In Krisenzeiten erstarkt ein altes Feindbild: der Antisemitismus

Micha Brumlik analysiert mit dem Antisemitismus ein perfides Weltbild, das vor allem in Krisenzeiten Zulauf findet. So auch in der abgelaufenen Woche auf Demonstrationen.
Keine größere Krise in Wirtschaft und Gesellschaft, ohne dass, so die deprimierende Diagnose, ein altes Feindbild nicht Hochkonjunktur hätte. Nicht anders war es in den 1870er Jahren im deutschen Kaiserreich, unmittelbar im Anschluss an die Reichsgründung, 1871, als eine kolossale Wirtschaftskrise, auch sie bereits ein globales Phänomen, den Nationalstaat erfasste. Häufig als Gründer(zeit)krise bezeichnet, stürzte sie Deutschland in eine tiefe Depression, und das nicht nur ökonomisch, sondern auch mental.
Vorwurf eines „jüdischen Wirtschaftsliberalismus“ im Kaiserreich
Eine rücksichtslose Hochindustrialisierung hatte eine enorme Proletarisierung produziert, doch jetzt schnellte die Arbeitslosenquote hoch. Verunsicherte Mittelschichten, eine Polarisierung in Arm und Reich. Ganz offensichtlich hatte ein extensiver Liberalismus versagt, doch nicht ein enthemmter Kapitalismus wurde für die Misere verantwortlich gemacht. Vielmehr wurde der Vorwurf gegenüber einem „jüdischen Wirtschaftsliberalismus“ erhoben – laut. Unisono, schrill, ob von katholischer Seite, protestantisch-konservativer, reaktionärer, chauvinistischer oder aus Teilen der Arbeiterbewegung.
Der Antisemitismus im Kaiserreich stellte „eine paranoide Verarbeitung der durch die einbrechende Moderne und die Durchsetzung des Kapitalismus verursachten gesellschaftlichen Krisen dar“, schreibt Micha Brumlik in seinem schmalen Buch „Antisemitismus“, in dem er eine prägnante Analyse der Judenfeindschaft seit der Antike bis in die unmittelbare Gegenwart liefert – in die deutsche Gegenwart, von der absehbar ist, dass sie sich durch die Corona-Krise verändern wird.
Schon in der Antike begegneten Autoren Juden mit Misstrauen, sagten ihnen Aberglauben und Illoyalität nach; Bemühungen um religiöse Eigenständigkeit und politische Unabhängigkeit schlug das Imperium Romanum brutal nieder. Im Gegensatz zu einer eher planlosen Unversöhnlichkeit begann die systematische Judenfeindschaft erst mit der Verbreitung der christlichen Religion.
Bibel befeuerte Vorurteile gegenüber Juden
Diese Konstante, aufgestachelt durch Passionsgeschichte und Evangelien, in denen die Juden als Kinder des Teufels und Gottesmörder hingestellt werden, bestimmte den christlichen Antijudaismus durch die folgenden Jahrhunderte. Dabei, so wendet sich Brumlik gegen Legendenbildungen, ist „unbestritten, dass Juden in der spätantiken und frühmittelalterlichen Welt zwar diskriminiert, aber keineswegs pogromartig verfolgt wurden.“
Die Existenz von Juden, über Jahrhunderte „kaum von Verfolgungen geprägt“, änderte sich erst mit einer Krise, die die feudale Welt seit Ende des 11. Jahrhunderts erlebte, eine wirtschaftliche und politische Krise, die als Bedrohung wahrgenommen wurde. Dazu weitere Beunruhigungen wegen muslimischer Araber, zunächst in Spanien, asiatischer Invasoren, die in Ungarn und Polen einfielen. Eine Umbruchzeit, in der die Christenheit, sowieso von apokalyptischen Wahnvorstellungen verfolgt, im Jahr 1095 von Papst Urban II. zum Kreuzzug aufgerufen wurde. Im Reich hielt der Kaiser die Hand über die Juden, indem er die Hand aufhielt für Schutzgeldzahlungen.
Von einer Aversion zur offen ausgelebten Feindschaft gegenüber dem Judentum
Schon ein Jahr nach dem ersten Kreuzzug kam es zu mörderischen Ausschreitungen in Deutschland, der Mob (dem die Kirche gelegentlich in den Arm fiel), zog durch die jüdischen Viertel in Worms, Speyer oder Mainz. Kreuzfahrer und Prediger verbreiteten in Europa die perfidesten Gerüchte, darunter die sogenannte „Blutbeschuldigung“, wonach Juden christliche Knaben rituell ermordeten. Die Gräuelpropaganda stellte Juden als Brunnenvergifter hin, nachgesagt wurden ihnen satanische Kulte und obszönes Treiben, etwa mit Schweinen.
