Das Raumschiff Erde braucht gemeinsame Sicherheit

In einer Replik auf das FR-Streitgespräch zu Putins Krieg stellt Christian Thomas Behauptungen gegenüber Michael Müller auf, die diesem nicht gerecht werden, findet Uwe Wötzel. Eine Entgegnung
Es war ein interessantes Streitgespräch zu Putins Krieg in der Ukraine zwischen dem früheren SPD-Abgeordnete Michael Müller und der Wissenschaftlerin Pia Fuhrhop über Auswege aus der militärischen Eskalation und Moskaus Rolle in einer europäischen Friedensordnung. Beide loteten aus unterschiedlicher Sicht Schwierigkeiten und mögliche Antworten aus. Derartige Diskurse sind gerade heute notwendig. Müller geht es um ein Ende der Eskalation, damit es nicht zu weiteren Orten des Grauens kommt wie zuletzt in Butscha. Er fordert gegen die humanitäre Katastrophe in der Ukraine einen sofortigen Waffenstillstand, Handeln in der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und die Perspektive einer neuen europäischen Friedensordnung, die eine Militarisierung der Außenpolitik überwindet. Und er versteht das als Einheit.
Gegen die Perspektive von Müller urteilt der ehemalige FR-Redakteur Christian Thomas nicht nur grob barsch und unfair, sondern auch ohne sorgfältige Recherche über die Position von Müller. Er unterstellt ihm einen „politischen und moralischen Relativismus ..., der kennzeichnend sei für einen linken Populismus vor der Zeitenwende und auf einer ideologiegetriebenen Lebenslüge basiere“. Und schließlich behauptet er sogar, Müller übersehe die Aggression und die Kriegsverbrechen Putins. Lächerlich. Hätte Thomas sich informiert und beispielsweise die Rede von Müller auf der großen Berliner Kundgebung für den Frieden in der Ukraine gelesen, dann wären ihm derartig plumpe, ja willkürliche Fehler erspart geblieben. Guter Journalismus sieht anders aus.
Um was geht es? Blicken wir kurz aus Perspektive von Passagieren des Planeten Erde auf die Situation. Bei guter Sicht ist nachts die Internationale Raumstation ISS zu sehen. Die Bodenkontrollzentren der ISS in Houston/Texas und Koroljow/Moskau stimmen sich noch heute miteinander ab. Am Boden und im Orbit arbeiten Wissenschaftler:innen und Ingenieur:innen aus über 15 Nationen seit über zwanzig Jahren friedlich mit Erfolg zusammen. Geht doch, könnte man sagen. Wieso eigentlich nicht auch auf der Erde?
Heute, vor dem Hintergrund des völkerrechtswidrigen Angriffskrieges Puttins gegen die Ukraine und der bestialischen Verbrechen der russischen Armee an der Zivilbevölkerung stellt sich die Frage, wie die europäischen Nachbarn zukünftig die Beziehungen zu Russland gestalten. Wir leben nun mal mit Russland, dem größten Land überhaupt, auf dem gemeinsamen Planeten Erde, in Europa in nächster Nähe. Für das Miteinander wurden nach zwei verheerenden Weltkriegen internationale Institutionen geschaffen und völkerrechtliche Abkommen getroffen, um gemeinsam globale Güter, insbesondere Frieden, Gesundheit, Umwelt und Klima, zu schützen. Gegenwärtig erleben wir, dass die russische Regierung gemeinsame Ordnungsregeln missachtet und offenbar sehr kalkuliert die Alternative des Isolationismus wählt. Doch weder ein selbstgewählter noch aufgezwungener Isolationismus kann angesichts der akut drohenden Gefahren für die Menschheit, wie Pandemien und Klimakatastrophe, aber auch neue Hochrüstung, das Fundament für die gemeinsame und sichere Zukunft sein. Die Unsicherheit ist real, zumal Russland nach Angaben des schwedischen Friedensinstituts SIPRI über Hyperschallraketen und 1570 einsatzbereite Atomsprengköpfe verfügt. Bisher gelang es, ein nukleares Inferno zu vermeiden. In zähen Verhandlungen konnten Abrüstungs- und Rüstungskontrollverträge ausgehandelt werden.
Doch diese Instrumente bröckeln. Der INF-Vertrag über die Verschrottung der Mittelstreckenraketen wurde aufgekündigt und nun nach den USA auch von Russland das „Open Skies“-Abkommen beendet. Der „Vertrag über den Offenen Himmel“ trägt zur Überwachung von Vereinbarungen der Rüstungskontrolle sowie zur Konfliktverhütung und -bewältigung bei. Er stellte eine vertrauensbildende Maßnahme im OSZE-Raum dar. Auch um andere Verträge ist es gegenwärtig nicht bessergestellt.
