Die Demokratie in der Krise

Eine nervöse Gesellschaft in der Pandemie, zwischen Fortschritt und Regression. Ein Essay von Rainer Forst.
Ein in der jüngsten Geschichte einzigartiges, befremdliches Jahr ging zu Ende, und wir reiben uns noch immer die Augen, was genau mit uns geschehen ist. Zumal verharren wir in Unsicherheit darüber, wie lange die Eiszeit der Pandemie noch andauern wird; aber auch darüber, wie das Leben danach aussehen wird. Viele Sorgen gelten dabei dem Zustand der Demokratie, denn sie scheint der derzeitigen Krise immer weniger gewachsen zu sein: Gilt sie den einen als verschleierte Diktatur, die nach Gutdünken Grundrechte einschränkt, wünschen sich andere, mit einem Blick nach Ostasien, mehr Disziplin und politische Strenge. Je länger die tiefgreifende Verunsicherung anhält, wie es weitergeht, umso nervöser wird die Gesellschaft, und die Politik der Eindämmung des Virus, die immer mehr im Zickzack verläuft, verliert an Akzeptanz. Mit jedem weiteren Tag des Lockdowns und des Wartens auf die hoffentlich erlösende Impfung nimmt dies zu. Befinden wir uns damit in einer Krise der Demokratie?
Halten wir einen Moment inne. In Bezug auf politische Ordnungen sollte von einer Krise erst dann gesprochen werden, wenn Umstände vorliegen, die die Beibehaltung der alten Ordnung unmöglich machen, ohne dass die Konturen einer neuen in Sicht wären. Die Krise markiert, wie Friedrich Schleiermacher es formulierte, die „Grenze zwischen zwei verschiedenen Ordnungen der Dinge“. Zwei besonders wichtige Krisentypen sind dabei zu unterscheiden, eine „Strukturkrise“ und eine „Rechtfertigungskrise“. Erstere liegt vor, wenn eine Ordnung strukturell nicht mehr in der Lage ist, ihre Aufgaben zu erfüllen und stagniert oder gar regrediert. Letztere besagt, dass das Selbstverständnis der Ordnung verloren geht, ihr sozusagen ihr eigener Begriff verrutscht.
Vor diesem Hintergrund stellt die Pandemie (noch) keine Krise der Demokratie selbst dar, sondern sie ist eine gesellschaftliche Krise, die für die Demokratie eine besondere Herausforderung darstellt. Je nachdem, wie sie sich hier bewährt, wird sie entweder gestärkt aus ihr hervorgehen oder aber selbst in eine Krise geraten.
Der Demokratie ist der Krisenmodus nicht fremd, sie lebt vielmehr davon, soziale Blockaden vermittels kollektiver Verständigungsprozesse zu überwinden. Es geht ihr darum, eine Organisation des gemeinsamen Lebens zu schaffen, in der alle Beteiligten nicht nur Adressaten allgemein gerechtfertigter Normen, sondern auch Autoren solcher Normen sind.
Deshalb bemisst sich die demokratische Qualität eines Systems an der Rechtfertigungsqualität seiner Institutionen und Gesetze. Diese Qualität ist nicht nur eine des „outputs“, also der Ergebnisse demokratischer Verfahren, sondern eine Frage der partizipatorischen und rationalitätssteigernden Eigenschaften solcher Verfahren selbst. Sie müssen den öffentlichen Gebrauch der Vernunft, mit Kant ausgedrückt, ermöglichen und fördern. Was wir seit dem Beginn der Pandemie erlebt haben, ist in dieser Hinsicht außergewöhnlich. Eine einzige Rechtfertigung – die Bekämpfung des Virus – hat es vermocht, den gesamten sozialen Raum der Gründe radikal umzupolen. Scheinbar unabänderliche Gesetze des ökonomischen und sozialen Lebens sind außer Kraft gesetzt worden – man geht nicht zur Arbeit außer Haus, verliert sie möglicherweise sehenden Auges, Schüler und Schülerinnen gehen besser nicht zur Schule, man soll nicht mehr seine alten Eltern besuchen, Solidarität bewährt sich im Distanzhalten, sogar an Weihnachten. Vieles steht auf dem Kopf, aber es stellte sich dennoch keine Kopflosigkeit ein – die nun aber droht.
Dies ist nicht überraschend. Denn eine solch gewaltige soziale Umordnung gelingt nur auf der Basis einer breit akzeptierten, übermächtigen Rechtfertigung. Sie kann aber nur Maßnahmen begründen, die eindeutig angezeigt sind und deren Kosten nicht höher als der Gewinn sind. In dem Moment, in dem darüber Unsicherheit entsteht, wackelt das gesellschaftliche Großexperiment, dessen Teil wir sind.
