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Corona-Krise: Die Würde des Menschen ist unverrechenbar

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Von: Gunzelin Schmid Noerr

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Systemrelevant in diesen Tagen: eine Näherin von Mundschutz in Kabul, Afghanistan. 	Amr Nabil/AP/dpa
Systemrelevant in diesen Tagen: eine Näherin von Mundschutz in Kabul, Afghanistan. © Amr Nabil/AP/dpa

Was wird abgewogen beim Exit aus dem Corona-Lockdown? Eine ethische Überlegung.

Noch scheint die Corona-Pandemie ihren Höhepunkt hierzulande nicht erreicht zu haben, noch steigen die Zahlen der Infizierten und Toten von Tag zu Tag an. Mediziner klären uns über die Gesetzmäßigkeiten epidemischer Verläufe auf, Psychologen geben uns Ratschläge zur Stressvermeidung beim Zuhause-Bleiben, Demokratietheoretiker fordern, die Politik solle sich nicht nur an virologischen Ratschlägen orientieren, ein Produzent von Etiketten bietet den Kliniken im Online-Versand Triage-Armbänder zur Priorisierung der medizinischen Behandlung im Katastrophenfall an. Aber vor allem die wirtschaftlichen Ängste konkurrieren zunehmend mit den gesundheitlichen.

Corona-Krise und die Befreiung aus dem Lockdown

Auch deshalb wird nun überlegt, wie man aus dem Lockdown wieder herauskommen könne. Diesbezüglich ist in Politik und Medien viel von „Abwägen“ die Rede. So wird z. B. der NRW-Ministerpräsident Armin Laschet in der ARD mit den Worten zitiert, der Exit könne „nur auf der Grundlage einer intensiven Abwägung aller medizinischen, sozialen, psychologischen, ethischen, wirtschaftlichen und politischen Implikationen“ erfolgen. Umsicht nach allen Richtungen – das beruhigt.

Anderes Abwägen wirkt eher beunruhigend. So wird in einem Leitartikel des „Spiegel“ gefragt und sogleich geantwortet: „Darf man den wirtschaftlichen Schaden des Lockdown abwägen gegen die Menschenleben, die eine Ausbreitung des Coronavirus kosten würde? Ja, man darf. Man muss sogar.“ Eine kühl-rationale Behauptung, die betroffen macht. Denn welchen Preis, so fragt man sich unwillkürlich, ist die Gesellschaft wohl bereit, für einen selbst zu zahlen, wenn es denn knapp wird mit den Ressourcen?

Aber was heißt das: dass „abzuwägen“ ist? Vom Abwägen ist üblicherweise die Rede entweder als Forderung bzw. Ankündigung für zukünftige Entscheidungen oder als Resümee im Nachhinein („nach Abwägung aller Gesichtspunkte wurde das und das beschlossen“), nicht aber als vernünftig nachvollziehbare Argumentation hier und jetzt. Fast könnte man meinen, dass diejenigen, die vom Abwägen sprechen, sich damit das Begründen ersparen wollten. Sie suggerieren mehr an Rationalität, als sie einlösen können.

Corona: Menschliches Leben nicht in Dollar beziffern

Wie und was kann man denn überhaupt abwägen? Mit einer Waage können wir Zutaten zu einem Essen exakt abwiegen. Und die Waage, die die personifizierte Justitia in der Hand hält? Sie symbolisiert Gerechtigkeit, Objektivität und Unparteilichkeit des Rechts. Verschiedenes kann abgewogen werden, wenn man dafür eine gemeinsame Maßeinheit ansetzt: 100 Gramm Mehl und 30 Gramm Butter sind hinzuzufügen, oder: es gelte Auge um Auge, Zahn um Zahn, oder: Überholen im Überholverbot (70 Euro Bußgeld) wiegt schwerer als Missachtung der Anschnallpflicht (30 Euro Bußgeld). Abgewogen werden kann freilich nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ, z. B. welches Essen uns besser schmeckt oder welche Handlung jemandem mehr nützt oder mehr schadet. Entscheidend ist, dass es auch beim qualitativen Abwägen einen gemeinsamen Maßstab gibt, wie den subjektiven Geschmack oder den Nutzen.

Zum Autor

Gunzelin Schmid Noerr ist Professor für Philosophie an der Hochschule Niederrhein, Mönchengladbach. Er beschäftigt sich vor allem mit der Kritischen Theorie und Fragen der Ethik.

Was aber ist der gemeinsame Maßstab bei der Abwägung von gesundheitlicher und wirtschaftlicher Sicherheit und Existenz für die Bevölkerung? Andrew Cuomo, Gouverneur des Staates New York, verkündet gewissermaßen noch altmodisch: „Wir werden menschliches Leben nicht in Dollar beziffern.“ Das heißt, es gibt hier keinen Maßstab fürs Abwägen. Dagegen gibt es laut „Spiegel“, der den Gestus des Entlarvens und Tabu-Abräumens pflegt, sehr wohl einen Maßstab, nämlich eben doch (wie beim Beispiel des Bußgeldes) den Geldwert.

