Olaf Scholz wird Kanzler: Die „neue Normalität“ und die alte Arroganz der Macht
Olaf Scholz vermittelt keine Aufbruchsstimmung. Seine Rhetorik ist alles andere als ein guter Einstieg in die Zukunft. Eine Analyse.
Es wird uns nichts geschenkt. Überfordert, wie wir sind, weil Überforderung unser aller gesellschaftliche Realität ist, mutet uns jetzt auch noch Olaf Scholz einiges zu, der zur Ernennung vorgeschlagene Kanzler. Was der Sozialdemokrat sagt, ankündigt, verspricht, haben Vorgänger und die Vorgängerin so noch nicht gesagt.
Scholz sagt nicht: Wir schaffen das. Er lässt durchblicken: Verlassen Sie sich auf mich. Er spricht nicht wie Angela Merkel, sondern wie ein Makler, der nicht über das Kleingedruckte sprechen möchte. Er verspricht keine blühenden Landschaften, er prophezeit, dass die Bürgerinnen und Bürger von dem neuen Kabinett „begeistert“ sein werden. Begeistert? So wie ein Wohlfühloasenmanager hat noch kein (designierter) Kanzler der Bundesrepublik vor seiner Amtszeit gesprochen.
Häufig schon ist bei dem Politiker Olaf Scholz ein maskenhaftes Lächeln beobachtet worden, das listige Belächeln von Fragen, die ihm nicht passen, das ironisch gefärbte Grienen bei Nachfragen, die überhaupt nicht gut sind. Arrogant grinsen kann er auch, danach wird selbst er bissig. Kaum weniger auffällig die Masken seines Sprechens. Ist er doch ein Politiker, der sich häufig bedeckt hält, nicht einer der vollmundigen Worte – nur gelegentlich.
Olaf Scholz: Ein buddhistisch lächelnder Pragmatiker ohne Extravaganzen
Man erinnert sich daran, dass er von der „Bazooka“ sprach, die man auspacken werde, um die Wirtschaft vor den Folgen der Corona-Krise zu schützen. Vollmundig war auch seine Ankündigung, als er das milliardenschwere Konjunkturpaket zur Bekämpfung der Krise als „Wumms“ bezeichnete. Scholz, von dem bekannt ist, dass er Karl Marx und Karl May gründlich gelesen hat, ist auch ein, wow, emsiger Comicleser? Er wird ebenso wie seine Berater wissen, dass das onomatopoetische, das lautmalende Sprechen besonders gut durchdringt, wenn es darum geht, sich nicht mit Argumenten aufzuhalten, sondern an Emotionen zu appellieren.

Für Scholz, der in dem Ruf steht, ein Pragmatiker zu sein, und dieses Image auch – gleichsam buddhistisch lächelnd – bestätigt, waren das rhetorische Ausreißer, geradezu Exzesse, die umso mehr auffallen mussten. Nicht aufbauschen, nicht zuspitzen, das ist sicherlich eine Kanzlertugend in Krisenzeiten. Aber sind es auch Beschönigungen, Ausflüchte in Klischees? Nach dem Motto: alles gut. Gut ist das Wort überhaupt, das Scholz bei fast jeder Gelegenheit nutzt, um es zu kombinieren, von der guten Rente über ein gutes Klima bis zu guten Koalitionsgesprächen. Alles gut, kein Grund sich Sorgen zu machen?
Extravaganzen kommen zweifellos nicht gut an, sehr gut erst recht nicht in Zeiten der Krise. Wohl deshalb meinte Scholz am 15. April 2020 auf einer Pressekonferenz: „Wir bewegen uns in eine neue Normalität“ – wobei er die Corona-Pandemie meinte, eine Periode, „die längere Zeit anhalten wird“. Verständlich, dass ein verantwortlicher Politiker das Wort Notstand nicht normal findet, ein verantwortungsbewusster ihn gar vermeiden möchte. Aber die Corona-Pandemie eine „neue Normalität“? Wenn die Gender-Debatte etwas gezeigt hat, dann hoffentlich, wie sehr Wortwahl Macht über das Bewusstsein hat – und Verhaltensweisen. Man muss nicht an neueren Wortschöpfungen wie „framing“ hängen, um den seit George Orwells seligen Zeiten so bezeichneten Neusprech, den auch Scholz gezielt einsetzt, als eine Taktik der Beeinflussung zu begreifen, diesmal berechnet auf Entdramatisierung, aber auch auf Gewöhnung. In diesem Fall ein Abfinden mit einem Ausnahmezustand.