Vor uns liegt die schwierige Aufgabe, mit diplomatischen Mitteln ein neues Fundament für eine gemeinsame Sicherheit zu schaffen. Die vom Bundeskanzler Scholz genannte Zeitenwende ist allerdings bereits seit Jahren im Gang. Aber wer versteht sie? Die Chancen der Charta von Paris von 1990 für ein friedliches Europa wurden nicht genutzt. Die UN-Klimaverhandlungen kommen nur mühsam voran. Die von den USA nach dem Ende der UdSSR erreichte globale Hegemonie neigt sich dem Ende zu. Auch durch das Erstarken Chinas wird sie in Frage gestellt. Dann kann nicht ausgeschlossen werden, dass es zu einem „doppelten Kalten Krieg“ kommt, gegen Russland und China. Also das Gegenteil von dem, was eine nachhaltige Welt braucht. Und dann kann es auch eine „globale NATO“ geben, die sich nicht mehr auf den Nordatlantischen Verteidigungspakt beschränkt, sondern weltweit operiert, weil die USA trotz ihrer gewaltigen Militärausgaben allein keine Pax Americana mehr schaffen kann. Der Westen gegen den Rest der stark wachsenden Welt.
Viele Fragen liegen vor uns. Meines Erachtens ist klar, was Michael Müller fordert: Wir müssen für eine nachhaltige Welt kämpfen und dürfen die Zukunft nicht den Militärstrategen überlassen. Wir müssen auf der politischen und gesellschaftlichen Ebene gemeinsam nach Antworten und Wegen suchen für die internationalen Beziehungen, für das gemeinsame Überleben in Frieden und gemeinsamer Sicherheit, für den Wohlstand, für den Klimaschutz auf unserem Planeten.
Diese Debatte müssen wir führen: Wie sollte die Außenpolitik nach dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieges Russlands gegen die Ukraine mit Blick auf globale Veränderungsprozesse handeln? Welche Erfahrungen internationaler Kooperation waren positiv? Aus welchen Fehlern müssen wir lernen? Mit welchen Maßstäben bewerten wir das Handeln von Staaten? Welche Antwort geben wir auf die Beschreibung unseres Planeten im Brundlandt-Bericht: Eine übervolle, verschmutzte, ungleiche, störanfällige, also zerbrechliche Welt?
Und sind nicht die doppelten Standards bei der Veränderung von Grenzen in Europa und bei der Bewertung von Kriegsverbrechen ein Ausweis von Relativismus und Lebenslügen, die Christian Thomas anderen unterstellt? Leben wir nicht seit Jahren mit einem ganz anderen Relativismus? Kriege in Vietnam, Jugoslawien, Irak, Afghanistan, Somalia, Syrien, Jemen, Libyen, Ukraine waren gute Geschäfte für die Rüstungsindustrie, vor allem aber extrem leidvolle Niederlagen für den Frieden, das Leben und die Rechte von Millionen Menschen. Ja, Menschen haben bei Angriffen das Recht auf Selbstverteidigung und Beistand. Nur wird Aufrüstung und Isolationismus die Welt nicht zu einem besseren Ort machen. Kriege haben immer eine Vorgeschichte, die wir beachten und – wenn notwendig – verändern müssen.
Es ist natürlich zweifelhaft, ob es bereits gelingt, mit Putin einen Weg zu einer regelbasierten Politik in den internationalen Beziehungen zu finden. Doch wir sollten es jeden Tag einfordern. Möglicherweise gelingt es erst mit einer neuen Regierung in Moskau. Aber wir müssen, wie dies Michael Müller verlangt, alles tun, um eine doppelte Selbstvernichtung der Menschheit zu verhindern, die durch die Hochrüstung und die Klimakrise drohen.
Es gibt keine gute Alternative zu Abrüstung, Entspannung und Verständigung. Das Sondervermögen für Aufrüstung in Höhe von 100 Milliarden Euro und dauerhafte Rüstungsausgaben von über zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts sind ein Irrweg.
Der Appell „Demokratie und Sozialstaat bewahren – Keine Hochrüstung ins Grundgesetz“ findet inzwischen in Politik und Wissenschaft eine breite Unterstützung. Für eine gut ausgestattete Bundeswehr braucht es weder Sondervermögen noch weitere Milliarden. Die Bundeswehr ist nicht von einer Unterfinanzierung geplagt, sondern von strukturellen Problemen beim Management, bei der Beschaffung von Materialien und bei ihrem Auftrag – Landesverteidigung oder Interventionsarmee?
Jede Aufrüstung schränkt das Budget für gesellschaftlich notwendige Projekte ein. Es darf keine militärische Aufrüstung auf Kosten von sozialen Leistungen geben. Wir stehen vor großen Herausforderungen, deren Bewältigung all unsere Kraft erfordert. Unser Gesundheitssystem steht unter immenser Belastung und muss auskömmlich finanziert werden. Eine Reform der Renten- und Sozialleistungen benötigt viel Geld. Die Infrastruktur ist marode. Die Umgestaltung unserer Wirtschaft bringt enorme Kosten mit sich.
Das Überleben der Menschheit hängt davon ab, ob es uns gemeinsam gelingt, die Klimakrise und die Zerstörung unserer natürlichen Lebensgrundlagen zu stoppen. Für die Lösung dieser Menschheitsaufgaben, die Müller übrigens seit Jahrzehnten ins Zentrum rückt, müssen wir alle unsere Kraft aufwenden. Wir können es uns nicht leisten, die dafür dringend benötigten Ressourcen für Kriegsgerät auszugeben. Dies muss unsere gemeinsame, grenzüberschreitende Verantwortung sein, das sind wir nachfolgenden Generationen schuldig. Bei uns, in Russland und in der Ukraine.
Der Autor war Gewerkschaftssekretär beim Bundesvorstand von ver.di und im Arbeitsausschuss der Initiative Abrüsten statt Aufrüsten.