederrhein, Mönchengladbach.