Aus der Aversion gegenüber einer „verworfenen Religion“, die lange eine immerhin leidig gewaltlose Koexistenz leben ließ, entwickelte sich im Verlauf der bewaffneten Wallfahrten gen Jerusalem (1096, 1146/47 und 1188/89) eine offen ausgelebte Feindschaft, die sich in immer entsetzlicheren Gewaltausbrüchen entlud. Vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen, von den Zünften ausgeschlossen, ausgeschlossen vom Handel und Warenverkehr, zudem verdammt zum Geldhandel und Pfandleihverkehr, wurden Juden von der feudalen Rechtsordnung in eine Sonderrolle abgedrängt. Dabei blieb es nicht bei der religiösen Stigmatisierung, durch die aufgezwungene „ökonomische Spezialisierung“, so der Antisemitismusforscher Werner Bergmann, kam es zu einer weiteren Stigmatisierung, der sozialen.
Auch Reformatoren antisemitisch eingestellt
Nicht zu vergessen Luther! Akteur in einer weiteren Krisenzeit, extremer Polarisierer in einer Umbruchzeit. Der Reformator, zunächst davon überzeugt, in Jesus einen geborenen Juden vor sich zu haben, entwickelt sich zu einem Judenhasser, der dem jüdischen Volk nicht nur Blutdurst und Rachsucht attestiert. Luthers theologische Dämonisierung geht so weit, dass er der (protestantischen) Obrigkeit die Zerstörung von Synagogen und die Vertreibung der Juden nahelegt. Die Judenfeindschaft der Reformatoren ist ein besonders grässliches Kapitel innerhalb einer „krassen Feindseligkeit“ (Bergmann), dessen Furor zwischen 1650–1815 ausgesetzt scheint, um mit dem Aufkommen des Nationalismus in Deutschland umso vehementer zurückzukehren.
Ohne auf weitere historische Einzelheiten und Etappen eingehen zu können – das ressentimentgeladene Muster, das den Juden zum Sündenbock stigmatisierte, wurde im 19. Jahrhundert aufgegriffen und nun nicht nur theologisch, sondern rassistisch aufgeladen. Brumlik verweist auf ein breites Spektrum des Judenhasses, wie er wahnhaft im Kulturmilieu um Richard Wagner zusammenfand. Wie er von dem Herausgeber der „Gartenlaube“, Otto Glagau, unter die Leser gebracht wurde. Wie er in der christlichen Arbeiterbewegung von einem Adolf Stoecker unverhohlen ausgesprochen wurde. Wie er angespornt wurde von einem Linksradikalen wie Wilhelm Marr, nicht zuletzt im intellektuellen Milieu durch die linkshegelianische Religionskritik artikuliert wurde – auch durch einen Karl Marx. Antisemitismus in der Mitte der Gesellschaft ebenso wie an den Rändern.
„Gutbürgerlicher“ Antisemitismus polarisiert
Erst recht viel sagen ließe sich über den akademischen „Berliner Antisemitismusstreit“. Brumlik, mit dem Problem zweifellos bestens vertraut, belässt es bei einem Hinweis. Es wird die intellektuelle Infamie eines Heinrich von Treitschke zitiert („Die Juden sind unser Unglück.“). Zumal in diesem Streit das Reservoir zu finden ist, das der Rechtsextremismus von AfD und Pegida hebt, um die politische Kultur weiterhin zu destabilisieren und das gesellschaftliche Klima zu vergiften.
Nicht von ungefähr analysiert Bergmann den vermeintlich „gutbürgerlichen“ Antisemitismus, mit dem ein liberaler Konsens aufgegeben worden sei, um in das intellektuelle Leben ganz bewusst eine Polarisierung hineinzutragen. Kapitalismus und Sozialismus waren gleichermaßen verschrien, Demokratie und Kosmopolitismus waren Reizwörter, die im Zuge einer „Generalisierung der ‚Judenfrage‘“ (Bergmann) rassistisch aufgeladen wurden. Wer sich vergewissern will, woher die AfD ihr Kulturkampf-Muster bezieht, findet sie hier vor, im Namen einer „germanischen Gesittung“, im Kampf gegen eine „deutsch-jüdische Mischkultur“.
