Die Mehrheit der Deutschen fühlte sich nicht befreit, sondern beschämt

Die Gedenktage zum Ende des Zweiten Weltkriegs am 8. und 9. Mai sind immer nochemotional aufgeladen.
Es gibt ein bemerkenswertes Foto vom 8. Mai 1945. Es zeigt Stanley Reinhart und Dimitri Drytschkin, einen amerikanischen und einen sowjetischen General, die an diesem Tag in der kleinen niederösterreichischen Stadt Erlauf zusammentrafen. Drytschkin war Ukrainer. Er wurde in der Region Winniza geboren und diente einen großen Teil seines Lebens in Kiew, wo er auch starb. Das Bild befindet sich im Museum Erlauf.
An dieses Ereignis hätte sich in Erlauf wohl schon bald niemand mehr erinnert, hätte es nicht einen Anstoß von außen gegeben. Er kam von einem ehemaligen jüdischen Bürger der Stadt namens Ernst Brod (1901–1978). Seine Eltern hatten dort ein Geschäft. 1934 konnte er nach Amerika emigrieren, während seine Mutter und sein Bruder von den Nazis deportiert und ermordet wurden. Einige Jahre nach dem Krieg stieß er in einer Bibliothek in Kalifornien auf einen Artikel mit Bildern, die ihn überraschten. Darunter war das Bild der beiden Generäle, die am 8. Mai 1945 in Erlauf die Befreiung feierten. 1965 brachte er mit dem Bild die Erinnerung von der Pazifikküste ins niederösterreichische Erlauf zurück und stieß dort auf interessierte Bewohner. So lebte die historische Episode 20 Jahre später im lokalen Gedächtnis wieder auf.
Die Wiederentdeckung des Bildes hatte noch ein Nachspiel. 1995, 50 Jahre nach Kriegsende und im ersten Jahr der EU-Mitgliedschaft Österreichs, wuchs in Erlauf das Bedürfnis nach einem sichtbaren Zeichen zur Feier des 8. Mai. Der zentrale Feiertag des Kriegsendes ist in Österreich ja der 5. Mai, die Befreiung des Konzentrationslagers Mauthausen. In Erlauf beauftragte man eine amerikanische Künstlerin und einen russischen Künstler, die beide gemeinsam ein Ost-West-Friedensdenkmal errichten sollten, in dem sich Österreich zugleich als ein souveräner und neutraler Staat selbst mit darstellte. Die beiden entstandenen Friedensdenkmäler spiegeln die West-Ost-Beziehungen in einer extrem unterschiedlichen Formensprache. Jenny Holzer setzte auf reine Abstraktion. Das von ihr geschaffene Denkmal besteht aus einer schlanken Granitstele, aus der ein blauer Lichtstrahl senkrecht in den Himmel aufsteigt.
Oleg Komovs Denkmal dagegen entstand aus dem Geist des sozialistischen Realismus. Aber auch sein Denkmal beruht auf Abstraktion, denn es setzte das Foto emblematisch um. Hier halten die Generäle nicht mehr Waffen, sondern Blumen in den Händen, aus dem ukrainischen ist ein russischer General geworden. Das zierliche Mädchen in der Mitte der Skulptur, das die Uniformierten mit ausgebreiteten Armen verbindet, kann sowohl für ein neutrales Österreich wie für eine hoffnungsvolle Zukunft des Landes stehen.
Die euphorische Stimmung des Sieges und Friedens, der gemeinsamen Begeisterung, Erleichterung und Freundschaft, die auf dem Foto festgehalten ist, war nur eine Momentaufnahme. Im Kalten Krieg war Europa schon wieder gespalten und damit trennten sich auch die Erinnerungen ans Kriegsende: Im Westen feierten die Alliierten in den USA, Frankreich und England den 8. Mai, den V-Day (V für Victory) als zivilen Feiertag des Friedens, im Osten feierten die Sowjetstaaten aufgrund der Zeitverschiebung der Unterschrift auf der Kapitulationserklärung am 9. Mai 1945 den Siegestag der Roten Armee.
Das geschah ab 1965 regelmäßig mit imposanten Militärparaden und schwerem Kriegsgerät, einer Praxis, die zuvor auf den 1. Mai konzentriert war. In dieser Zeit entstanden in den Sowjetstaaten auch eine Reihe von Denkmälern der „Dankbarkeit“ und der „Völkerfreundschaft“, die bis heute die unverbrüchliche Bruderschaft des kommunistischen Staatenbundes symbolisieren.
Deutschland war im Kalten Krieg ein vergangenheitspolitisch geteiltes Land. Während sich die DDR als Widerstandsstaat in die Gruppe der Sieger einreihte, hatte Willy Brandt 25 Jahre nach Kriegsende mit seinem Antrag im westdeutschen Bundestag, dieses Datum 1970 öffentlich zu feiern, noch keinen Erfolg. „Niederlagen feiert man nicht!“, wurde ihm damals entgegengehalten, und: „Schuld und Schande verdienen keine Würdigung!“ Es dauerte in Deutschland vier Jahrzehnte, bis Bundespräsident Richard von Weizsäcker der Gesellschaft, den (West-)Deutschen in einer ausführlichen Rede an die Nation am 8. Mai 1985 nahebrachte, diesen Tag nicht mehr unter dem Vorzeichen der „Niederlage“, sondern unter dem Vorzeichen der „Befreiung“ zu denken. Seit 2015 ist der 8. Mai ein offizieller Gedenktag in Deutschland.
