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Colin Crouch über die Demokratie: „Der große Optimismus ist verflogen“

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Von: Michael Hesse

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Suche nach neuen Demokratie-Formen: Frauen-Proteste in Santiago de Chile.
Suche nach neuen Demokratie-Formen: Frauen-Proteste in Santiago de Chile. © IMAGO/NurPhoto

Der Politikwissenschaftler Colin Crouch über Menschenrechte, neue Formen der Demokratie und die Feinde der Freiheit.

Professor Crouch, viele glauben ja einen Verlust an demokratischen Strukturen zu erkennen, auch daher ist die Global Assembly in Frankfurt eine wichtige Veranstaltung. Auch Sie haben in „Postdemokratie“ auf die Auflösung demokratischer Strukturen hingewiesen.

Der große Optimismus für die Demokratie der 90er Jahre – nach dem Zerfall der Sowjetunion und der Ausbreitung der Demokratie in Lateinamerika – ist fast ganz verschwunden. Der Arabische Frühling war ein Misserfolg. Rechtspopulistische Gruppen in vielen Ländern glauben nicht an einen demokratischen Rechtsstaat, nur an einen „Willen des Volkes“, und den können aus ihrer Sicht nur die Führer der Populisten richtig deuten. Die Bedrohung durch den Terrorismus erlaubt es vielen Regierungen, die Rechte des Volkes einzuschränken. Man sollte aber nicht zu pessimistisch werden. Die Demokratie behauptet sich in den meisten mitteleuropäischen Ländern, auch wenn sie schwach ist. Die antidemokratischen Populisten und die fremdenfeindlichen Menschen finden überall Widerstand. Wenn Sie mich fragen, ob das Glas halb voll oder halb leer ist, würde ich sagen: halb-halb.

Viele Regionen der Welt sind in Bezug auf die Gewährung der demokratischen Teilhabe und von Menschenrechten unterschiedlich. Woran liegt das? Sind es vor allem rein ökonomische Gründe?

Nein. Es ist gewiss schwieriger, die Demokratie zu erhalten, wenn viele Leute nicht genug Brot haben. Es gibt aber arme Länder mit guten demokratischen Traditionen, wie Indien; und reiche Länder, in denen die Demokratie heute bedroht ist, wie die Vereinigten Staaten. In vielen Ländern verhindern starke Gruppen, wie zum Beispiel das Militär, die Entstehung einer Demokratie. Ein wichtiger Faktor in der Geschichte der Demokratie ist die Rolle der politischen Parteien. Wenn diese tiefe Wurzeln in der Bevölkerung haben und mit der politischen Klasse eng verwoben sind, kann die Demokratie blühen. Wenn die Parteien kaum existieren (wie es in großen Teilen der Welt der Fall ist), oder alt und schwach geworden sind (wie unter den sogenannten starken Demokratien) fehlt der Demokratie ein lebenswichtiges Element.

Lässt sich Demokratie nur auf der Ebene von Nationalstaaten organisieren?

Vergessen Sie nicht die Demokratie auf kommunaler Ebene! Wenn Sie an die supra-nationale Ebene denken, müssen Sie eine große Herausforderung im Blick haben: Viele der wichtigsten Fragen, mit denen wir uns heute konfrontiert sehen – etwa die Klimakrise – können gar nicht auf der nationalen Ebene gemeistert werden. Mit der wichtigen Ausnahme der Europäischen Union haben wir einen Mangel an übernationaler Demokratie. Eine solche Demokratie ist mit vielen Problemen versehen, aber absolut nötig.

Welche Rolle spielt das Nord-Süd-Gefälle für eine globale Demokratie-Bewegung?

Eine sehr wichtige Rolle! Die meisten Demokratien befinden sich im globalen Norden; die meisten Länder des globalen Südens haben Diktaturen, die fast keine politische Äußerung unter ihren Bürgern erlauben. Die arme Mehrheit der Weltbevölkerung besitzt deshalb keine Stimme in den Debatten der Welt. In der Zwischenzeit schützen die Leute im reichen globalen Norden immer stärker und eifersüchtig ihre Privilegien. Sie wollen so wenig Kontakte mit den Leuten des Südens haben wie möglich. Es ist unheimlich wichtig, dass eine globale Demokratie-Bewegung gegen diese Tendenzen kämpft!