Antisemitismus findet nicht nur am Rande der Gesellschaft statt
Wer darauf aus ist, die Gesellschaft auch heute zu spalten, greift das auf, spricht, tönt oder hetzt antisemitisch. Bergmann bezeichnet den Antisemitismus als „unfähig zu konstruktiver Politik“. Was immer an ihm jemals hätte konstruktiv ausfallen können: Seine destruktiven Energien und Destabilisierungsstrategien nahmen, auch das verweist auf die AfD, heute, den Umweg des „Einsickerns“ in vorpolitische Organisationen. Der Infiltration in Verbände, Vereine, Kulturvereinigungen, Pfarreien, Schulen, so dass der Antisemitismus kein randständiges Phänomen verblieb, sondern zu einem gesamtgesellschaftlichen wurde, ob als christlich-nationaler Antijudaismus, klassenkämpferisch-linker Radauantisemitismus oder völkischer Rassenantisemitismus.
Die politische Biografie Micha Brumliks als Jude in Deutschland ist eng mit der Linken verknüpft; auch mit deren judenfeindlichen Klischees wurde er konfrontiert. So zu lesen im Anfangskapitel, in dem Brumlik, Sohn von den Nazis verfolgter Juden, auf seine Erfahrungen mit einem verschwiemelt getarnten oder unverhohlenen Antisemitismus nicht nur in bürgerlichen Milieus zu sprechen kommt.
Unschuld und moralische Überlegenheit
Wer darüber hinaus einen konzisen Überblick über die Entwicklung des linksradikalen Antisemitismus seit den späten 1960er Jahren haben will, lese die brillante Analyse Gerd Koenens in dem Buch „Neuer Antisemitismus?“, das kürzlich in einer Neuauflage erschienen ist, warum wohl? Bei Linken, vom eigenen Antifaschismus überzeugt, mischten sich in die „authentischen Gefühle von Scham und Schande freilich bald steile Selbststilisierungen und schwüle Selbstfaszinationen. Gerade die prononcierte und pauschale Anerkennung der deutschen Schuld vermochte die ‚Nachgeborenen‘ nämlich in den Stand einer militanten Unschuld und moralischen Superiorität zu versetzen.“
Gemeint ist damit eine linke, antikolonialistische Israelkritik. Dass Israel sein Existenzrecht seit Jahrzehnten mit Waffen verteidigen muss, geht israelkritischen Pazifisten nicht in den Sinn. Brumlik plädiert bei aller entschiedenen Kritik an einem israelbezogenen Antisemitismus für Gelassenheit selbst gegenüber der „palästinensischen BDS-Bewegung“, die den Rückzug Israels aus den 1967 eroberten Gebieten östlich des Jordans und damit das Rückkehrrecht der 1947/48 vertriebenen palästinensischen Araber fordert.
Gleichzeitig lässt er keinen Zweifel daran, was diese Forderung in der Konsequenz bedeutete: „Sollte diese Forderung eins zu eins erfüllt werden, würde das das Ende Israels als eines ‚jüdischen Staates‘ bedeuten.“ Eines Staates, an dessen religiöser Verfasstheit eine antireligiös eingeschworene Linke sich insgeheim oder offen auf einen antisemitisch motivierten Satz wie den von Karl Marx berufen kann: „Die Judenemanzipation in ihrer letzten Bedeutung ist die Emanzipation der Menschheit vom Judentum.“
Der „neue Antisemitismus“
Einer aufgeklärten Israelkritik geht es, wie Dan Diner in dem Band über den „neuen Antisemitismus“ schreibt, ganz konkret darum, „dass mit der Etablierung des Staates Israel ein territoriales jüdisches Gemeinwesen durch herbeigewünschte Flucht und herbeigeführte Vertreibung eines Großteils der arabischen Bevölkerung Palästinas möglich geworden war.“
Damit ist nicht das Existenzrecht Israels infrage gestellt, wie flotte Israelfeinde meinen könnten, vielmehr, unter Berufung auf den Holocaust, historisch eingeordnet. Die territoriale Neuordnung nach dem Holocaust fiel nicht vom Himmel, sondern war in Palästina eine geschichtliche Konstellation in einem bereits globalen Kräftefeld, ein Konflikt, der nach über 70 Jahren weiterhin einer Lösung harrt wie ein gordischer Knoten.
