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Die Krise der Linken

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Von: Artur Becker

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Das Karl-Marx-Monument des Bildhauers Lew Kerbel (1917-2003) im sächischen Chemnitz.
Das Karl-Marx-Monument des Bildhauers Lew Kerbel (1917-2003) im sächischen Chemnitz. © epd

Über exzellente Dialektiker, entsetzliche Diktaturen, utopische Überschüsse und erhebliche Schwächen im Alltag.

Das Hauptproblem der heutigen Linken ist, dass sie die Utopie, ihre ureigene Kraft, die eschatologische Züge trägt, ablehnt und zu ihr keinen Zugang mehr hat. Vor allem die westliche Linke betrachtet die Utopie oft als eine Art Krebsgeschwür und als eine Art Atavismus, obwohl sie keine Erfahrungen mit dem Realsozialismus gemacht hat.

Die Marx’sche Utopie, bzw. die sowjetische Umsetzung des Marxismus, ist zwar gescheitert, doch fragten wir uns damals in allen sozialistischen Ländern, ob wir den Kommunismus schon erreicht hätten, und wenn nicht, spekulierten wir darüber, wie lange es noch dauern würde, bis das gewünschte Ergebnis endlich erzielt werden könnte. Letztlich wusste niemand so genau, wie dieses gelobte Land des ewigen Friedens und der ewigen Freiheit durch die Aufhebung jeglicher Klassenwidersprüche aussehen sollte.

Lese ich in dem Zusammenhang Slavoj Žižeks empathische und manchmal idiosynkratische Erinnerungen an diese Epoche des sozialistischen „Experiments“, das in furchtbaren Diktaturen endete, fühle ich mich dem slowenischen Philosophen und Autor von „Ein Linker wagt sich aus der Deckung“ (2021) und „Die bösen Geister des himmlischen Bereichs“ (2011) sehr nahe, auch wenn ich seine oft lautstarke Deklaration, er sei Kommunist, mit leichtem Grinsen betrachte. Žižek ist, dringt man tiefer in sein Werk ein, in erster Linie ein exzellenter Dialektiker, der keine Berührungsängste hat, was den revolutionären Terror angeht – sowohl den jakobinischen wie auch den stalinistischen.

Die Linke sucht ihr Heil in der Realpolitik und damit im Populismus

In „Die bösen Geister des himmlischen Bereichs“ gesteht er: „Die größte Stärke der Jakobiner war nicht die Theatralik des Terrors, sondern ihre utopisch ausufernde politische Vorstellungskraft, was die Neuorganisation des Alltags anging; alles, wirklich alles wurde während der fieberhaften Aktivität weniger Jahre vorgeschlagen: Von der Selbstorganisation von Frauen bis zu Gemeindeheimen, in denen die Alten ihre letzten Jahre in Frieden und Würde verbringen können sollten.“

Außerdem, was der Linken den Todesstoß versetzt hat, sie sucht ihr Heil in der Realpolitik und damit im Populismus, den sie aber für sich kaum sinnvoll nutzen kann, ist doch der Populismus in erster Linie der Treibstoff der Rechts- und Nationalkonservativen, die von Utopien gar nichts halten.

Mit großem Erstaunen las ich deshalb Chantal Mouffes Plädoyer „Für einen linken Populismus“ (2018), ein in der Tat faszinierendes Buch, in dem aber, betrachtet man dieses Werk aus der Perspektive eines Marxismusexperten, wie Leszek Kolakowski zum Beispiel, eine kühne These aufgestellt wird. Mouffe schreibt: „Die sozialdemokratischen Parteien, die in vielen Ländern bei der Implementierung einer neoliberalen Politik eine wichtige Rolle gespielt haben, sind außerstande, die Tragweite des populistischen Moments zu begreifen und sich den damit verbundenen Herausforderungen zu stellen. In ihren postpolitischen Dogmen gefangen und unwillig, ihre Fehler zuzuge-ben, können sie nicht erkennen, dass viele der von rechtspopulistischen Parteien artikulierten Forderungen demokratische Forderungen sind, die einer progressiven Antwort bedürfen.“

Didier Eribon, Slavoj Žižek, Francis Fukuyama, Chantal Mouffe und in Deutschland Bernd Stegemann wie auch Sahra Wagenknecht und mit Blick auf den rechten Populismus Jan-Werner Müller und Volker Weiß beleuchten schon seit vielen Jahren den Austausch der Prioritäten, der bei der Linken stattgefunden hat.

