1. Startseite
  2. Kultur
  3. Gesellschaft

„Das Privileg“ von Markus Rieger-Ladich: Vom Privileg, sich mit Privilegien auseinandersetzen zu können

Erstellt:

Von: Micha Brumlik

Kommentare

Studentische „Wokeness“ in den USA.
Studentische „Wokeness“ in den USA. © IMAGO/ZUMA Wire

Markus Rieger-Ladich versucht eine etwas andere Annäherung an den kulturellen Verteilungskampf.

Mindestens in Hörsälen und Seminarräumen – so hat es jedenfalls der Tübinger Erziehungswissenschaftler Markus Rieger-Ladich beobachtet – nimmt die Sensibilität für soziale Ungleichheit zu. Gleichsam aus den USA importiert stellen „woke“ Studierende immer häufiger die Frage, ob nicht Geschlecht, Hautfarbe oder Herkunft von Kommilitoninnen und Kommilitonen sich zu deren Gunsten oder Ungunsten auswirken. Diese alltäglichen Anlässe sind Hintergrund einer Studie, die das Thema sozialer Ungleichheit – früher sprach man in diesem Zusammenhang von „Klassengesellschaft“ – anhand des Begriffs des „Privilegs“ neu thematisiert.

Freilich grassiert der Verdacht, dass die Kritik von Privilegien ihrerseits ein Projekt von Privilegierten sei – würden dabei doch jene, die bei gesellschaftlichen Verteilungskämpfen um kulturelles Kapital zu den Verliererinnen und Verlierern zählten, geflissentlich übersehen. Diesem Verdacht will der Autor in seinem Buch nachgehen und charakterisiert sein Ziel daher so: „Gerade weil ich die Kritik an Privilegien für unverzichtbar halte, müssen wir beobachten, wer dabei vergessen wird. Statt also die Privilegienkritik zu diskreditieren, gilt es, sie weiter zu entwickeln – und ihre Praxis auf den Prüfstand zu stellen. Dem entsprechend richte ich das Augenmerk darauf, wie wir von Privilegien sprechen: Wer wird dabei zum Gegenstand gemacht? Und wer nicht? Wessen Interessen werden dabei artikuliert? Und welche übersehen?“

Rieger-Ladich geht seinem Ziel in mehreren Schritten nach, deren erster ein brillantes rechtshistorisches Referat zur Sache und ihrer Geschichte ist: vom Alten Reich im hohen Mittelalter über die Französische Revolution bis nach Preußen. Dass in diesen Zusammenhängen „Bildung“ gesellschaftsgeschichtlich eine sehr wesentliche Rolle spielt, weist der Autor in einem weiteren Abschnitt nach, der ebenso informationsreich wie unterhaltsam noch einmal die zwischen Helmut Schelsky, Ralf Dahrendorf und anderen in den 1960er und 1970er Jahren geführten Debatten über Gesamtschulen sowie ungleich verteiltes kulturelles Kapital kritisch darstellt.

Für ein deutsches Lesepublikum immer noch eher neu befasst sich dann ein weiteres Kapitel mit den innerfeministischen Debatten sowie der Debatte um „weiß sein“ als umkämpftes Privileg aus den USA, wie dies die „Critical White Studies“ nachweisen.

Das letzte Kapitel stellt fünf Möglichkeiten vor, wie man – wie Mann und Frau – sich zu Privilegien verhalten können, um abschließend diese fünf Möglichkeiten kritisch zu beleuchten: Privilegien in Anspruch nehmen, sie checken, sie umverteilen, sie verlernen und sie bekämpfen. Zusammenfassend warnt der Autor vor allem davor, dass sich – wie es in den USA bisweilen der Fall zu sein scheint – jene, die gegen Rassismus, Sexismus, Klassismus oder gar Kapitalismus kämpfen, anhand dieser Merkmale auseinanderdividieren lassen.

Und Deutschland?

Gerne hätte man mit Blick auf die Bundesrepublik Deutschland – auch jenseits der Hörsäle – mehr darüber erfahren, wie sich Bildungsprivilegien in der deutschen Gegenwart auswirken. Um wie viel Prozent ist der Anteil der Abiturientinnen und Abiturienten bei Kindern aus Arbeiterfamilien seit den 1960er Jahren gestiegen? Wie entwickelt sich in der Einwanderungsgesellschaft der Bundesrepublik die Bedeutung der Hautfarbe beim Aufstieg durch Bildung?

Abgesehen von diesen leider fehlenden Beobachtungen stellt das neue Buch von Markus Rieger-Ladich gleichwohl eine konzise, bestens lesbare Einführung in ein gesellschaftstheoretisch wesentliches Thema sozialer Ungleichheit dar; eine Einführung, die nicht zuletzt all jenen ans Herz zu legen ist, die selbst im Bildungsbereich – von Kindertagesstätten bis zu Volkshochschulen – tätig sind.

Auch interessant

Kommentare