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Die Logik der Konfrontation

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Von: Björn Hayer

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Es würde schon helfen, den Bäcker an der Ecke wieder anzusiedeln.
Es würde schon helfen, den Bäcker an der Ecke wieder anzusiedeln. © imago images/imagebroker

Unsere hoch individualistische Gesellschaft erstarrt bei vielen Diskursen in Gegensätzen – warum wir zu deren Überwindung die Kulturtechnik des Erzählens neu lernen müssen.

Corona hat keine Geschichte. Es kennt weder ein Woher, noch ein Warum. Das Virus war mit einem Tag da und brachte eine bedrückende Leerstelle mit sich. Gerade weil eine Sinnerklärung für dessen Herkunft fehlte, haben sich manche in okkulte und verschwörerische Deutungsangebote geflüchtet. Nur so vermochten sie wohl den Schock des Wirklichen, wie es sich in den Bildern von den Särgen in Bergamo manifestierte, zu verarbeiten.

Erfassen lässt sich die vermeintliche Rettung in eine Scheinwelt, wo sich offensichtlich immer mehr radikalisieren, wohl am ehesten mit der Kulturkritik des 2007 verstorbenen Poststrukturalisten und Medienkritikers Jean Baudrillard. Als an das Internet noch kaum jemand dachte, sah er in seinem Buch „Agonie des Realen“ bereits 1978 die „Ära der Simulation“ voraus. Hierbei ging es um die „Liquidierung aller Referentiale“ sowie „die Substituierung des Realen durch Zeichen des Realen“.

Was der Intellektuelle ein wenig verschwurbelt darlegt, ist die Annahme, dass die Wahrheit schwindet. Das sichtbare Dasein wird gewissermaßen von einer Inszenierung desselben verschluckt oder überblendet. Es existiert dann nur noch ein künstlicher Kosmos, der von seinen Bewohnerinnen und Bewohnern bald schon als das echte Leben erachtet wird. Die Verankerung in der Realität ist für so manche in der heterogenen Minderheit aus Coronaleugnerinnen und Coronaleugnern bzw. Impfskeptikerinnen und Impfskeptikern längst verloren gegangen.

Zu dieser Tragik kommt hinzu, dass auch die Riege der Vernünftigen, also jener, die auf Basis wissenschaftlicher Fakten argumentieren, nicht über eine adäquate Gegenerzählung verfügt. Indem sie stattdessen auf Inzidenzen, Todesraten und Statistiken verweisen, bestätigen sie eine zugespitzte These des Philosophen Byung-Chul Han. Ihm zufolge habe, wie er beispielsweise in seinem Essay „Die Austreibung des Anderen. Gesellschaft, Wahrnehmung und Kommunikation heute“ (2016) schreibt, die Zählung die Erzählung ersetzt. Aber Zahlen stiften nun einmal keinen Zusammenhang, bauen kein Fundament der Verständigung, vor allem nicht mehr in einer für Fake News allzu anfälligen Gesellschaft.

Sowohl der Eskapismus in esoterische Zirkel der einen als auch das aufklärerische Bemühen der anderen haben unterdessen trotz der immensen Distanz zwischen ihnen eines gemein: Sie zeigen, dass wir in einem postnarrativen Zeitalter angelangt sind. Es fand seinen Anfang in der Partikularisierung der Öffentlichkeit. Statt das gemeinsame Samstagabend-„Wetten, dass…?“ suchten die Menschen ihr Glück in individuellen Mediathek-Baukästen, traten aus Kirchen, Parteien und Vereinen aus. Fortan wurde, wie der Soziologe Andreas Reckwitz in seinem kanonischen Werk „Die Gesellschaft der Singularitäten“ (2017) festhält, jede und jeder Autorin oder Autor seiner eigenen Selbstvermarktung, stets darauf bedacht, das Besondere und Exklusive der persönlichen Performance zu betonen. Abgrenzung in jeder Hinsicht lautet seitdem das Gebot der Stunde.

Diese Entwicklung offenbart sich derweil nicht allein im Schatten der Pandemie. Allen voran die Debatten um Identitätspolitik beruhen zumindest in den sozialen Netzwerken inzwischen auf simpelsten Mechanismen der Abgrenzung: hier stehen die Progressiven, dort die Altbackenen; hier die Verteidiger der Vielfalt, dort die Rassisten. Statt einer produktiven Erzählung etwa über eine Neuausrichtung in den Geschlechterbeziehungen oder ein gelingendes Miteinander in einem multikulturellen Europa verfestigt sich die Logik der Konfrontation. Man hört sich nicht mehr zu, sondern mobilisiert die Community zum Gegenangriff.