Schutz der Corona-Gefährdeten

Nur wenn man dies bejaht, kann man weiter fragen: Was (das heißt: wieviel Geld) ist uns der Schutz der Corona-Gefährdeten wert, während die Wirtschaft wieder in Gang gebracht wird? Und was nicht? Eine konkrete Antwort, wie hoch der Preis des Lebens in Euro wäre, wird freilich auch hier nicht gegeben. Das zivilisatorische Tabu, Menschenleben mit Geld zu verrechnen, scheint, entgegen der Absicht der Verrechner, doch noch standzuhalten.

Immanuel Kant, der Philosoph der Aufklärung, der den modernen Diskurs der Menschenwürde nachhaltig beeinflusst hat, verstand diese als einen absoluten, nicht verrechenbaren, inneren Wert. Er verdeutlichte dies durch den Vergleich der Würde mit einem verrechenbaren äußeren Wert: Überall dort, wo man handelt, das heißt wo man Ziele verfolgt und Mittel einsetzt, schrieb er, „hat alles entweder einen Preis oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes als Äquivalent gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde.“

Menschen haben eine unverrechenbare Würde

Kant zufolge sind also alle Mittel, die Menschen zu ihrem Nutzen einsetzen, letztlich austauschbar und durch das allgemeine Tauschmittel Geld verrechenbar, nicht aber die Zwecksetzung selbst, die Ausdruck der menschlichen Freiheit ist. Als vernunftbegabte Wesen haben Menschen eine unverrechenbare Würde, und es ist gegen diese Würde, sie auf bloße Mittel zur Erlangung fremder Zwecke zu reduzieren. Daraus folgt: Ethische und wirtschaftliche Gesichtspunkte lassen sich nicht verrechnen, es sei denn, man verstünde die ethischen Gesichtspunkte selbst bloß als Kostenfaktoren.

Aber hier mag man einwenden: Kostet nicht die sozialethische Pflicht des Staates, Gesundheit und Menschenleben zu schützen, Geld, viel Geld, während der Staat zugleich auch zahlreiche andere Aufgaben hat, die ebenfalls Geld kosten? Sind also nicht doch ethische, wirtschaftliche und all die anderen auf die allgemeine Gesundheit bezogenen Aufgaben gegeneinander abzuwägen, wie sie auch früher schon, zu normalen Zeiten, in jedem Haushaltsplan abgewogen wurden?

Darauf ist zu antworten, dass ethische Werte und Normen nicht für sich stehen, sondern in jedem Lebensbereich enthalten sind, sei er (nach Laschets Aufzählung) „medizinisch, sozial, psychologisch, wirtschaftlich oder politisch“. Wenn der Kern der Ethik die Berücksichtigung der berechtigten Bedürfnisse und Interessen anderer Menschen ist, dann ist auch in vielen medizinischen, psychologischen, wirtschaftlichen und politischen Entscheidungen der ethische Kompass gefordert.

Corona: Überwindung des partiellen Stillstandes

Abwägen kann man dabei entweder zwischen den wirtschaftlichen Kosten des einen und denen des anderen Bereichs; oder zwischen deren ethischer Zulässigkeit und Gebotenheit (Entsprechendes gilt auch für die anderen Bereiche); nicht aber zwischen Ethik und Wirtschaft.

Die sozialethischen Aspekte der anstehenden Entscheidungen, die mit dem wirtschaftlichen Niedergang und der Überwindung des partiellen Stillstandes zu tun haben, liegen ja auf der Hand. Die Einkommenseinbußen bedrohen nicht nur die wirtschaftliche Existenz der Unternehmen, sondern auch die ihrer Angestellten und deren Familien.

Die wirtschaftliche Rezession führt zur Minderung der Steuereinnahmen des Staates und tendenziell zur Kürzung vieler staatlicher Transferleistungen im Sozial-, Bildungs- und Kulturbereich. Mehr als andere aber sind schon jetzt die besonders Hilfebedürftigen betroffen, Menschen mit Behinderungen, Wohnungslose, Flüchtlinge. Bei knappen Ressourcen abzuwägen sind hier ethische Verpflichtungen untereinander, nicht diese mit wirtschaftlichen Bedürfnissen.

Ethik der unverrechenbaren Menschenwürde

Auch das wirtschaftliche Handeln kommt nicht ohne einen Grundbestand an moralischen Regelungen aus. Verträge setzen die Vertrauenswürdigkeit der Partner voraus, Betrug muss sanktioniert, Gewalt ausgeschlossen werden usw. Die sozialethische Grundüberzeugung der kapitalistischen Ökonomie ist, dass, auch um den Preis des Niedergangs einzelner, die wirtschaftliche Konkurrenz dem Fortschritt und dem Allgemeinwohl dient. Daher mag der Schein der Verrechenbarkeit von Ethik und Ökonomie rühren. Eine Ethik der Nutzenabwägung und -maximierung reicht aber dann nicht mehr aus, wenn man es mit der Fürsorge für die Kranken, Schwachen und Hilflosen zu tun hat. Dann wird der Rückgriff auf eine Ethik der unverrechenbaren Menschenwürde unabdingbar.

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