Aber was genau heißt das: „dessen Teil wir sind“? Hier kommen wichtige Ambivalenzen ins Spiel, die dazu führen können, dass aus der Pandemiekrise eine Demokratiekrise wird. An erster Stelle kommt es darauf an, eine quasi-absolutistische Interpretation der Situation zu vermeiden, die freilich weit verbreitet ist. Ihr zufolge hat „der Staat“ (oder „die Regierung“) uns unsere Freiheiten einstweilen weggenommen, bis uns nach Wohlverhalten wieder zugetraut wird, sie gescheit zu nutzen. Der Staat besitzt die souveräne Macht und Autorität dazu, und „Freiheit“ heißt für uns lediglich, tun und lassen zu dürfen, was wir wollen – wenn wir dürfen. Diese Deutung ist unabhängig davon, ob man glaubt, der Staat habe für sein Vorgehen gute oder schlechte Gründe. Sie findet sich bei den Gehorsamen wie auch den „Querdenkern“.
Eine demokratische Lesart sagt demgegenüber, dass wir kollektiv als Rechtfertigungsgemeinschaft unsere souveräne Freiheit in der Einsicht und dem Entschluss gebündelt haben, uns verantwortlich zu verhalten und dies auch rechtlich festzuschreiben, ohne die Geltung der Grundrechte in Frage zu stellen, die weiterhin gerichtlich eingeklagt werden können. Wir waren politisch autonom darin, unsere individuelle Handlungsfreiheit aus guten Gründen zu beschränken – im Rahmen der Gesetze und der Verfassung, nicht im Modus exekutiver Selbstautorisierung. Denn in einer Demokratie sind auch Exekutiven demokratische Organe und in hohem Maße rechtfertigungspflichtig. Wir erleben gerade Momente höchster Rechtfertigungsanspannung, in deren Zentrum Regierungen stehen.
Dabei ist es richtig, eine stärkere Rolle der Parlamente bei den wichtigsten Entscheidungen zu etablieren, damit Regierungen ihren Rechtfertigungspflichten nachkommen und gegebenenfalls Gesetze nachjustiert werden können. Man muss dabei allerdings aufpassen, dass die Differenz zwischen der fallbezogenen Anwendung eines Gesetzes in Form einer Verordnung und dem allgemeinen Gesetz selbst nicht eingeebnet wird; diese Grenze ist bei dem ad hoc (übrigens: mit maßgeblicher Beteiligung der Exekutive) zustande gekommenen neuen Paragraphen des Infektionsschutzgesetzes berührt.
Für die Demokratie ist es von größter Relevanz, welche der beiden Deutungen obsiegen wird – und an dieser Stelle stehen wir heute. In Deutschland hat obrigkeitsstaatliches Denken eine lange Tradition, und schon immer hat es das demokratische Selbstverständnis überlagert. Aber so schleicht sich die Krise in das Herz der Demokratie ein: Wenn ihr ihr eigener Begriff verloren geht. Eine Demokratie reagiert anders auf eine Pandemie als ein autoritärer Staat, nämlich im Modus öffentlicher Rechtfertigung. Daran muss man festhalten, will man die demokratische Qualität der Krisenreaktion betonen.
Hier aber entsteht ein Dilemma. Die öffentliche Rechtfertigung der Maßnahmen muss zugeben und einrechnen, dass es Grenzen des Wissens über den Pandemieverlauf gibt, selbst bei bester epidemologischer Beratung. Je ehrlicher aber diejenigen sind, die Entscheidungen unter solchen Bedingungen der Unsicherheit treffen müssen, umso prekärer wird das Vertrauensspiel. Ehrlichkeit schafft Vertrauen, der Eindruck der Orientierungslosigkeit aber gefährdet es. Eine Tugend wandelt sich an einem schmalen Grat der politischen Wahrnehmung in eine Untugend.
An dieser Stelle entsteht politische Unwägbarkeit. Auf Seiten der Entscheidungsträger reagieren einige Politpaternalisten darauf mit Brachialrhetorik und quasi-monarchistischem Gehabe. Andere sind vorsichtiger. Auf Seiten der Bürger und Bürgerinnen wächst die paradoxe Sehnsucht nach strenger Führung, was aber nur die eigene Verantwortung für die weitere Entwicklung abschiebt. In solchem Geiste droht die Regression – also der Umschlag der Demokratie in den Wunsch von Untertanen nach „klarer Ansage“. Die spiegelbildliche Regression ist die Zurückweisung demokratisch legitimierter Maßnahmen als Diktatur. Beide Regressionen schaukeln einander auf.