Aber dieser Gedenktag hat es weiterhin in sich, denn er vereinigt in der Erlebnisgeneration ganz unterschiedliche, ja konträre Perspektiven auf das Kriegsende. Die Gegner und Opfer des Nationalsozialismus haben das Kriegsende an der Seite der Alliierten als ersehnte Befreiung erlebt. Dazu gehörten die, die als rassisch Verfolgte in Konzentrationslagern überlebten, sowie die, die als Zwangsarbeiterinnen und -arbeiter des Regimes versklavt wurden, und die, die als Einzelne oder Gruppen Widerstand leisteten.
Die Mehrheit der Gesellschaft erlebte das Ende jedoch ganz anders: als unheroisches Ende eines heroischen Kampfes. Sie fühlte sich nicht befreit, sondern in ihrer Ehre gekränkt, beschämt und vernichtend geschlagen. Götz Aly hat diese Ambivalenz des Befreiungsbegriffs auf den Punkt gebracht: „Mit äußerster militärischer Gewalt und unter großen Opfern befreiten die alliierten Armeen in jenen Monaten nicht nur Millionen inhaftierte, versklavte und unterworfene Menschen vom deutschen Terror, sondern auch diejenigen, die diesen Krieg begonnen und verursacht hatten: die Deutschen. Sie mussten von sich selbst befreit werden, und viele verstanden das erst sehr viel später.“
Nach dem Ende des Kalten Krieges und des Staatsozialismus änderten sich in Europa noch einmal die Koordinaten des Erinnerns. Einige postsowjetische Staaten wie Polen und seit 2015 auch die Ukraine übernahmen den westeuropäischen Siegestag des 8. Mai als Feiertag des Kriegsendes, während Russland und andere Staaten am 9. Mai festhielten. Im postsowjetischen Russland, wo der historische Feiertag der Revolution Lenins im Jahre 1917 aufgegeben wurde, gewann der 9. Mai, der Sieg Stalins über Hitler, an Bedeutung und wurde zum wichtigsten Gedenktag, der das russische Selbstbild formt und die historische Kontinuität des Landes symbolisiert.
Der „Große Vaterländische Krieg“, wie Stalin ihn nannte, hat für die Russen als identitätsstiftendes Ereignis in den letzten 20 Jahren beständig an Bedeutung gewonnen. Damit drohen die Geschichten der unterschiedlichen Akteure in der Roten Armee in der Chiffre „Russland“ unterzugehen. Wachgehalten wird diese Erinnerung inzwischen allerdings durch die dritte Generation, die für die Übernahme der Erinnerung in Russland und anderen ehemaligen Sowjetstaaten eine zunehmende Rolle spielt. Denn die Veteranen werden auf ihren Paraden inzwischen durch ihre Kinder und Kindeskinder vertreten, die mit den Bildern ihrer Väter und Großväter marschieren und auf diese Weise am 9. Mai ein „Unsterbliches Regiment“ bilden. In Russland hat durch diese Entwicklung der Kult des Krieges und der Heldenmythos Stalins deutlich an Gewicht gewonnen, während die Opfer des Krieges und die Opfer Stalins eher an Bedeutung verloren haben. In dem Maße, wie hier eine Bewegung von unten nach und nach vom Staat usurpiert worden ist, wurde einer kriegstreibende Politik Vorschub leistet.
In westlicher Perspektive steht der Sieg am 8. Mai für Demokratisierung und die Abkehr von Diktatur. Nach 1945 folgten im Westen die Nürnberger Prozesse mit 1948 der Menschenrechtserklärung und der Genozid-Konvention der UNO. Dieser Rechtsraum war zugleich das normative Fundament, in dem die Werte des neuen Europas verankert wurden: Friedenssicherung durch Wirtschaft, Rechtsstaatlichkeit durch Demokratisierung ehemaliger Diktaturen sowie, damit verbunden, ein selbstkritisches Geschichtsbewusstsein und die Erneuerung der Menschenrechte.
In Westeuropa gibt es aber auch noch einen weiteren offiziellen Europa-Gedenktag. Das ist der 9. Mai 1950, an dem Robert Schuman mit einer historischen Rede die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft für Kohle und Stahl (EWG) gründete. Diese geniale Idee der Friedenssicherung war effektiv und nachhaltig, aber sie hat deutlich weniger emotionale Strahlkraft als 1945, das Jahr der Siege und Niederlagen, der Gefangenschaft und Befreiung, der Flucht und Vertreibung. Außerdem wurde die Überzeugung, dass Wirtschaftsbeziehungen Kriege verhindern können, gerade radikal Lügen gestraft.
Beide Tage, der westliche 8. Mai und der östliche 9. Mai, haben wie kaum ein anderes Datum Geschichte gemacht und sind in der Gegenwart noch immer emotional aufgeladen und deshalb auch weiterhin politisch instrumentalisierbar. Es bleiben – und das ist das entscheidende Erbe dieser Geschichte – die unterschiedlichen Perspektiven auf dieselben Daten. Auch wenn die Wahrnehmungen und Deutungen der Ereignisse weit auseinandergehen, bezeugen sie weiterhin den Glutkern einer untrennbaren, fundierenden und nachhaltigen Beziehungsgeschichte zwischen Siegern und Besiegten, Tätern und Opfern, Krieg und Frieden, Ost und West. Das Bild der mitternächtlichen Siegesfeier am 8./9. Mai ist eine ferne Erinnerung daran und – über den brutalen Bruch des Ukraine-Krieges hinaus – eine ferne Utopie für diesen europäischen Doppelgedenktag.
Aleida Assmann ist Literatur- und Kulturwissenschaftlerin und für ihre Forschungen auf dem Gebiet des kollektiven kulturellen Gedächtnisses u. a. mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet worden.