Der Populismus der Kommunisten war heuchlerisch

Prinzipiell ist der Tenor bei allen gleich: Das Prekariat sei sich selbst überlassen worden und massiv zu den Rechten und Identitären abgewandert, während sich die Linken auf einen Kreuzzug gegen Rassismus, Sexismus, die Xenophobie, Homophobie, Misogynie, Umweltzerstörung und Kapitalzentralisierung in wenigen Händen gemacht hätten, wobei sie sich dabei oft belehrend und moralistisch über das Prekariat und ihre ehemalige Wählerschaft, die Arbeiter, stellten, da sie auf ein kulturell und gesundheitlich erfülltes Leben besonderen Wert legten. Dabei sei, um eine hohe Lebensqualität zu gewährleisten, ein stilles Arrangement mit der liberalen Finanzwelt und den Unternehmern programmiert. Die Sozialdemokraten hätten es vorgemacht und die Grünen vervollkommneten diesen Weg der verschiedenen Arrangements mit der Wirtschaft.

Bei dem Begriff „linker Populismus“ laufen mir allerdings Schauer über den Rücken, die sogenannte Diktatur des Proletariats und den historischen Determinismus (Stalin tötet Trotzki) musste ich zum Glück nicht miterleben. Doch der Populismus der Kommunisten in meiner Volksrepublik Polen, in der ich von 1968 bis 1985 gelebt habe, war heuchlerisch und auf Nepotismus ausgerichtet gewesen, so dass ich nach meiner Ankunft in Westdeutschland über Rudi Dutschke und Gaston Salvatore – wobei ich mich mit Salvatore sogar ein wenig anfreunden konnte – schmunzeln musste.

So ist das Hauptproblem der Linken, die mangelnde Zuversicht in die Utopie, zugleich ein Hauptwiderspruch: ihr Glaube an die Erfüllung der Ideologie. Beide hatten das marxistisch-hegelianische Gift, dass die Zeiten ihre Erfüllung in einer progressiven und freien Gesellschaft finden müssen – praktisch in einer Art Erlösung aller Klassen und Gegensätze –, nur als einen ideologischen Glauben gekannt. Ich wusste aus dem Sozialismus, dass sich die Gegensätze und Widersprüche nie werden auflösen lassen. Und trotz all der Zweifel ging es damals, und zwar insbesondere im Stalinismus, ausschließlich um die Frage des Glaubens, eines neuen Glaubens, der der einzige richtige war und der keine anderen Vorstellungen duldete. Ich verdanke dieses Talent des kritischen Sezierens und Zweifelns, sobald es um eine Ideologie geht, natürlich meiner Volksrepublik Polen, aber auch der Lektüre der Texte von Antonio Gramsci, Karl Marx (vor allem als Autor von „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“) und Leszek Kolakowski, der 1968 aus Polen in den Westen ins Exil gegangen war und in Oxford Philosophie gelehrt hatte. Zu seinen Bewunderern gehörte damals der Student Tony Judt.

