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Das große Zechensterben 1963 – Der Himmel so schwarz

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Von: Arno Widmann

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Die Zechenschließungen hatten massive soziale Folgen und führten zu Empörung und Protesten wie in Dortmund im Jahr 1967.
Die Zechenschließungen hatten massive soziale Folgen und führten zu Empörung und Protesten wie in Dortmund im Jahr 1967. © Klaus Rose/Imago

1963 ging als Jahr des großen Zechensterbens in die bundesrepublikanische Geschichte ein. 10 000 Menschen verloren ihre Arbeitsplätze – über und unter Tage.

Für den 31. März 1963 vermerkt Wikipedia: „Nach über hundertjährigem Betrieb wird die Steinkohle fördernde Zeche Centrum in Wattenscheid als Opfer reduzierter Kohlennachfrage und aus Produktivitätserwägungen stillgelegt.“ Wer weiter nachliest in Wikipedia, der wird entdecken, dass allein der Artikel über Aufstieg und Niedergang der Zeche Centrum mehr als 11 000 Zeichen hat. Das ist mehr, als dieser Artikel haben wird.

Steinkohle wird seit mehr als zweitausend Jahren abgebaut. „Zechen“ ebenfalls. Man schaffte an Kohle weg, was zu kriegen war. Irgendwann kostete das Wegschaffen mehr Geld, als man mit der Kohle hätte verdienen können. Also suchte man ertragreicher abzubauende Kohle und billigere Methoden des Abbaus. Man ging dabei immer tiefer in die Erde. Im Januar 2012 lag Deutschlands tiefster Arbeitsplatz, so schrieb der „Spiegel“, 1630 Meter unter dem Meeresspiegel. Das war die Zeche Anthrazit in Ibbenbüren. Aber auch dort wurde im August 2018 das letzte Mal Steinkohle gefördert.

Solange die Kohle der zentrale Energieträger war, wurden Zechen geschlossen, um neue lukrativere zu öffnen. Dann aber wurden Öl, Gas und Kernenergie immer wichtiger, da billiger. Die Kohle verlor an Bedeutung. Seit Beginn der sechziger Jahre wurde kaum noch eine Zeche durch eine andere ersetzt.

Die SPD erzählt heute gerne, der Kanzlerkandidat Willy Brandt habe am 28. April 1961 die neue Umweltbewegung ausgerufen, als er erklärte: „Der Himmel über dem Ruhrgebiet muss wieder blau werden.“ Man kann das auch als gelungenes Beispiel politischer Schönrederei sehen. Aus der Not des Zechensterbens wird die Tugend des blauen Himmels gemacht,

1963 ging als das Jahr des großen Zechensterbens in die bundesrepublikanische Geschichte ein. Die Zeche Centrum war nur eine von 13 Zechen, die in diesem Jahr geschlossen wurden. 10 000 Menschen verloren ihre Arbeitsplätze. Über und unter Tage.

„Arbeitsplätze“ nicht „Jobs“. Bergmann war kein Job, sondern eine Profession. Man verstand ein Handwerk, bei dem man sein Leben verlieren konnte. Die Männer arbeiteten in engen, heißen Schächten, in denen immer wieder Brände ausbrachen oder es gar zu Explosionen kam. Die muskelbepackten Hauer mit den nackten Oberkörpern wurden zu mythischen Figuren des 19. Jahrhunderts. Die deutsche Romantik erwärmte sich zum Beispiel im „Heinrich von Ofterdingen“ und in den „Bergwerken zu Falun“ für die Arbeiter in der Mutter Erde.

Wer unter Tonnen von Erde und Gestein arbeitet, über dem lauert der Tod. Jeder Schlag in den Felsen kann eine Wasserader öffnen, die alles Menschenleben ertränkt. Zum Bergbau gehörten immer die Bergbauunglücke. Das von Lengede – durch einen Film jüngst wieder ins Gedächtnis gerufen – forderte im Herbst 1963 zweihundert Menschenleben. Das „Wunder von Lengede“ war, dass sogar nach vierzehn Tagen noch elf Menschen lebend geborgen werden konnten.

Das Ende des Steinkohlebergbaus ist das Ende einer Jahrtausende alten Menschheitspraxis. Vor ein paar Jahren schrieb Ulrich Raulff ein großartiges Buch über das Ende des Pferdezeitalters. Es gibt jede Menge Bücher über die Geschichte des Steinkohlebergbaus. Aber einen vergleichbaren Nachruf gibt es – so weit ich weiß – nicht. Das mag auch daran liegen, dass diese Epoche noch nicht wirklich zu Ende gegangen ist. In anderen Weltgegenden wird weiter nach Kohle gegraben. Und wohl auch noch lange gegraben werden. Darauf aufmerksam werden wir jedes Mal, wenn wieder von einem Grubenunglück berichtet wird.

Die Zeche Centrum wurde 1858 von einer bergrechtlichen Gewerkschaft gegründet. Der Begriff führt in die Irre. Es handelt sich um eine Vereinigung von Menschen, die sich zusammenschließen, um ein bestimmtes Gebiet für den Bergbau zu erschließen, eine Kapitalgesellschaft also. Ab 1861 wurde Kohle gefördert. Aber bald war die erste Krise da. Die Kapitaldecke war zu kurz. Es musste aufgestockt werden.Man brauchte neue Teilhaber, um ein größeres Terrain ausbeuten zu können, Dem Boom nach der Reichsgründung folgte eine Krise, die 1880 dazu führte, dass viele vor allem der kleineren Zechen schließen mussten.

Es gehört zu den größten Leistungen der Bundesrepublik, dass sie es geschafft hat, den Bergbau zu schließen, ohne das Ruhrgebiet zu ruinieren. Das Ende des Kohlezeitalters führte dazu, dass Hundertausende, ja Millionen Menschen nicht nur im Ruhrgebiet, sondern auch im Saarland und in Sachsen ihre Arbeit verloren und – fast wichtiger noch – die Aussicht auf sie.

Wie die Sache in Sachsen ausgehen wird, wissen wir noch nicht. Die alte BRD jedenfalls löste dieses Problem. Es gibt dicke Bildbände über einst blühende, heute verwüstete Städte in den USA. Vergleichbares Bildmaterial gibt es aus Deutschland nicht. Nordrhein-Westfalen, das bevölkerungsreichste Bundesland der BRD, fütterte lange Jahre zum Beispiel das noch stark agrarisch geprägte Bayern durch. Jetzt ist es schon lange umgekehrt: Nordrhein-Westfalen wird von Bayern durchgefüttert. Der Länderfinanzausgleich vollbringt Wunder. Das eigentliche Wunder muss allerdings vor Ort stattfinden. In den Köpfen der Menschen. Sie und ihre Regionen werden nur überleben können, wenn sie bereit sind, sich umzustellen.

Staat und Gesellschaft können und sollen dabei helfen. Aber alles hängt davon ab, dass die Menschen selbst sich neue Tätigkeitsfelder erschließen. In den USA und auch bei uns geschieht das gerne durch Wohnortwechsel, Binnenmigration genannt. Ohne ihn fällt es uns schwerer.

Wir müssen die alte Haut abwerfen, um eine neue heranwachsen zu lassen.

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