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Historiker Michael Wildt: „Die Deutschen wissen zu wenig über die Gewaltgeschichte in Osteuropa“

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Von: Harry Nutt

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Lwiw, April 2022: Eine junge Frau näht ukrainische Flaggen fürs Militär. Foto: Yuriy Dyachyshyn / AFP
Lwiw, April 2022: Eine junge Frau näht ukrainische Flaggen fürs Militär. © AFP

Der Historiker Michael Wildt über Konflikte und Selbstbehauptung in der Ukraine, verzeihliche und weniger verzeihliche Fehleinschätzungen mit Blick auf die russische Politik – und über sein neues Buch „Zerborstene Zeit“

Herr Wildt, in Ihrem gerade erschienenem Buch „Zerborstene Zeit“, das eine Darstellung deutscher Geschichte zwischen 1918 und 1945 ist, handelt ein Kapitel von den Geschehnissen im heute ukrainischen Lemberg um das Jahr 1941. Warum gerade Lwiw/Lemberg?

Ich wollte den deutschen Vernichtungskrieg nicht aus der Sicht Berlins, sondern aus der einer überfallenen Stadt schildern, also aus der Opferperspektive. Lwiw/Lwow/Lemberg bot sich durch seine vielfältige Geschichte an. Zudem habe ich die Stadt vor etlichen Jahren besucht und war von ihr sofort fasziniert.

Man kann gar nicht anders, als dieses Kapitel als Schlüssel zu einem besseren Verständnis der heutigen Kriegssituation zu verstehen. Was lässt sich gerade jetzt daraus lernen?

Diese Stadt ist im 20. Jahrhundert immer wieder von Krieg, Besatzung, ethnisierter Gewalt heimgesucht worden. Es gab schwere Konflikte zwischen Polen und Ukrainern, es gab sowjetische und deutsche Besatzung und furchtbare Pogrome gegen die jüdische Bevölkerung. Schließlich die Ermordung der Juden im Holocaust. Nur mit dem Blick auf diese Gewaltgeschichte können wir den Selbstbehauptungswillen der Bevölkerung heute verstehen.

Aus Ihrem Buch geht auf vielfältige Weise in aller Deutlichkeit hervor, dass sich die europäische Gewaltgeschichte dieser Zeit nicht in einfache Täter- und Opfererzählungen auflösen lässt. Worin könnte jenseits der unterschiedlichen nationalen Lesarten eine Übereinkunft bestehen?

Es existierten auch Zeiten des Zusammenlebens und des Bewusstseins, dass kulturelle Unterschiede nicht zu nationalistischer Feindschaft führen müssen. Dazu braucht es aber alltägliches Vertrauen, das gegenwärtig durch den russischen Angriffskrieg und die Kriegsverbrechen zerstört ist.

Ihr Buch handelt von deutscher Geschichte. Dennoch streifen sie auch die Grundlagen eines heutigen ukrainischen Nationalismus. Wie lässt sich der skizzieren?

Im ehemaligen Zaren-Imperium entwickelten sich die jeweiligen Nationalbewegungen gegen die russische Dominanz, oftmals auch verbunden mit antisemitischer Abgrenzung gegen die jüdische Minderheit, die als angeblich nicht-polnisch, nicht-ukrainisch ausgeschlossen wurde. Nicht zuletzt bilden die sowjetischen Massenverbrechen gegen die Ukraine wie der Holodomor zu Beginn der 1930er Jahre einen zentralen Hintergrund des ukrainischen Nationalbewusstseins heute.

Ist es gerade überhaupt geboten, den ukrainischen Nationalismus, etwa die Rolle des Rebellen und Nazikollaborateurs Stepan Bandera, zu thematisieren?

Ja, bei aller notwendigen Solidarität mit der Ukraine heute darf nicht verschwiegen werden, dass Bandera, Führer der militanten Organisation Ukrainischer Nationalisten, der in der Ukraine vielerorts als Kämpfer gegen den Bolschewismus geehrt wird, ein radikaler Antisemit war, der mit den Nazis zu kollaborieren suchte. OUN-Leute waren es, die Anfang Juli 1941 das fürchterliche Pogrom gegen die jüdische Bevölkerung in Lemberg anfachten, unterstützt von deutschen Soldaten.

