Grenzüberschreitungen in der Kulturszene: Klima der Angst

Claudia Roth fordert im Fall Til Schweiger eine „lückenlose Aufklärung“. Ein Aktionsplan gegen sexuelle Gewalt soll Beschäftigte schützen.
Grenzüberschreitungen sind in der Kulturszene eher die Regel als Einzelfälle. Neuestes Beispiel: mutmaßliche Schikanen und Gewalt am Set von Til Schweigers Film „Manta Manta 2“: Der „Spiegel“ berichtet in seiner aktuellen Ausgabe darüber. Seit 2018 der Skandal um den Theaterintendanten und Filmregisseur Dieter Wedel hochkochte, steht eine Branche in der Kritik, in der strukturelle Ungleichheiten, extreme Machtgefälle, hierarchische Strukturen, prekäre Arbeitsbedingungen, unsichere Beschäftigungsverhältnisse und Abhängigkeiten herrschen. Die Kulturszene ist deshalb besonders anfällig für Machtmissbrauch, sexuelle Belästigung und Gewalt – das zeigen auch die Zahlen: „Mit 46 Prozent sind Fälle sexueller Belästigung rund fünfmal höher als im Durchschnitt aller Branchen“, zitiert Ferda Ataman, die Bundesbeauftragte für Antidiskriminierung, eine aktuelle Studie.
Grenzüberschreitungen in der Kulturszene: Keine Entwarnung
Heute, fünf Jahre nach Wedel, nach zahlreichen Belästigungs- und Machtmissbrauchsskandalen an Theatern, beim Springer-Verlag und am Filmset, gibt es „keinen Grund zur Entwarnung“, sagt Kultur-Staatsministerin Claudia Roth (Grüne). Sie hatte ins Bundeskanzleramt geladen, um eine Bilanz zu ziehen und Konsequenzen zu verkünden, deren Kernpunkt eine „verbindliche Selbstverpflichtung“ der Branche gegen sexualisierte Übergriffe ist.
Als erste Reaktion auf die Metoo-Debatte war vor fünf Jahren mit einer Anschubfinanzierung die „Themis Vertrauensstelle“ eingerichtet worden, die von Kulturverbänden, unter anderem dem Bundesverband Schauspiel, getragen und gefördert wird. Betroffene sexueller Belästigung und Gewalt aus dem Kulturbereich können sich an die Vertrauensstelle wenden und werden dort psychologisch und juristisch beraten.
Belästigung im Kultur-Bereich: Die Zahlen sind alarmierend
Die Zahlen, die Eva Hubert, die ehrenamtliche Vorsitzende, präsentiert, sind alarmierend: 845 Erstgespräche habe es in fünf Jahren gegeben, 2000 juristische Beratungsgespräche. 48 Prozent der Betroffenen berichten von verbalen und nonverbalen, digitalen, 37 Prozent von körperlichen Belästigungen. In den vergangenen zwei Jahren sei auch von zehn Vergewaltigungen berichtet worden. 46 Prozent der Fälle geschehen an Bühnen, 41 Prozent in der Sparte Film und Fernsehen.
Und dies ist nur ein kleiner Teil eines größeren Problems: Denn Themis sei überhaupt nur etwa einem Drittel der Betroffenen bekannt, außerdem kümmere sich die Stelle explizit um sexualisierte Belästigung, wie Hubert betont. Nicht um Mobbing, psychische Gewalt oder diverse Formen der Diskriminierung. Auch der komplette Bereich der bildenden Kunst sei in den Zahlen nicht abgebildet, da Verbände aus der Sparte keine Mitglieder sind.
Von den Betroffenen, die beraten werden, ging nur ein kleiner Teil den letzten Schritt: Aus Sorge vor beruflichen Konsequenzen reichten nur wenige eine Beschwerde beim Arbeitgeber ein. Es herrsche nach wie vor ein Klima der Angst. Ein weiteres Problem sei, dass für die große Anzahl an freiberuflich arbeitenden Künstlerinnen und Künstlern das AGG, das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz, nicht gelte, sagt Ferda Ataman. Denn das AGG räume nur Beschäftigten ein Beschwerderecht bei sexueller Belästigung ein.
Auch in der Politik ein Problem: Die Politologin Helga Lukaschat spricht im FR-Interview über das erhebliche Ausmaß von sexueller Belästigung in Parteien.
Claudia Roth will das Problem mit einem Aktionsplan angehen
Ein neuer „Aktionsplan“ der Kulturstaatsministerin soll das komplexe Problem nun angehen: Neben mehr präventiven Angeboten vor allem für Führungskräfte und einem Online-Tool, das Institutionen dabei helfen soll, einen strukturellen Wandel einzuleiten, geht es vor allem um einen branchenweiten „Code of Conduct“ gegen sexualisierte Grenzüberschreitungen. Dieser soll noch ab diesem Monat unter Federführung des Deutschen Kulturrats erarbeitet werden und dann zur Selbstverpflichtung der Branche werden. „Wenn die Selbstverpflichtung zu nichts führt, dann werden wir weitere Maßnahmen ergreifen und Verbindlichkeit über Förderung herstellen“, sagt Claudia Roth.
Aus aktuellem Anlass fügt sie hinzu: Eine Filmförderung des Bundes sei auch damit verbunden, dass geltende Arbeitsschutzregeln eingehalten werden. Von der Firma Constantin Film, die „Manta Manta 2“ produziert, sei deshalb eine lückenlose Aufklärung gefordert worden. „Filmsets, Theater, Musikhochschulen müssen Orte sein, an denen alle angstfrei und frei von jeglicher Diskriminierung arbeiten können“, sagt Roth. Die Zeiten „patriarchalischer Macker“, die ihre Machtposition ausnutzen, sollten wirklich vorbei sein.