Mehr noch als quasi-absolutistische Möchtegernnotstandsherrscher muss man freilich die Populisten fürchten, die selbst an der Spitze von Regierungen stehen und sich zu Helden der Verteidigung der anarchischen Willkür aufschwingen, keine Maske tragen zu müssen. Hier regiert die Verantwortungslosigkeit, die sich selbst als Freiheit ausgibt. Wenn die Pandemie dazu führte, dass diese Volksverdreher demaskiert werden, hätte sie zumindest ein Gutes gehabt. Aber das Beispiel Donald Trumps zeigt, dass gerade autoritäre Führer gerne libertäre Argumente vorbringen und damit nachhaltig Massenwahnsinn auslösen können.
Demokratische Regression ist aber nicht nur bei solchen akuten Fällen von Realitätsverweigerung anzutreffen. Auch dort, wo Bürger und Bürgerinnen sich in Untertanen verwandeln, die Befehle, Verbote und schließlich Aufhebungen von Hausarrest lieben, geht das für die Demokratie essenzielle Bewusstsein verloren, dass wir selbst es sind, die einander Gründe für die für alle geltenden rechtlichen Normen und sozialen Verhaltensweisen schulden. Diese Rechtfertigung lässt sich nicht abtreten, weder an Legislativen noch an strenge Exekutiven. In diesem Rechtfertigungskontinuum gibt es Streit, aber der ist nicht nur unabwendbar, sondern förderlich. Bürger und Bürgerinnen müssen das Begründungsspiel der Demokratie als ihr eigenes begreifen, nicht als eines, das ihnen nur vorgeführt wird. Und sie müssen es als eines bewahren, in dem Wahrheiten und Tatsachen zählen.
Dieser Punkt gelebter Demokratie verweist auf die strukturellen Voraussetzungen dafür, dass solches Bewusstsein entstehen kann und nicht nur ein Traumgebilde für Sonntagsreden bleibt. Das Thema demokratischer Entfremdung ist weit gefächert, aber im Kontext der Corona-Pandemie ist von größter Relevanz, dass nicht nur „der Staat“ weiß, sondern wir alle uns bewusst sind, was die vielfach geäußerte Ansicht bedeutet, dass das Virus zwar uns alle bedroht, aber nicht alle gleichermaßen, denn dies gilt genauso für die Maßnahmen zu seiner Eindämmung. Es gilt daher, den Fokus so einzustellen, dass diese Maßnahmen vor denen gerechtfertigt werden können, die am verwundbarsten sind. Dies sind auch heute und morgen die, die schon gestern krank waren, unter schlechten Bedingungen arbeiten und beengt wohnen mussten und nun womöglich Arbeit und Einkommen verlieren. Das sind oft nicht die, die auf der Straße laut sind.
Daraus erwächst eine wichtige Lehre für die Demokratie. Demokratien sind keine Instrumente für die egoistische Interessensdurchsetzung von Mehrheiten, sondern idealerweise politische Lebensformen, in denen die Beteiligten einander als Gleiche respektieren und nach Rechtfertigungen für allgemein geltende Normen suchen, die vor denen bestehen können, die schlecht abschneiden. Ihre kritische Frage, ob eine Regelung gerecht ist, ist die eigentliche Frage der Demokratie. Anders gesagt ist eine Demokratie, die nicht bereit oder in der Lage ist, angebliche „Gesetze“ der Märkte so zu ändern, dass die sozialen und ökonomischen Verhältnisse wahrhaft allgemein zu rechtfertigen sind, bestenfalls eine Partialdemokratie. Hier steht derzeit eine große Bewährungsprobe an: Wenn es möglich war, im Angesicht der Pandemie so stark in die Ökonomie einzugreifen, muss dies im Sinne des Gemeinwohls und der Gerechtigkeit weiterhin möglich sein. Bei der Produktion und der Verteilung von Impfstoffen kann dies getestet werden.