An vielen Orten der Welt engagieren sich Menschen für soziale, ökonomische und kulturelle Menschenrechte, für Freiheit, Demokratie und die Erhaltung bedrohter Lebensräume. Oft erleben sie die Einschränkung ihrer Handlungsmöglichkeiten, den Abbau demokratischer Rechte, die Zerstörung der natürlichen Umwelt und die Verfolgung zivilgesellschaftlichen Engagements am eigenen Leib. Sind die Widerstände seitens der nicht-demokratischen Kräfte zu stark?

Genau so ist es! Was mehr kann man sagen?

Wie realistisch sind die Chancen, auf diesem Wege die Welt von „unten“ zu globalisieren?

Eine „Globalisierung von unten“ könnte nie erfolgreicher sein, als die bestehende „Globalisierung von oben“, auch wenn es eine aktuelle Deglobalisierung gibt. Die von oben globalisierenden Mächte – Banken, Konzerne usw. – sind zu mächtig. Doch kann die ,,Globalisierung von unten“-Bewegung eine mächtige Rolle spielen. Sie kann wichtige Fragen auf die Tagesordnung setzen und wichtige Erfolge feiern. Wir brauchen zum Beispiel globale Arbeitsrechte, eine globale Regulierung des Finanzsektors, globale Verbraucherrechte. Solche Dinge können wir nicht haben, wenn die einzige Opposition der Globalisierung der neue Nationalismus ist.

Die Global Assembly

Mit einem öffentlichen Auftakt in der Paulskirche beginnt am Sonntag, 14. Mai die „Global Assembly für Menschenrechte, Demokratie und globale Gerechtigkeit“. Das Treffen mit 45 Aktivistinnen und Aktivisten aus 40 Ländern findet aus Anlass des 175. Jahrestages der Nationalversammlung in der Paulskirche statt. Nach dem Auftakt wollen die Teilnehmer:innen drei Tage lang in Klausur darüber beraten, wie trotz zunehmender autoritärer Tendenzen in der Welt die Grund- und Menschenrechte verteidigt und womöglich ausgebaut werden können.

Die Versammlung ist aus der Überzeugung entstanden, dass die Frage nach Demokratie und Menschenrechten, um die 1848 auf nationaler und europäischer Ebene gerungen wurde, in Zeiten der Globalisierung nur transnational diskutiert werden kann.

Die Idee der „Global Assembly“ stammt von der Initiative „Der utopische Raum“, einer Kooperation der Stiftung Medico international, des Instituts für Sozialforschung und der FR. Aktiv beteiligt sind außerdem Brot für die Welt, Medico, Misereor, Reporter ohne Grenzen, die Friedrich-Ebert-, die Heinrich-Böll- und die Rosa-Luxemburg-Stiftung. Die Evangelische Akademie Frankfurt ist Gastgeberin für die dreitägige Klausur, die auf die Eröffnung folgt. Gefördert wird das Ganze von der Stadt Frankfurt, dem Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst sowie der Bundeszentrale für politische Bildung. Eine Fortsetzung ist im März 2024 ist geplant.

Der öffentliche Auftakt findet auf Einladung der Stadt Frankfurt am Sonntag, 14. Mai, um 18 Uhr in der Paulskirche statt. Dort werden die Teilnehmer:innen begrüßt, außerdem gibt es eine Diskussion zwischen dem Schriftsteller Navid Kermani und der Sozialanthropologin Shalini Randeria über Fragen globaler Demokratie, dazu Musik von Mitgliedern des Ensemble Modern. Die Moderation übernimmt FR-Autorin Bascha Mika.

Colin Crouch , Jahrgang 1944, studierte Soziologie an der London School of Economics und promovierte in Oxford. Er hatte Lehrstühle in Oxford und am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz. Er ist Professor emeritus für Governance and Public Management an der University of Warwick.

Sein erstes Buch, „The Student Revolt“, erschien 1970 und beruht auf Crouchs Erfahrungen während der Studentenunruhen. International bekannt wurde er mit „Postdemokratie“, 2005 auf Englisch, 2009 auf Deutsch erschienen. 2021 kam ebenfalls bei Suhrkamp „Postdemokratie revisited“ heraus (278 S., 18 Euro). Foto: Privat

Gibt es historische Vorläufer ähnlicher Bewegungen einer globalen Demokratie „von unten“?

