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Zwischen Sorglosigkeit und Hysterie: Wie viel Angst vor Corona ist noch gestattet?

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Von: Thomas Stillbauer

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Die einen sind vorsichtig, hier auf der Frankfurter Zeil, die anderen aber nicht.
Die einen sind vorsichtig, hier auf der Frankfurter Zeil, die anderen aber nicht. © Christoph Boeckheler

Die Gesellschaft hat die Corona-Beschränkungen anscheinend satt. Aber was wird aus jenen, die noch nicht locker genug sind für Lockerungen?

Wie viel Angst ist noch gestattet? Wenn wir über Corona sprechen: Wo ist die Grenze zwischen Besorgnis und Hysterie, an welcher Toleranzschwelle stehen wir gerade?

Corona: Die unsichtbare Gefahr – besonders für Risikopatienten

Herr W. hat zweieinhalb Monate zu Hause ausgeharrt. Herr W. ist ein sogenannter Corona-Hochrisikopatient. Er ist auf Medikamente angewiesen, die seine Immunabwehr stark einschränken. Sollte er einmal Lungenprobleme bekommen, müsse er die Arznei sofort absetzen, wurde ihm vor zehn Jahren eingebläut. Jetzt grassiert eine Lungenkrankheit. Tausende sind daran gestorben. Doch auf den großen Plätzen in den großen Städten treffen sich regelmäßig Menschen, die singen: „Das Virus existiert nicht.“

Das Unsichtbare. Im März überwog die Angst davor, im März galt die Angst als begründet. Im März und im April starben so viele. Alle Einkäufe hat in den vergangenen zweieinhalb Monaten Frau W. erledigt. Fast alle. Frau W. lässt Herrn W. nur noch samstags Brötchen holen und alle drei Wochen die Mineralwasserkästen, jeweils unter höchsten Sicherheitsvorkehrungen: Einkaufswagen, Gegenstände und Hände desinfizieren, Mund-Nase-Bedeckung. Beide arbeiten seit Mitte März daheim. Beide wundern sich, wenn andere keinerlei Wert darauf zu legen scheinen, dass Abstand gehalten wird. Auf den Spazierwegen sind es stets sie, die W.s, die den Entgegenkommenden genug Platz machen.

Angst und Unwissenheit in der Corona-Pandemie: Bahn Fahren? Jetzt?

An einem Feiertag im Mai wollen Frau und Herr W. einen größeren Ausflug unternehmen. Diese Wanderung sind sie im vorigen Jahr schon einmal gegangen. Es ist eine schöne Wanderung, die an historischen Mühlen entlangführt. Am besten, man fährt mit der regionalen Bahn zum Startpunkt, der auf halber Höhe des Gebirges vor der Stadt liegt, und wandert dann sanft bergab zurück. Aber Bahn fahren? Jetzt?

Wir probieren es mal, sagen sich die W.s. Wenn es zu gefährlich erscheint, lassen wir es sein.

Als sie die Haltestelle erreichen, stellt sich heraus, dass die Bahn an diesem Feiertag nur im 30-Minuten-Takt kommt. Es muss gerade eine weggefahren sein. Das Paar wartet eine knappe halbe Stunde und beobachtet besorgt, wie sich der Bahnsteig füllt. Na gut, wenn es bei diesen fünfzehn, zwanzig Leuten bleibt, beschließen sie, dann wagen wir es. Als sie den Zug schließlich besteigen, nehmen sie erschrocken zur Kenntnis: Er ist bereits randvoll.

Coronavirus scheint kaum noch jemanden zu stören

Außer ihnen scheint das allerdings niemanden zu stören. Die Leute drinnen plaudern vergnügt, nirgends ist an eineinhalb Meter Abstand auch nur zu denken. Ein Radfahrer hat seine Maske so hochgeschoben, dass sie nur noch die Nase bedeckt, nicht mehr den Mund.

Was jetzt? An der nächsten Station raus und die Wanderung aufgeben? Nachdem man eine halbe Stunde gewartet hat? Während alle anderen unbesorgt sind, Junge, Alte?

Herr W. ärgert sich. Warum lässt der Verkehrsverband an einem solchen Tag nicht mehr Bahnen fahren, in kürzeren Abständen? Gaststätten müssen zu jener Zeit noch fünf Quadratmeter Raum pro Gast bereitstellen. Öffentliche Verkehrsmittel nicht? Ist das Risiko einer Infektion in Bus und Bahn zu vernachlässigen? Die Virologen sind unsicher. Die Berliner Instanz Christian Drosten sagt: schwer zu bewerten. Manche Bahnen hätten ein gutes Luftaustauschsystem, andere nicht. In jenen, die die Luft schlecht abpumpen, könnte es Infektionen durch Aerosole geben.

Corona-Krise: Gewissheiten schwinden in Zeiten der Pandemie

Gewissheiten schwinden in Zeiten von Corona. Die W.s stellen sich an die Tür des Waggons, die sich an jeder Station automatisch öffnet, und hoffen, dass diese Art Luftaustausch genügt. Sie reden nicht viel. Die Fahrt dauert eigentlich zu lang.