Bedürfnis nach Sicherheit und Kontinuität spülen Olaf Scholz ins Kanzleramt
Das Bedürfnis nach Sicherheit und Kontinuität hat dem SPD-Kandidaten die Kanzlerschaft beschert. Seine Strategien basieren auf einem Kommunikationsstil, den nicht wenige Kommunikationsberater durchdesignt haben dürften. So offensichtlich das Interesse an Camouflage – man denkt irgendwann aber an Konrad Adenauer, an seinen Wahlkampfslogan „Keine Experimente!“ Das war ein sozialpolitischer Appell an die Nation, der sich auch sprachlich niederschlug.
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Wie aber verträgt sich ein solches Motto mit einer in den letzten Wochen immer wieder bekannt gegebenen Aufbruchsstimmung, einer den Bürgerinnen und Bürgern von SPD, Grünen und FDP geradezu hochherzig verkündeten Zeitenwende. Politentertainment? Marketing? Politainment? Oder bloß ein sehr, sehr simpler Widerspruch? Denn hinter dem Slogan verbarg sich noch nie ein visionäres Quantum. Oder auch nur ein rebellisches.
Wie sehr Scholz keine Experimente wichtig sind, zeigte sich innerparteilich. So stand der zukünftige SPD-Kanzler am vergangenen Wochenende in Frankfurt auf der Bühne des Juso-Bundeskongresses. Dabei blieb es nicht harmonisch. Die im Koalitionsvertrag vereinbarte Migrationspolitik sei „scheiße“, Frontex eine „Verbrecherbande“, die Mietpolitik preisgegeben an die Interessen der FDP. Scholz hörte sich das alles an, lächelnd. Keine Konfrontation, es ließe sich sagen: Er saß die Stunden auf dem Kongress aus.
Olaf Scholz will ein sozialdemokratisches Jahrzehnt
Scholz hat die erklärte Absicht, das 2020er-Jahrzehnt zu einem sozialdemokratischen zu machen. Zudem hat er den Plan, und da kommt ihm eine desolate Union entgegen, länger als nur eine Legislaturperiode Kanzler zu sein. Insofern reagiert er nicht kurzsichtig, vermeintlich verbissen wie die Jusos, sondern spricht ausnehmend höflich über die Koalitionspartner, Grüne und FDP.
So unbestritten, dass die Koalitionsverhandlungen von einer erstaunlichen Vertraulichkeit geprägt waren, zum Politainment gehörte der Videoclip, der die Koalitionäre durch eine Berliner Industriekulisse stiefeln sieht, so populistisch wie präpotent. Man muss kein Filmhistoriker sein, um die Anleihen zu erkennen, etwa „Die glorreichen Sieben“, denn es waren ja tatsächlich sieben, neben Scholz, Baerbock, Habeck und Lindner auch Esken, Borjans und FDP-Mann Wissing. Oder waren es „Die sieben Samurai“, ganz bestimmt nicht die „Vier Fragezeichen“. Es ließe sich belächeln – andererseits: der zukünftige Kanzler, anders als die sehr stolze Baerbock, sah ein wenig angestrengt aus.
Zu sehen ist nicht nur eine Koalition, sondern, so die Botschaft, eine entschlossene Gemeinschaft, beinahe eine Gang. Daher die schroffe Industriekulisse? Wie auch immer, jede Gang definiert sich über kulturelle Gemeinsamkeiten. Auch die Ampel-Koalition fände nicht zusammen, wenn sie nicht auf einem Lifestyleprojekt gründete. Und so mahnte Scholz auf dem Juso-Kongress am Wochenende die womöglich aufsässige Parteijugend, sie möge doch gerne die Oppositionsparteien CDU und CSU hart rannehmen, aber lieber nicht den Koalitionspartner FDP. Für Außenstehende ein erstaunlicher Vorgang – für Jusos höchstwahrscheinlich ein empörender. Hätte der Juso Scholz, wenn ihm das vor 25 Jahren geraten worden wäre, höhnisch aufgelacht? Oder milde gelächelt?
Olaf Scholz auf dem Weg zum Basta-Kanzler
Ist das die neue Koalitionskultur, die bereits angekündigt wurde, als sei sie ein Millenniumsprojekt? Fraglos hat die neue Koalition die vier absehbar größten Probleme der Regierung Merkel geerbt: die geopolitische Krise der Europäischen Union, die Migrationskrise, die Coronakrise in Form der vierten Welle und die nach dem Klimagipfel von Glasgow ungelöste Klimakrise – die Jahrhundertaufgabe überhaupt. Ist eine Koalition je härter mit den Hinterlassenschaften ihrer Vorgängerin konfrontiert worden?