Warum gesamtgesellschaftliche Erzählungen in dieser Zeit mehr denn je vonnöten sind, verdeutlicht ein Blick auf die Leistungsfähigkeit von Narration. Denn sie ist auf das Engste mit der Selbstentwicklung des Einzelnen wie des Kollektivs verknüpft. So notiert beispielsweise der 2005 verstorbene französische Denker Paul Ricœur in seinem Buch „Das Selbst als ein Anderer“ (1990): „Es ist die Identität der Geschichte, die die Identität der Figur bewirkt.“

Finden wir einen Platz in einer Erzählung, so vermögen wir unserer selbst besser gewahr zu werden. Doch damit nicht genug. Wir werden zugleich Teil eines größeren Ganzen. Eine Story schafft aus vielen Bausteinen und Fäden eine Handlung, mithin eine eigene Welt. Da wir alltäglich mit den Fliehkräften und Krisen unserer Gegenwart konfrontiert sind, erweist sich eine formgebende Narration als die Sehnsucht des spätmodernen Menschen. Neben den gewünschten Inhalten birgt Erzählung übrigens noch eine weitere, geradezu existenzielle Eigenschaft, die man heute oft vermisst. Die Rede ist von der Kulturtechnik von Sprechen und Zuhören. Wie sich etwa an dem etwas aus der Mode gekommenen Vorlesen zeigt, setzt es insbesondere aufseiten des Gegenübers die Bereitschaft voraus, sich auf das Geschehen einzulassen und es verstehen zu wollen.

Sei es der Diskurs um Corona oder jene um Gender und kulturelle Zugehörigkeit – ein Common Sense, der auf Empathie und dem Willen zur redlichen Auseinandersetzung gründet, hat seine Gültigkeit in unseren Tagen eingebüßt.

Wie lässt sich aber eine narrative Wende vollziehen? Wie der Kreislauf aus Dafür und Dagegen durchbrechen? Die Lösung liegt sicherlich nicht allein in pragmatischen Bewältigungsversprechen der Virusbekämpfung oder Dementis der längst eingetretenen und viel beschworenen Spaltung der Gesellschaft. Es bedarf vielmehr einer Erzählung vom neuen Leben. Wie soll unser Land nach der Pandemie aussehen? Was haben wir aus deren einschneidender Zäsur gelernt? Und am wichtigsten: Wie stellen wir wieder Orte der Begegnung, ja, des Austausches her?

Dazu nur einige Ideen: Sicherlich könnte ein zeitgemäßer Städtebau zweckdienlich sein, der mehrere Generationen und Ethnien in einem Viertel verbindet und genügend Treffpunkte mit Spielplätzen oder intakten Gemeindezentren zur Verfügung stellt. Nicht minder wichtig ist die Schaffung guter Existenzvoraussetzungen auf dem Land. Dort stehen viele Häuser leer. Nimmt sich der Staat der seit Jahren maroden Infrastruktur in dörflichen Regionen an, indem er wieder mehr Kitas einrichtet und Kleinunternehmern – vom Bäcker an der Ecke bis zum Nachhilfeinstitut – Unterstützung zusagt, würden sich gewinnbringend Menschen unterschiedlicher Herkunft wieder ansiedeln.

Die Stärkung des Gemeinsinns gedeiht dabei vor allem auf dem Narrativ einer Verantwortungsgemeinschaft. Ihre Geschichte betrachtet die Einzelne oder den Einzelnen nicht nur als Subjekt seiner selbst. Vielmehr steht sie oder er in einem gegenseitigen Bedingungsverhältnis mit anderen. Pflicht- und Mitgefühl könnten in einer solchen Erzählung zu den Pfeilern der Ordnung der 20er Jahre werden.

Sie mit einem Harmonieideal gleichzusetzen, wäre naiv. Denn erst die Erzählung garantiert überhaupt eine nachhaltige demokratische Kultur, die das redliche Gespräch über kontroverse Themen ermöglicht. Und wie schrieb doch Friedrich Hölderlin einst so weise in seinem Roman „Hyperion“: „Versöhnung ist mitten im Streit“.

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