„Der Spiegel“ ist 75: Die frühen Jahre eines unbotmäßigen Magazins

Heute vor 75 Jahren erschien die erste Ausgabe des Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“. Die FR sagt, was ist: Alles Gute zum Geburtstag!
Ich wurde im August 1946 geboren. Ich bin also ein paar Monate älter als „Der Spiegel“. Die erste Erinnerung, die ich an das Nachrichtenmagazin habe, lautet: „Ihr dürft das nicht lesen. Erst die Primaner.“ Ich war vierzehn und in einem Internat.
Meine zweite Erinnerung stammt aus dem Oktober 1962. Ich war in Frankfurt am Main auf der Hauptwache und sah junge Männer, in Anzug und Krawatte, die protestierten, gegen das Vorgehen der Regierung gegen den „Spiegel“. Das Magazin hatte unter der Überschrift „Bedingt abwehrbereit“ auf Ausstattungsmängel der Bundeswehr hingewiesen. Im Internat hatten wir darüber diskutiert. Ich kann mich nicht an auch nur einen einzigen Schüler erinnern, der den Einmarsch von Polizei und Staatsschutz in die Redaktionsräume des „Spiegel“ gut oder auch nur verzeihlich gefunden hätte. Wir Schüler plädierten alle für Pressefreiheit. Wir sahen keinen „Abgrund von Landesverrat“, sondern nur Journalisten, die sich dafür entschieden hatten, uns zu sagen was ist, statt was die Regierung uns glauben lassen wollte. Es gab einen Oberprimaner, der, wenn ich mich recht erinnere, sagte: „das Schlimme an der Bundeswehr ist nicht, dass sie schlecht ausgestattet ist; das Schlimme ist, dass es sie gibt.“ Es war eine sehr vereinzelte, sehr radikale Stimme.
Ich bewunderte die „Spiegel“-Journalisten. Weniger für das, was sie geschrieben hatten, als vielmehr dafür, dass sie bereit gewesen waren, so viel Ärger dafür in Kauf zu nehmen. Vor allem bewunderte ich Rudolf Augstein. Ein zierlicher, unwahrscheinlich klug wirkender Mann; ganz offensichtlich ein Intellektueller, der es verstand, sehr viel Geld zu verdienen, eine, das spürte ich schon damals, sehr seltene Mischung.
Ich gehöre zu jener Generation, die aufwuchs, als es den „Spiegel“ bereits gab. Er war ein Magazin gegen Konrad Adenauer und Franz Josef Strauß. Das machte ihn für viele von uns zu einem wichtigen Mittel der Verständigung über die Bundesrepublik und die Weltlage, in der wir uns bewegten. Er war zu keinem Zeitpunkt ein – was immer das auch sein mag – linkes Medium.
Der „Spiegel“ war niemals systemkritisch. Er war immer viel zu nahe dran, um den Blick auf das Ganze richten zu können. Er förderte Referentenentwürfe und interne Papiere der Ministerien an die Öffentlichkeit. Die wurde dadurch fast zu so etwas wie einem „teilnehmenden Beobachter“ der Politik. Der Spiegelleser, die Spiegelleserin kam erst später, lernte wie Demokratie, wie ihre Institutionen funktionierten. Er lernte nicht, sie zu praktizieren.
Aber das sind Prozesse, die mit Samstag dem 4. Januar 1947 und den ersten Erfolgen des Blattes nichts zu tun haben. „Der Spiegel“ erschien damals in Hannover. Er war der Nachfolger eines im November 1946 gegründeten Blattes, das „Diese Woche“ hieß und der britischen Militärverwaltung unterstand. Von den drei verantwortlichen Presseoffizieren waren zwei emigrierte deutsche Juden. Einer von ihnen war kommissarischer Chefredakteur. Mit der siebten Ausgabe wurde das Blatt in deutsche Hände übergeben.
Rudolf Augstein, der das Deutschland-Referat bei „Diese Woche“ geleitet hatte, erhielt zusammen mit zwei anderen Herren die Verlegerlizenz und übernahm das Magazin, das er alsbald „Der Spiegel“ nannte und als dessen Herausgeber und Chefredakteur er zeichnete. Zwischen den drei Presseoffizieren und Augstein soll es eine Vereinbarung gegeben haben, sie an dem neuen Verlag zu beteiligen. Dazu kam es nicht.
Dann kam das alles verändernde Jahr 1950. Damals hatte der „Spiegel“ schon eine Auflage von 100 000 Exemplaren, aber Augstein hatte Größeres vor und brauchte erhebliche Summen. Der Hamburger Verleger John Jahr – „Gruner + Jahr“ – stieg mit 50 Prozent beim „Spiegel“ ein. Die Karten wurden neu gemischt: Der „Spiegel“ zog um nach Hamburg – eine Forderung Jahrs – und Augsteins Lizenzträger-Kollegen und die britischen Presseoffiziere wurden mit Beträgen wie 3000 DM abgefunden. Ein Bombengeschäft.