Osteuropa - das führt zu weit

Mouffe weiß natürlich und schreibt auch darüber in ihrem Buch, dass das oberste Ziel und damit die wichtigste Aufgabe der marxistischen Utopie, mit der der Sozialismus in Osteuropa und der Sowjetunion nicht fertig werden konnte, der vollständige Abbau jeglicher regierender Eliten ist. Der freie Mensch, „der Neue Mensch“, wird zum gerechten Schmied seines eigenen Schicksals und der Gemeinschaft. Der Himmel auf Erden komme, der Himmel, den schon Dostojewski in dem vermutlich größten Roman, der jemals geschrieben worden ist, „Die Brüder Karamasow“, in Frage stellte und belächelte – aus bekannten Gründen: Der orthodoxe Christus und das messianische Russland erlaubten ihm keine Liaison mit einem Frühsozialisten wie Charles Fourier und anderen sozialistischen Atheisten.

Mouffe erklärt in ihrem Buch gleich zu Anfang, dass sie sich vor allem auf Westeuropa konzentrieren wolle – Osteuropa sei ein anderes Thema und würde zu weit führen. Das ist bedauerlich. Kolakowski, der in den Siebzigern das dreibändige Werk „Die Hauptströmungen des Marxismus – Entstehung, Entwicklung, Zerfall“ (1977–1978) vorgelegt hatte und das für die Generation des Tony Judt zur Bibel wurde, kannte die marxistische Verführung allzu gut – sein Parteiausschluss erfolgte 1966, nachdem er an der Warschauer Universität einen kritischen Vortrag über die Kultur, Partei und den „Polnischen Oktober“ 1956, das Tauwetter, gehalten hatte.

In seinem Essayband „Der Mensch ohne Alternative“ (1976) lesen wir: „Die Linke scheidet Utopien aus, wie die Bauchspeicheldrüse Insulin ausscheidet – auf Grund einer angeborenen Gesetzmäßigkeit. Die Utopie ist das Streben nach Veränderungen, die sich ‚in Wirklichkeit‘ nicht durch sofortiges Handeln realisieren lassen, außerhalb der sichtbaren Zukunft stehen und keiner Planung unterliegen. Und doch ist die Utopie Werkzeug zur Einwirkung auf die Wirklichkeit und zur Vorausplanung gesellschaftlichen Handelns.“

Zur Person

Artur Becker wurde 1968 in Polen geboren. Seit 1985 lebt er in der Bundesrepublik. Zuletzt veröffentlichte er den Roman „Drang nach Osten“ sowie den Lyrikband „Bartel und Gustabalda“.

„Der Mensch lebt nicht vom Brot allein“: gerade die geistige, intellektuelle und progressive Stärke der Linken, die keine Angst hatte, in Odysseus’ abenteuerlicher Heimreise den Beginn der Aufklärung und damit der Moderne, der Mündigkeit des Menschen, zu sehen, sichert ihr Überleben in der Zukunft.

Sprechen wir von der Linken, deren Ursprung, denkt man etwa an den Frühsozialisten Charles Fourier im 18. Jahrhundert. Auch der Aufstand der Dekabristen in Russland sollte zu diesen Ursprüngen gezählt werden, wenn wir von Utopie sprechen. Sie sei, wie Kolakowski schreibt, „die Voraussetzung für soziale Umwälzungen“, und „irreale Bestrebungen“ seien „die notwendige Voraussetzung für reale“.

Ich will hier tiefer nicht eintauchen, aber zwei Dinge müssen noch gesagt werden. Erstens: Im Gegensatz zur Linken ist die Rechte in ihrem Denken machtorientiert und rein oberflächlich betrachtet wirkt sie statisch, behäbig, und nach Kolakowski brauche sie keine Utopie – sie strebe nach Aufrechterhaltung des gegenwärtigen Zustandes; außerdem sei sie demagogisch.

Zweitens: Die Linke, so Kolakowski weiter, besitze die Schwäche, dass „ihre Negierung nur das Niveau eines moralischen Protestes“ erreiche „und nicht das Niveau praktischen Denkens“, was ich aus meiner persönlichen Erfahrung, die ich als Jugendlicher im Sozialismus gemacht habe, bestätigen kann. Und das wird auch im Westen schon seit Jahren besonders sichtbar. (Artur Becker)

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