ZUr Person

Michael Wildt (67) ist emeritierter Professor der Berliner Humboldt- Universität. Nach einer Ausbildung zum Buchhändler wurde er 1991 mit einer Arbeit über die Konsumgesellschaft promoviert. Zwischen 1991 und 1997 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Forschungsstelle für die Geschichte des Nationalsozialismus in Hamburg. 1997 wechselte er zum Hamburger Institut für Sozialforschung.

Zu seinen wichtigsten Arbeiten gehört das Buch „Generation des Unbedingten“ über das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes sowie „Ambivalenz des Volkes. Der Nationalsozialismus als Gesellschaftsgeschichte.“

Das Buch „Zerborstene Zeit“ ist soeben bei C.H. Beck erschienen, umfasst 638 Seiten und kostet 32 Euro.

Mit dem russischen Überfall auf die Ukraine scheint die lange gültige Annahme zusammengebrochen, dass ein einvernehmliches Verhältnis mit Russland die Grundlage einer europäischen Friedensordnung sei. War diese Annahme naiv?

Sie war nicht naiv, sondern von der durchaus rationalen Vorstellung getragen, dass Staaten, die durch wirtschaftliche Beziehungen zum gegenseitigen Nutzen verbunden sind, nicht Krieg gegeneinander führen. Falsch war es, nicht auch ins Kalkül gezogen zu haben, dass die russische Führung unter Putin die Wiederherstellung des einstigen Imperiums durchsetzen wollte und will, gegebenenfalls auch gegen wirtschaftliche Interessen mit kriegerischer Gewalt.

Es ist in den vergangenen Wochen wieder häufiger von deutscher Schuld die Rede. Diesmal besteht sie in der bis zur Abhängigkeit reichenden Abnahme fossiler Brennstoffe, durch die Putins Krieg finanziert worden ist. Lässt sich eine solche Schuldformel tatsächlich so einfach aufstellen?

Nicht Schuld, sondern eben Ausblendung, dass die russische Seite andere als rein wirtschaftliche Interessen verfolgt. Auf die Stimmen, die vor der Abhängigkeit warnten, wollte die deutsche Politik nicht hören. Nordstream 2 hätte in der Tat nicht gebaut werden dürfen.

Schwer lädiert scheint auch die deutsche Vergangenheits- und Erinnerungspolitik, die in den letzten Jahrzehnten sehr zum nationalen Selbstverständnis jener Gesellschaft beigetragen hat, die sich nach dem Nationalsozialismus konsolidiert hat. War alles nur Selbstbetrug?

Nein, keineswegs. Allerdings wurde in der Aufarbeitung des deutschen Vernichtungskrieges die Sowjetunion mit Russland gleichgesetzt und nicht gesehen, dass die nationalsozialistischen Massenverbrechen vor allem in der Ukraine, Belarus, Polen begangen wurden. Dass es dort auch stalinistische Massenverbrechen gab. In Deutschland weiß man nach wie vor sehr wenig über die Gewaltgeschichte in Osteuropa.

Auch wenn pazifistische Ideale derzeit gerade nicht sehr hoch im Kurs stehen, stellt sich doch die Frage, ob die lange Zeit gültige Formel des „Nie wieder“ auf fatale Weise in neue schuldhafte Verstrickungen geführt hat.

Das „Nie wieder Krieg“ heißt doch nicht, die Augen vor Gewalt und Verbrechen zu schließen. Im Gegenteil, das „Nie wieder“ ist eine klare Aufforderung, Verantwortung zu übernehmen und Ländern wie jetzt der Ukraine notfalls auch militärisch beizustehen, damit sie nicht Opfer von kriegerischer Aggression werden.

In der Hoffnung, dass wir sehr schnell über eine neue Nachkriegsordnung werden sprechen können: Was müssen die Parameter sein, nach denen sie aus Ihrer Kenntnis als Historiker gebildet werden muss?

Die europäische Nachkriegsordnung, bekräftigt durch die KSZE-Schlussakte 1975, beruht auf der demokratischen Selbstbestimmung und territorialen Integrität der Staaten sowie der Einhaltung der Menschenrechte. Dies muss auch die Grundlage einer neuen Nachkriegsordnung sein, ergänzt durch wirksame Sicherheitsgarantien. Hoffentlich auch verbunden mit einem schrittweisen Abrüstungsabkommen, insbesondere der atomaren Waffen.

Interview: Harry Nutt

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