Wie zur Bestätigung, dass es sich um eine Kanzlerdemokratie handele, sprach Scholz die großen Worte aus: „Wer bei mir Führung bestellt, muss wissen, dass er sie dann auch bekommt.“ Muss wissen – das ist die eigentliche Botschaft. Zweifel unangebracht, trotz der Planlosigkeit der neuen Anti-Corona-Koalition ausgerechnet auf dem Höhepunkt der Pandemie. Basta.
Natürlich ließe sich auch tiefer blicken, auf die feinen Unterschiede zwischen Sprache und Sprechen, darauf, dass sprachliche Performativität per se vieldeutig ist, überschüssig, in ihren Wirkungen unabsehbar. Dass die Kluft zwischen Sprache und Sprechen ein weites Forschungsfeld ist, ein Betätigungsfeld der Sprachphilosophie von Johann Gottfried Herder vor mehr als 200 Jahren über Wilhelm von Humboldt bis in die Gegenwart ist, war kein Trost an dem Abend, als man Scholz in einem Gespräch im „heute journal“ vom 24.11. hörte. Die Frage betraf die Personalie des zukünftigen Bundesgesundheitsministers, einen sicherlich nicht unwichtigen Posten in der Pandemie, aber vakant. Daraufhin Scholz: „Mit mir hat darüber keiner gesprochen und kann es auch nicht. Weil wir uns jetzt die wenigen Tage, die wir bis zur Regierungsbildung haben, vorgenommen haben, ein sehr, sehr gutes Kabinett zu bilden mit erstklassigen Frauen und Männern, über die die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes begeistert sein werden.“
Olaf Scholz und der Paternalismus nach alter Patriarchenart
Eine vom neuen Kabinett begeisterte Bundesrepublik: Ist das womöglich eine besonders ausgefeilte Resilienztaktik, die uns stark macht gegen Stress? Ich fürchte, man wird sich gegen einen solchen Politmarketingsprech immunisieren müssen. Denn angesagt ist offenbar Affirmation. Deshalb wohl die barsche Reaktion von Scholz, nicht ausgesprochen, aber unmissverständlich: Werden Sie nicht lästig, lassen Sie einfach nur machen. Im Grunde Entmündigung. Aber quengeln Sie nicht so viel. Ein Paternalismus nach alter Patriarchenart, auch wenn er unter der Maske des Lächelns daherkommt. Alles ist gut, ist sehr gut, nein, ist sehr, sehr gut.
Name | Olaf Scholz |
Position | Bundesminister für Finanzen |
Partei | SPD |
Alter | 63 Jahre (14. Juni 1958) |
Geburtsort | Osnabrück (Niedersachsen) |
Das ist natürlich ganz normaler Populismus. Gut immerhin, dass Scholz nicht einen Politikstil der Faktenverdrängung, Wissenschaftsleugnung oder gar Verschwörungstheorien verabfolgt. Beschworen allerdings werden harmonisierte Verhältnisse, bis hin zur Stillstellung von Konflikten. Wie beunruhigend muss für ihn die Polarisierung in der Republik sein, wenn man für sie die Entpolitisierung in Kauf nimmt?
Olaf Scholz: So spricht die Arroganz der Macht
Es gibt noch eine weitere zu wenig beachtete Äußerung von Scholz, ebenfalls im ZDF. Sechs Tage, nachdem der zukünftige Kanzler die Republik darüber im Unklaren gelassen hatte, wer sie als Gesundheitsminister durch die Krise führen soll, antwortete er im „heute journal“: „Die Kanzlerwahl findet im Deutschen Bundestag statt. Und dann werden alle Ministerinnen und Minister zur gleichen Zeit mit ihrer Arbeit beginnen. Und es ist deshalb völlig sicher, dass Sie sich darauf verlassen können, dass Anfang der nächsten Woche alle Männer und Frauen benannt sind, die in die nächste Regierung eintreten werden, und dann, glaube ich, geht die Arbeit los.“
Noch mal: „Es ist völlig sicher, dass Sie sich darauf verlassen können“ – mit anderen Worten: Fragen Sie nicht so viel, es nervt, auch wenn ich lächele. So spricht die Arroganz der Macht. In der kommenden Woche spricht sie den Eid auf die Verfassung. (Christian Thomas)