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Der Wald: So grün, so sanft, so deutsch

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Von: Björn Hayer

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Mond über dem Wald.
Mond über dem Wald. © AFP

Wem gehört der Wald? – dieser Streit entspinnt sich aktuell nicht allein an ökologischen Fragen, sondern weist auf kulturgeschichtliche Traditionsbildungen zurück.

Die Natur schöpft sich ins Maß. Schreckliche Schwerkraftgesetze werfen Bäume auf Leute. Tolle Füchse springen vor. Bitte die Büchse“, ertönt es im Wald, um dem unordentlichen Treiben ein Ende zu setzen. Zum Glück gibt es überdies das Fernsehprogramm, das den Wald grün und lieblich zeigt. Denn „auf dem Land zählt ja das Original nichts, wenn die Kopie besser ist. Die Kopie ist glatter als das Original.“ Nachzulesen sind diese bitterbösen Finten auf Ideal und Wirklichkeit des Waldes in Elfriede Jelineks frühem Roman „Oh Wildnis, oh Schutz vor ihr.“

Obwohl dieser Text schon fast zwei Dekaden alt ist, hat er nichts an Aktualität eingebüßt. Mit heftiger Emotionalität wird derzeit ein Glaubenskrieg über die Rettung und „richtige“ Gestaltung unserer durch den Klimawandel gebeutelten Forstbestände geführt. Während die einen auf der gezielten Verjüngung der Baumbestände und der Erhöhung der Abschussquoten beharren, um dadurch vermeintlich Bissschäden vorzubeugen, insistieren andere auf einer in Teilen von den Studien Peter Wohllebens unterstützten Strategie der Zurückhaltung. Letztere verweisen auf Naturreservate und Modellregionen in Luxemburg und der Schweiz, die gerade ohne menschliche Intervention seit vielen Jahren hervorragend gedeihen. Überdies vernimmt man vermehrt sowohl ökologische als auch ethische Vorbehalte gegenüber der „Populationsregulierung“ von Füchsen, Rehen, Wildschweinen & Co.

Wer hat also recht in dieser aufgeheizten Debatte? Jene, die gegen den die traditionelle Forstpolitik dominierenden Anthropozentrismus argumentieren oder jene, die gezieltes Management zur Herstellung der ökologischen Balance für unerlässlich halten? Fakt ist jedenfalls, dass es wohl den Wald nicht mehr gibt und vielleicht auch nie gab. Wie er zu einer Konstruktion wurde, zeigt ein Blick in die Kulturgeschichte. Sie hat ihn von Anfang an zum verborgenen Raum erklärt.

Schon lange vor den Grimm’schen Märchen, in denen sich Hänsel, Gretel und Rotkäppchen auf finsteren Pfaden verlaufen und schließlich um ihr Leben bangen müssen, findet sich in Dantes Opus magnum „Die göttliche Komödie“ (1472) der zum geflügelten Wort avancierte Satz: „Als unseres Lebens Mitte ich erklommen, befand ich mich in einem dunklen Wald, da ich vom rechten Wege abgekommen.“ Alles Weitere ist bekannt: Der Dichter wird zunächst die Tiefen der Höllenkreise durchschreiten, bevor ihm am Ende himmlische Erlösung durch seine Geliebte Beatrice zuteil wird.

Sieht man von der famosen Metaphorik ab, so lässt sich der Wald hier als Eingang in ein zumindest anfangs irrationales Reich bestimmen. Bis in die Romantik hält sich dieses Stereotyp. Noch Joseph von Eichendorff wird in seinem Gedicht „In der Fremde“ (1833) über die Desorientierung inmitten des Dickichts schreiben: „Ich hör die Bächlein rauschen / Im Walde her und hin, / Im Walde in dem Rauschen / Ich weiß nicht, wo ich bin.“ Gewiss mögen derlei Beschreibungen auf die Dunkelheit und Undurchschaubarkeit der Topografie, möglicherweise aber auch auf reale, dem kollektiven Bewusstsein eingeschriebene historische Begebenheiten wie die Schlacht im Teutoburger Wald zurückgehen.

