Corona-Protest mit Judenstern: Eine Art mythologischer Diebstahl

Wer sich auf einer Corona-Demonstration einen Judenstern anheftet, entzieht dem Holocaust seine Geschichte.
Frankfurt - In seinem berühmten Buch „Mythen des Alltags“ aus dem Jahr 1957 erläutert der französische Schriftsteller und Semiologe Roland Barthes die Funktionsweise des Mythos am Beispiel eines Titelbildes der Illustrierten „Paris Match“. Es zeigte einen jungen, schwarzen Soldaten in Uniform, der vor der französischen Fahne salutierte. Barthes unterscheidet das auf dem Bild Gezeigte sogleich von der in der Szene mitschwingenden Bedeutung: „dass Frankreich ein großes Imperium ist, dass seine Söhne, ungeachtet der Hautfarbe, treu unter seiner Fahne dienen und dass es keine bessere Antwort auf die Gegner eines angeblichen Kolonialismus gibt als den Eifer, mit dem dieser Schwarze seinen angeblichen Unterdrückern dient“.
Erzählungen und Symbole machen Geschichte, die Erkenntnis ist nicht neu, und scheint mehr denn je unser Alltagsgeschehen zu fluten. Die Kunst der Bildinterpretation aber unterfütterte der gewiefte Zeichenleser Roland Barthes in einem Essay mit einem Begriffsinstrumentarium, das fortan maßgeblich zum Erfolg des Strukturalismus als Wahrnehmungsform gesellschaftlicher Verhältnisse beitrug.
Judensterne auf Corona-Protesten entziehen der Wirklichkeit die Geschichte
Eine derart betriebene Semiologie war für Barthes keineswegs wissenschaftlicher Selbstzweck, sondern ein eminent politischer Vorgang. Indem er etwa das Bild vom schwarzen Soldaten beschrieb, kennzeichnete er den Mythos als räuberisches System, das den Gegenständen die Wirklichkeit und ihre Geschichte entzieht. Was der Mythos zurückgibt, heißt es im theoretischen Teil der „Mythen des Alltags“, „ist ein natürliches Bild dieses Realen. Und wie sich die bürgerliche Ideologie durch das Wegfallen des Namens Bourgeoisie definiert, ist es der Verlust der Historizität der Dinge, die den Mythos ausmacht. Die Dinge verlieren in ihm die Erinnerung daran, dass sie hergestellt worden sind.“
Der Mythos, führt Barthes aus, sei stets Diebstahl an einer Sprache. Und in die Bildsprache übertragen, werde der „schwarze Soldat“ seiner sozialen Wirklichkeit beraubt, um innerhalb eines anderen Zeichensystems etwas ganz anderes zum Ausdruck zu bringen. Barthes verweist ferner auf einen entpolitisierenden Charakter des Mythos, wenn er schreibt: „Der Mythos leugnet nicht die Dinge; seine Funktion ist es vielmehr, davon zu sprechen; er reinigt sie einfach, gibt ihnen ihre Unschuld zurück, gründet sie in Natur und ewiger Dauer (…) Er beseitigt die Komplexität der menschlichen Handlungen.“
Diese Art des mythologischen Diebstahls erstreckt sich in besonderem Maß auch auf Bilder und Symbole, und zweifellos kann man angesichts der gegenwärtigen inflationären Verwendung von Judensternen auf den sogenannten Corona-Demonstrationen im Sinne Barthes’ von einem Raub sprechen, der im Dienste einer Entpolitisierung des ursprünglichen Kontextes steht. Indem sich jene, die gegen eine allgemeine Impflicht protestieren, das Symbol des Judensterns aneignen, löschen sie gewissermaßen den historischen Kontext des Holocausts, der mit diesem unweigerlich verknüpft ist.
Verwendung des Judensterns auf Corona-Demos als Verharmlosung des Holocausts
Der Berliner Schriftsteller und Kolumnist Harald Martenstein lag sicher falsch mit seiner in Skandalnähe gerückten Kolumnen-Äußerung, dass die gegenwärtige Verwendung des Judensterns ja einer Identifikation mit den ermordeten Juden entspringe und das Tragen des Sterns schon deshalb nicht als antisemitisch gewertet werden könne. Natürlich ist naiver Zeichengebrauch immer möglich und denkbar, wahrscheinlicher aber dürfte sein, dass die demonstrative Selbststigmatisierung mithilfe eines Judensterns einer politischen Strategie folgt, die die Ablösung vom historischen Kontext in Kauf nimmt oder sogar ausdrücklich impliziert. So gesehen ist es mehr als verständlich, dass die Verwendung des Judensterns als obszön empfunden und als Verharmlosung des Holocausts aufgefasst wird. Das hinter der Impflicht stehende Motiv des gesellschaftlichen Schutzes wird hier auf bösartige Weise mit der Vernichtung einer Glaubensgemeinschaft in Verbindung gebracht.
Es wäre also möglich, vielleicht sogar nötig gewesen, Martensteins Argumentation zu widersprechen. Mit der redaktionellen Entfernung aus dem Internetaufritt seines Blattes „Tagesspiegel“ aber entzog man den Text selbst der Möglichkeit einer diskursiven Auseinandersetzung und rückte ihn in die Nähe des Verdachts, es beim Autor mit einem unsicheren Kantonisten zu tun zu haben. Während Martenstein eben noch geneigt war, eine Akteursgruppe vor dem Vorwurf des Antisemitismus in Schutz zu nehmen, wird er nun selbst einer Hermeneutik des Verdachts ausgesetzt, antisemitische Positionen zu verharmlosen. Eine unheilvolle Spirale, die in der Zentrifuge sozialer Medien völlig frei dreht.
Antisemitismus und Judensterne auf Corona-Demos im semiologischen Verständnis
Ohne Anspruch auf Vollständigkeit kommen mir eine Reihe aktueller Auseinandersetzungen in den Sinn, in denen Antisemitismusvorwürfe eine Rolle spielten. In kurzer Folge ging es dabei zuletzt um die Schauspielerin Whoopi Goldberg, den Sänger Gil Ofarim, den Instagram-Account „Ich bin Sophie Scholl“ und das indonesische Kuratorenteam der Kunstausstellung Documenta. Jedes dieser Beispiele ist anders gelagert, in allen wurde ein beachtlicher Aufwand betrieben, um zeitliche Abläufe, Semantik und gesellschaftliche und kulturelle Kontexte voneinander zu unterscheiden oder polemisch zusammenzuziehen. Aufklärung in einem emphatischen Verständnis des Epochenbegriffs aber unterblieb in den meisten Fällen, zurück blieb ein Unbehagen über sich schnell erschöpfende Vorwurfsketten.
Der Verweis auf Roland Barthes’ semiologisches Verständnis des Mythos vermag wohl nur bedingt zur Entspannung gegenwärtiger Debatten und deren Schwundstufen beitragen, die auf verzweifelte Weise um das eigene Ich oder ein dubioses Wir kreisen. Wer schlägt, um eifrig mitzumischen, schon bei denen nach, die es vielleicht ein bisschen besser wissen. Und doch lohnt der Blick zurück in den Text. Sehr gegenwärtig jedenfalls münden Barthes’ „Mythen des Alltags“ in den Satz: „Gewiss sind der Ideologismus und sein Gegenteil immer noch magische, verängstigte, verblendete und von der Zerrissenheit der Welt faszinierte Verhaltensweisen. Und doch zeigen sie, was wir suchen müssen: eine Versöhnung zwischen dem Wirklichen und den Menschen, zwischen Beschreibung und Erklärung, zwischen Gegenstand und Wissen.“ (Harry Nutt)