Partialdemokratien produzieren nicht nur ökonomisch-soziale Risse und Segmentierungen. Sie haben gravierende kulturelle Aspekte. Die Demokratie in Deutschland laboriert traditionell daran, dass der Demos-Begriff seit dem 19. Jahrhundert ethnisch-kulturell definiert wurde. Viele Jahrzehnte der Auseinandersetzungen haben daran einiges geändert, aber nicht so viel, dass nicht die Tendenz bestünde, Infektionsherde ethnisch oder religiös zuzuordnen – als ob nicht die Arbeitsbedingungen in Schlachtbetrieben und die Lebensbedingungen in Unterkünften für Asylsuchende, sondern kulturelle Unzuverlässigkeit zur Virusausbreitung führten. Generell ist ja der Wunsch stark, die anonyme Gefahr durch das Virus zu personifizieren – die Rede vom „China-Virus“ ist nur ein Beispiel dafür aus dem Arsenal eines professionellen Diskursvergifters.
So schleicht sich ins Zentrum der Demokratie, in den Begriff des Volkes, der auf eine bestimmte Verwandtschaftsgemeinschaft reduziert wird, die „zusammenhält“, der Spaltpilz der Xenophobie ein. Mitglieder „anderer“ Religionen oder Ethnien gefährden angeblich den Zusammenhalt und gehören nicht recht dazu – sie werden bestenfalls geduldet. Das aber ist einer Demokratie unwürdig, die sich der Menschenrechte verpflichtet weiß, auch aus bitterer historischer Erfahrung heraus. Nationalistisch verengte, „illiberale“ Demokratien verdienen diesen Namen nicht.
Der Nationalismus verengt nicht nur nach innen. Die Pandemiekrise führte reflexhaft zu einem Abgrenzungsdenken zurück, das selbst innerhalb der Europäischen Union in kürzester Zeit die Schlagbäume herunterließ. Die Rückkehr nationaler Egoismen in den Hochphasen der Pandemie wird besonders in den Ländern des europäischen Südens nicht vergessen werden, und die EU steht an einem Scheidepunkt ihrer politischen Handlungsfähigkeit. Der vorerst nur mühsam eingehegte Streit über Coronahilfen (Wiederaufbaufonds) und Rechtsstaatlichkeit ist nur eine weitere Eskalation einer Diskussion gewesen, die zu einer stärkeren Vergemeinschaftung auf sozio-ökonomischem Gebiet führen muss. Vielleicht kann hier die Krise eine Chance sein, auch im Blick auf eine gemeinsame Impfpolitik. Dies darf keine Alternative zwischen suprastaatlicher Technokratie und nationaler Demokratie werden, denn in einem so hoch verdichteten System wie einer Union mit gemeinsamer Währung und Finanzpolitik müssen die demokratischen Entscheidungsstrukturen den transnationalen Realitäten nachwachsen, die entstanden sind. Sonst droht eine gewaltige Strukturkrise, die dazu führt, dass regressive Interpretationen einer Renationalisierung den Demokratiebegriff weiterhin besetzen.
Aber Europa ist nicht die Welt. Wir leben in einem System globaler „Kooperation“, das die wohlhabenden Gesellschaften begünstigt, und dieses Wuchern quasi-feudaler Privilegien ist demokratieunverträglich. Die Rechtfertigungsgemeinschaft endet in einer globalen Welt nicht an nationalen oder europäischen Grenzen, das sollte man in dieser Krise erkennen können. Wer nicht aus moralischen Gründen einsieht, dass die nötigen Impfstoffe rasch und allgemein zugänglich verfügbar sein müssen, wird vielleicht so klug sein zu sehen, dass man keine Welt wollen kann, in der man alleine immun ist.
Hier kommt der tiefere Grund zum Vorschein, weshalb sich die Demokratie in den genannten partizipatorischen, sozialen, kulturellen und transnationalen Hinsichten verändern muss. Die Pandemie führt dazu, dass das traditionelle Bild von der demokratisch-nationalen „Familie“, die zusammenrückt, in Krisenzeiten stark hervortritt. Aber auf die strukturellen Fragen der Demokratie, wie sie in einer transnational vernetzten Welt die Macht generieren kann, gemeinwohlorientierte Politik über den konventionellen Tellerrand hinaus zu gestalten, gibt dieses Familienbild keine Antwort. Mehr noch, es droht neben der Struktur- eine Rechtfertigungskrise derart, dass der Begriff der Demokratie von nationalistischen Selbstbehauptungsdiskursen gekapert bzw. infiziert wird.
Rainer Forst, Jahrgang 1964, ist Professor für Politische Theorie und Philosophie. 2012 erhielt er den Leibniz-Preis. Forst ist Co-Sprecher des Forschungsverbunds „Normative Ordnungen“ an der Frankfurter Goethe Universität.