Draußen aber kursieren längst wieder Bilder von Menschen, die sich in rauen Mengen an Meeresstränden aalen, Handtuch an Handtuch, die Großstadtseen bevölkern, als wäre dies der letzte verbliebene Ort auf der Welt, an dem sich alle zusammendrängen müssten. Menschen, die in Innenstädten zu Hunderten enthemmt die Nacht zum Tage machen. Menschen, die die Angst vor Ansteckung zur Hysterie erklären. Das Fernsehen zeigt in Dauerschleife Unterhaltungsshows mit prall gefüllten Zuschauerrängen, Produktionen aus der Zeit davor, gewiss, doch sie wirken wie live.

Inzwischen sei es in einem Bundesland wie Hessen wahrscheinlicher, von einem Gesteinsbrocken aus dem All erschlagen zu werden, als sich noch mit Corona zu infizieren, versichert die Partygesellschaft. Dumm müsse man sein, strohdumm, um sich das Virus noch einzufangen. Mehr Menschen stürben an den Folgen maßlos übertriebener staatlicher Vorsichtsmaßnahmen gegen eine Corona-Infektion als an der Infektion selbst. Millionen Existenzen gingen zugrunde, um Wenige zu schützen, die ohnehin bald gestorben wären: Virusprosa derer, die urplötzlich zu Freiheitskämpfern geworden sind.

Corona in Hessen: Das Land will endlich aufatmen

Das Land ächzt schon zu lange, das Land will endlich aufatmen. Das Land will, dass Kinder in den Kindergarten dürfen, Schüler lernen, Flugzeuge fliegen. Das Land will, dass die Wirtschaft wieder brummt. Es will keine Angst mehr haben. Dieses Land ist nicht dafür gemacht, mehr als zweieinhalb Monate im Ausnahmezustand zu überstehen.

Die Bäckerei betritt ein alter Mann an diesem Morgen ohne Maske. Draußen an der Tür hängt ein Schild: „Nur mit Mund-Nase-Bedeckung!“ Das Personal bedient den Kunden anstandslos. Als er wieder herauskommt, fragt ihn jemand in der Warteschlange, ob er krank sei. Die Frage ist doppeldeutig, aber zunächst ist sie ganz ernst gemeint: Ist er in einer Hinsicht krank, die es ihm nicht erlaubt, eine Maske zu tragen? Davon hat man gelesen, das gibt es ja. Der alte Mann winkt unwirsch ab. Der Versuch, ihm die Frage zu erklären, scheitert nicht zuletzt daran, dass ein Gesichtsausdruck, egal welcher, unter einer Maske schwer zu identifizieren ist.

Dasselbe Problem zeigt sich im Supermarkt am Flaschenrückgabeautomaten. Ein Mitarbeiter leert gerade den Behälter auf der linken Seite, als ihn ein Kunde freundlich darauf aufmerksam macht, dass der Behälter rechts nun auch voll sei. Er habe nur zwei Hände, blafft der Leergutmann zurück. Anstalten, die Situation mit Augensprache zu entschärfen, laufen ins Leere. Lächeln allein mit den Augen muss auch geübt sein.

Wie lang darf man sich noch vor Corona fürchten?

Wenn einer keine Angst hat, hat er keine Fantasie. Erich Kästner, in ganz anderen Zeiten, unter ganz anderen Bedrohungen. Aber wer jetzt noch Angst hat, was wird aus ihm? Wer jetzt noch nicht locker genug ist für die Lockerungen, wo soll er hin? Wir befinden uns längst in einer Situation, in der etwa Kinderbetreuungskräften nicht mehr überall das volle Verständnis gewiss ist, wenn sie sagen: Meine Mutter ist alt und krank, lasst mich bitte noch draußen. Kinder. Stecken doch niemanden an. Weiß doch jeder, besonders auf dem Boulevard.

Die Frage wird drängender: Wie lang darf man sich noch fürchten? Bis ein Impfstoff da ist? Und wenn das ein Jahr dauert? Wird es ein normales Leben geben im Unnormalen? Und wenn es überhaupt nicht gelingt, ein verlässliches Serum zu brauen? Selbst wenn: Die Unsicherheit, die Beklommenheit, die wir jetzt gelernt haben, wird diese Generation lange Zeit begleiten.

Von Thomas Stillbauer

Die Corona-Zahlen in Deutschland sinken weiter. Das RKI meldet die aktuellen Fallzahlen. Derweil klagen Pfleger über Konflikte in Pflegeheimen mit Besuchern. Alle Entwicklungen zur Corona-Krise in Deutschland gibt es im News-Ticker.

Erst Frankfurt, dann Bremerhaven: Ein Corona-Ausbruch bei einer weiteren Glaubensgemeinde in Deutschland hat 100 Fälle zur Folge.

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