Spätestens seit dem Mittelalter steht daher, wie auch viele Ritterromane dokumentieren, fest: Der Wald, diese dämonische Hemisphäre, muss eingehegt werden. Bis in die Gegenwart dominiert trotz der Öko-Bewegung im 20. Jahrhundert diese Vorstellung einer regulierenden Forstwirtschaft. Während der Arten- und Tierschutz der Spätmoderne vor allem das individuelle Wesen in den Blick nimmt, verfolgt erstere einen systemischen Ansatz. Hiernach wird der Wald als ein Netz unterschiedlicher Akteure betrachtet. Sie – auch zu Lasten Einzelner – in Balance zu halten, mithin Schädlinge durch den Einsatz spezifischer Gegenmittel zu bekämpfen, stellt den Anspruch einer sich auf eine lange Tradition berufenden Waldpolitik dar.

Ihr schärfstes Schwert ist eine nicht minder kulturell gewachsene Praktik, nämlich die Jagd. Mal als Freizeitvergnügen der Fürsten, mal als Symbol einer wirksamen Maskulinität oder schlichtweg als scheinbare ökologische Notwendigkeit fungiert das Werk der Waidmänner, gegen das Tierrechtlerinnen und Tierrechtler wie Bernd Ladwig oder Friederike Schmitz zurecht Erkenntnisse neuerer Forschungen einwenden. Wie notwendig ist etwa noch der Abschuss von Füchsen, nachdem die weitestgehend ausgemerzte Tollwut als Hauptgrund für die Bestandsbegrenzung weggefallen ist und die Republik über eine „Mausplage“ auf den Feldern klagt? Wie effizient ist eine Wildschweinbejagung, wenn sie bei den Bachen zu einer stressbedingten Erhöhung der Fertilität beiträgt? Dabei ist von den ethischen Aspekten und einem Lebensrecht hoch entwickelter und gemeinschaftsbildender Tiere noch gar nicht die Rede.

Ungeachtet der dahinter liegenden, noch immer vorherrschenden Vorstellung, Unvernunft und Chaos aus der Wildnis entfernen zu müssen, lassen viele Zeugnisse der Kulturgeschichte auch ein freiheitliches Bild vom Wald aufschimmern. „Daß Deutschland nicht so weit verwirthschaftet werde“, fordert bereits Achim von Arnim in seiner Vorrede zur Sammlung „Des Knaben Wunderhorn“ (1805), womit er sich deutlich gegen weiträumigen Holzeinschlag und -handel wendet. Und Henry David Thoreau konstatiert in dem berühmtesten Aussteigerroman „Walden“ (1859): „Wollt Ihr Euch wohl fühlen, dann achtet darauf, mit jeder Stimmung der Natur in Harmonie zu sein“.

Obgleich Vertreter des ausgehenden 18. und 19. Jahrhunderts auch die Imagination vom unschuldigen Hain maßgeblich prägten, konnte sich diese Idee allenfalls als Sehnsuchtsmotiv halten. Erklären könnte die Popularität der lenkenden Forstwirtschaft sicherlich ebenso die patriotische Überhöhung des Waldes, fungiert er doch seit der bereits erwähnten Varusschlacht als das Identifikationszeichen der Deutschen schlechthin. Es geht offenbar nicht nur um technische Fragen wie Bepflanzung, Bodenbeschaffenheit, Wasser- und CO²-Speicher. Vielmehr kreisen die erhitzen Diskussionen um ein so nicht ausgesprochenes Drittes: die Heimat. Je mehr die Grünzonen dadurch affektiv aufgeladen werden, desto mehr verlieren in der Auseinandersetzung sachliche und wissenschaftliche Argumente an Gewicht. Statt eines Ökosystems haben manche lieber die eigene Seelenlandschaft in Bäumen, Moosen und Farnen vor Augen.

Doch so wie im Laufe der Modernisierung auch andere vermeintliche und letztlich kulturell geformte Wahrheiten über Geschlechterverhältnisse und ethnische Zuschreibungen revidiert wurden, so würde man auch dem Wald und seinen Bewohnern wünschen, nicht mehr von Projektionen überblendet zu werden. Man möchte ihm seine Wildheit zurückschenken und ihm das Geheimnis zubilligen, das Adalbert Stifter in „Der Hochwald“ (1852) andeutet. Hierin wuchern die Zweige und Äste, als verfügten sie über ein bislang unentdecktes Eigenleben. Aber auch der Dichter hinter der Naturprosa, dessen Odem durch sie hindurchweht, wusste eben schon so ernüchternd wie wohl visionär, dass auch seine Figuren „in den Wald nun begierig wie in eine liebliche grüne Fabel eindringe[n].“

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