1949 schon war das „Spiegel-Statut“ beschlossen worden. Darin hieß es unter anderem: „Alle im Spiegel verarbeiteten und verzeichneten Nachrichten, Informationen, Tatsachen müssen unbedingt zutreffen. Jede Nachricht und jede Tatsache ist peinlichst genau nachzuprüfen.“ Das war ein neuer Ton. Die meisten Presseorgane waren damals noch Parteiblätter. Menschen kauften sie um ihrer Gesinnung willen.
Der Blick auf Tatsachen ist immer der Blick für Details, für Einzelheiten. Der „Spiegel“ half beim Zivilisationsprozess der Bundesbürger. Er weckte und fütterte ihre Neugierde für die Vorgänge im politischen Alltagsgeschäft, und er gewöhnte sie daran, dass man dabei auch rücksichtslos vorgehen sollte. Die „Spiegelschreibe“ war Ausdruck dieser Haltung, zugleich beförderte sie sie. Der in den frühen Jahren meist anonym bleibende Schreiber war wie ein Autor: Er wusste alles besser. Die in der Wirklichkeit und ihren Widersprüchen sich bewegenden realen Menschen, Politiker oder Bürokraten, waren per se dümmer als die über sie berichtenden Journalisten.
Das war die eigentliche Revolution des „Spiegel“. Er war niemals ein „Sturmgeschütz der Demokratie“. Schon darum nicht, weil in den mehr als 70 Jahren bundesrepublikanischer Geschichte niemals Sturmgeschütze aufgefahren werden mussten, um die Demokratie zu schützen. Die militärische Metapher belügt uns über die – bei allen Auseinandersetzungen – doch zutiefst zivile, friedliche Konstitution der Bundesrepublik. Der Ton der Unbotmäßigkeit – das war die Botschaft des „Spiegel“. Sie war immer verbunden mit der engsten Zusammenarbeit mit den staatlichen Stellen. Die Studenten, die ich 1962 für zum Beispiel den inhaftierten Autor des Artikels „Bedingt abwehrbereit“ hatte demonstrieren sehen, hätten niemals geglaubt, dass dieser Mann, der übrigens 1959 auch einmal innenpolitischer Redakteur der Frankfurter Rundschau gewesen war, sieben Jahre später Chef des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung werden würde. Die Nähe von Presse und Politik war immer schon größer als die Liebhaberinnen und Liebhaber der Unabhängigkeit der Presse das wahrnehmen wollten.
Wer einen Blick werfen möchte auf die frühe bundesrepublikanische Presse, der muss unbedingt lesen: Hachmeister/Siering: „Die Herren Journalisten – Die Elite der deutschen Presse nach 1945“ (C. H. Beck 2002). Das Buch zeigt, wie wichtig in nahezu allen Presseorganen der jungen Bundesrepublik die Rolle der alten Nazis war. Im Kapitel 5 wird die Ausnahme geschildert: „Die andere Zeitung – Die Sonderstellung der ‚Frankfurter Rundschau‘ in der deutschen Nachkriegspublizistik“. Das den „Spiegel“ betreffende Kapitel heißt „Ein deutsches Nachrichtenmagazin – Der frühe ‚Spiegel‘ und sein NS-Personal“.
Der aufmüpfige Ton, in dem ich die wahre Revolution des „Spiegel“ zu hören glaube, ist ein Akkord, der aus dem Zusammenklang zweier Töne entstand: Erstens, die freie Presse führt ein freies Wort, eine Botschaft aus dem angelsächsischen Raum. Zweitens, die demokratischen Institutionen der Bundesrepublik werden uns von den Siegern übergestülpt. Wo immer wir können, rebellieren wir gegen sie. Die Verachtung gegenüber den Siegern konnte sich in der Häme gegenüber den von ihnen aufgezwungenen Einrichtungen ein Ventil verschaffen. Eines dieser Ventile war auch der frühe „Spiegel“.
Die Sache hat sich dann allerdings radikal anders entwickelt. Der Kampf gegen die Institutionen wurde nicht mehr von rechts, sondern von links geführt. Er wurde über lange Jahre zu einer Kette von Auseinandersetzungen um mehr Demokratie. Hervorgegangen ist er aber aus einer mehr als ambivalenten Konstellation. Dieser Blick auf die Geschichte mag dem einen oder anderen unangenehm sein. Aber er macht Hoffnung. Demokratie muss nicht von Demokraten und Demokratinnen gemacht werden. Demokratie kann auch Demokratinnen und Demokraten schaffen.