Soeben hat der Dirigent und Pianist Daniel Barenboim das Dilemma in wenigen Worten benannt: „Wenn es wahr ist, dass die Palästinenser nicht in der Lage sein werden, Israel zu akzeptieren, ohne auch seine Geschichte einschließlich des Holocaust zu akzeptieren, dann ist ebenso wahr, dass Israel nicht in der Lage sein wird, die Palästinenser zu akzeptieren, solange der Holocaust sein einziges moralisches Kriterium für seine Existenz ist.“ Und Barenboim fährt fort: „Was nun also mit Israel und seiner Regierung? Nicht nur seine Ethik der Erinnerung ist fehlerhaft, sondern die Aufrechterhaltung der Besatzung und die Schaffung neuer Siedlungen und sogar die Planung der Annexion hat die Palästinenser moralisch überlegen gemacht.“
Radikaler Islamismus gefährdet innenpolitische Stabilität
Eine derartige Überlegenheit steht allerdings angesichts von Selbstmordattentaten, Terroranschlägen und Raketenangriffen dahin, zumal zur katastrophalen Lage im Nahen Osten maßgeblich ein islamistischer Antisemitismus gehört, der unaufhörlich das alte Phantasma einer jüdischen Weltverschwörung reproduziert. Die antisemitische Agitation in der arabischen Welt geht nicht nur in den Untiefen des Internets vor sich, sondern wird durch satellitengestützte TV-Stationen ausgestrahlt, die perfideste Fälschungen und blutrünstige Soaps verbreiten, so dass auch Brumlik darauf hinweist, dass der radikale Islamismus in den abgeschotteten Parallelwelten von Immigrantenmilieus die „innenpolitische Stabilität gefährdet“.
Nicht jeder, der antisemitisch spricht, ist ein Nazi. Wer über Antisemitismus spricht, kann allerdings Auschwitz nicht beschweigen. Wer, wie Alexander Gauland vom Nationalsozialismus und damit zwangsläufig von Auschwitz als einem „Vogelschiss“ innerhalb der deutschen Geschichte spricht, sucht den Schulterschluss mit Völkischen, Rassisten, Neonazis. Gaulands Demagogie bringt ein rechtes Lager zusammen, das sich der Denunziation und Diffamierung verschrieben hat, einer Politik der Dehumanisierung, bis hin zum Verbrechen.
Corona beflügelt Verschwörungstheorien
Zudem hat sich in den letzten Tagen gezeigt, dass die Corona-Krise, wie jede unübersehbare Krise, die Verschwörungslegenden boomen lässt. Was immer man sich bei dem Begriff „Corona-Demos“ gedacht hat – bei den Kundgebungen, ob in Stuttgart, München oder Berlin, traten Menschen mit den krudesten Feindbildern auf. Zusammen kamen Bill-Gates-Hasser und Reichsbürger, Nazis, Impfsektierer und Esoteriker – allesamt, wenn sie vor Kameras etwas sagten, waren sie gesegnet mit dem großen Durchblick, und prophetischen Gaben, worauf sie sich am meisten einbilden. Sie wissen, was auf die Welt zukommt, sie sind weiterhin verabredet, Aktivisten mit einem Regenbogen auf ihrem hochgehaltenen Plakat neben Hardlinern der Rassenhygiene – Aufwiegler, Verschwörungsfanatiker, im Widerstand gegen das „Merkelregime“ wie überhaupt gegen eine „jüdische Weltverschwörung“.
„Dass es bei Antisemitismus nicht nur um Juden geht, sondern um die Feindschaft gegenüber einer komplexen Gesellschaft“, ist eine Erkenntnis, die Doron Rabinovici und Natan Sznaider im Vorwort zu dem Buch „Neuer Antisemitismus?“ formulieren – eine Erkenntnis auch während der Corona-Krise. Und die große Depression steht noch aus. Der Coronakrisen-Antisemitismus zeigt sich interessiert an einem neuen Gründerzeit-Antisemitismus. Dabei ist die neue Zeit nur eine alte. Wie schon im 19. Jahrhundert geht es um eine infame „Generalisierung der ‚Judenfrage‘“. (Von Christian Thomas)
Verleugneter Antisemitismus in Deutschland: Gefährlich ist nicht nur der offene Judenhass. Gefährlich ist es auch, ihn nicht wahrhaben zu wollen – Die Kolumne.