Wir haben viele Beispiele von Bewegungen für internationale Menschen-, Arbeits- und andere Rechte. Viele von diesen sind in der Arbeit der Gremien der Vereinten Nationen eingeschlossen. „Global“ bedeutet etwas anderes als „international“. Die neue Emphase der ,,Globalisierung von unten“ steht für eine Globalisierung, die, weil sie der aktuellen wirtschaftlichen Globalisierung folgt, bei weitem umfangreicher als frühere Formen der Internationalisierung ist.

Die Paulskirche feiert ihr 175. Jubiläumsjahr als Ort der deutschen Nationalversammlung. Wofür steht die Paulskirche aus Ihrer Sicht? Für das Scheitern oder für den Aufbruch in ein demokratisches Zeitalter?

Sie steht sicher für beides! Scheitern und Aufbrüche gehören oft zusammen.

Die Initiative folgt der Überzeugung, dass dem nationalen Aufbruch von 1848 heute nur gerecht werden kann, wer auf den Anspruch umfassender Menschenrechte für alle auch im globalen Rahmen besteht. Eine Institution wie die UN kommt in dieser Frage nicht weiter. Warum nicht?

Oft benutzen wir das Wort „universal“, wenn wir in der Tat nur „national“ meinen. Ein Beispiel: der „universale Wohlfahrtsstaat“ wird normalerweise etwas allgemein nur auf der nationalen Ebene angestrebt. Aber reicht das für einen echten Universalismus aus? Und was hatte Friedrich Schiller wirklich im Kopf, als er in „An die Freude“ schrieb: „Alle Menschen werden Brüder/Wo dein sanfter Flügel weilt?“ Alle Menschen in Afrika, Asien und anderswo? Vielleicht. Doch hatte er eine Idee der Schaffung einer echten globalen Brüderschaft? Heute können wir diese Fragen nicht vermeiden, weil eine globalisierte Wirtschaft und große Völkerbewegungen schon Bestandteil unseres Lebens sind. Sollten Migranten und Flüchtlinge Teil des universalen Wohlfahrtsstaats sein? Heute hören wir ein heftiges „Nein!“ aus wichtigen Bewegungen in fast allen reichen Ländern. Wir benötigen also ganz gewiss Stimmen, die für umfassende Menschenrechte kämpfen. Die Vereinten Nationen arbeiten noch für diese Ziele, doch haben sie zwei Probleme. Erstens sind sie natürlicherweise nach so vielen Jahren bürokratisch geworden und haben den Sinn für ihren moralischen Zweck ein wenig verloren. Zweitens, und wichtiger, gibt es große Konflikte unter den großen Mitgliedern der UN, und das verhindert eine echte Erneuerung der Organisation.

Wenn eine Demokratie von unten möglich ist, wie kann sie gestaltet werden? Gibt es eine Alternative für die repräsentative Demokratie?

Es gibt Möglichkeiten für andere Formen der demokratischen Beteiligung – zum Beispiel Bürgerversammlungen – und man muss für sie kämpfen. Da die Parteien, die so wichtig in der Geschichte der demokratischen Partizipation waren, ihre Rolle der Vermittlung zwischen Staat und Bürger immer mehr einbüßen, sind neue Formen absolut nötig. Dennoch ist die formelle, repräsentative Demokratie für uns immer noch essenziell; ohne sie können wir keine demokratische Regierungen bestimmen. Wir dürfen das Modell der repräsentativen Demokratie genauso wie die mit ihr verbundene Parteiendemokratie nicht vernachlässigen. Sie sind unverzichtbar, wenngleich unzureichend.

Die Unteilbarkeit der Menschenrechte sieht sich massiven Angriffen ausgesetzt. Wird sich das Argument durchsetzen, dass es keine universalen Rechte wie Menschenrechte gibt?

Es gibt diese Rechte in keinem absoluten, abstrakten Sinn. Sie sind durch menschliche Kämpfe, Argumente und Debatten umgesetzt worden – und sie verändern sich mit der Zeit und von Ort zu Ort. Recht beruht auf einem Konsens. Der Kampf um Rechte in einer globaleren Öffentlichkeit wird daher schwieriger und muss doch geführt werden. Wir benötigen das Recht sehr!

Politikwissenschaftler Colin Crouch.
Politikwissenschaftler Colin Crouch. © imago/photothek

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