Bruno Preisendörfer: „Wer Bismarck sagt, muss auch Bebel sagen“

Bruno Preisendörfer über die Jahre um 1871, das Leiden in den Fabriken und die Standfestigkeit von Frauen und Männern, die wusste, dass ihre Ziele nicht in ihrem eigenen Leben zu erreichen sein würden.
Bruno Preisendörfer warnt, während wir uns in seiner Küche zum Gespräch hinsetzen, dass es laut werden könnte von draußen. Im Innenhof des Komplexes, wo der Schriftsteller in Berlin-Neukölln wohnt, entsteht ein zusätzliches Haus. Diese Art der Verdichtung des städtischen Raums war schon Thema der Epoche, von der Preisendörfer in seinem Buch „Als Deutschland erstmals einig wurde“ erzählt. Er beleuchtet die Bismarckzeit, so wie er sich zuvor schon mit den Epochen Goethes, Luthers und Bachs beschäftigt hatte.
Herr Preisendörfer, der Blick aus Ihrem Fenster zeigt, dass die Themen, von denen Ihr jüngstes Buch handelt, uns gar nicht so fern sind. Warum beschließen Sie mit Bismarck Ihre historischen Zeitreisen, wo Sie doch zuletzt bei Johann Sebastian Bach waren?
„Als die Musik in Deutschland spielte“ hieß das. Als ich damit zu Lesungen unterwegs war, habe ich behauptet, das sei das letzte Buch in der Reihe. Aber mir dämmerte schon, dass die Bismarckzeit noch fehlt.
Warum?
Als Arbeiterkind, das sich immer für die Arbeiterbewegung interessiert hat, musste das noch sein. Es gab außerdem ein Jubiläum, die deutsche Reichsgründung 1871.
Zwar steht vorn „Bismarckzeit“ drauf, aber durch das ganze Buch zieht sich die Arbeiterfrage, ziehen sich die Veränderungen für die Masse. Ist sie diesmal das eigentliche Thema?
Diese Formierung der Massen zur Klasse im Zuge der Industrialisierung ist ein ganz wichtiger Prozess. Die soziale Frage, die über die Arbeiterfrage noch hinaus ging, hat die Menschen sehr stark beschäftigt, auch das liberale Bürgertum – aus ehrlich gemeinter Sorge und aus Sorge um die eigenen Interessen. Man hatte Angst vor einer Revolution. Also, wer Bismarck sagt, muss oder kann auch Bebel sagen, der mir deutlich näher steht.
Sie zeigen im Zusammenhang mit Bebel auch noch andere wichtige Gestalten wie Wilhelm Liebknecht, Ferdinand Lassalle, Karl Marx. Konnte man sich in der Zeit als Kritiker profilieren?
In der Publizistik konnte man sich sozialkritisch sicher einen Namen machen. Aber man konnte nicht in die Sozialdemokratie gehen, um berühmt zu werden. Die Sozialdemokraten wurden sehr stark verfolgt. Es wurden nicht nur Zeitungen verboten, es gab Ortsverweise. Das traf ganze Familien. Die Leute, die sich da exponiert haben, waren Überzeugungstäter oder -täterinnen.
Warum kennt man so wenige Frauen aus der Zeit?
Sie wurden aus der Politik weitgehend herausgehalten. Viele maßgebliche Köpfe waren in ihrem Männlichkeitsbild gefangen. August Bebel hat 15 Jahre gebraucht, um die Forderung nach dem Wahlrecht für Frauen ins Parteiprogramm zu bringen. Ich erinnere an die junge Clara Zetkin. Und ich mache einen kleinen Knicks vor Pauline Staegemann, einer ganz tapferen Person, die sich mit einem Gemüseladen über Wasser hielt. Sie musste mehrere Male ins Gefängnis. Vor zehn Jahren wurde immerhin eine Straße in Friedrichshain nach ihr benannt. Leute wie sie sind so bewundernswert, weil sie wussten, dass ihre Ziele nicht innerhalb des eigenen Lebenshorizonts zu erreichen waren. Ohne Zukunftsideologie, ohne Utopie hätten diese Menschen gar nicht das Stehvermögen aufbringen können.
An den Glauben zu Luthers Zeiten ist die politische Überzeugung getreten?
Ja, gestützt durch die marxistische Theorie. Zu deren Kern gehörte zu sagen, dass der Kapitalismus wegen seiner Krisen gesetzmäßig zusammenbrechen werde und eine neue Zeit beginnt. Man müsse Aktionen machen, aber das Ergebnis stehe fest. Heute ist es leicht, sich darüber schlaumeierisch zu erheben. Die Menschen damals hätten es ohne diese Hoffnung nicht ausgehalten. Da stehen elementare menschliche Erfahrungen dahinter. Die Leute haben ja gelitten in den Fabriken.
Es ist von heute aus unvorstellbar, wie damals darum gerungen wurde, dass die Kinder nur zwei Stunden weniger arbeiten sollten als Erwachsene!
Und die Erwachsenen haben mindestens zwölf Stunden gearbeitet, an sechs Tagen die Woche. Der Kampf ging über viele Jahrzehnte. Mein Vater war Fabrikarbeiter. In den frühen 70er Jahren in Westdeutschland hatten die Gewerkschaften einen Slogan, den ich noch kenne: „Am Samstag gehört mein Papa mir“.
Sie schreiben sogar, dass Bismarck für Sonntagsarbeit war, damit die Fabriken durcharbeiten können.
Die Idealisierung Bismarcks als Großvater des Sozialstaates, die man immer noch hört, ist der blanke Unsinn. Bismarck war gegen jede Art von Arbeiterschutzgesetzgebung. Er war gegen jede Art der Beschränkung von Arbeitszeit. Und sein Argument, das schade der Konkurrenzfähigkeit der deutschen Wirtschaft, das wird heute noch hervorgeholt. Die kleinen Reformen, die er auf den Weg brachte, waren machtpolitisch motiviert: Zuckerbrot und Peitsche. Man wollte der Arbeiterbewegung etwas geben, damit sie sich von der Sozialdemokratie abwendet.
Zur Sache:
Bruno Preisendörfer, 1957 in Kleinostheim in Unterfranken geboren, hat in Berlin Germanistik, Politikwissenschaften und Soziologie studiert und wurde 1997 mit einer Arbeit zu „Staatsbildung als Königskunst“ promoviert. Er hat als Journalist gearbeitet und Romane, Erzählungsbände und Sachbücher veröffentlicht, darunter „Die letzte Zigarette. Ein Liebesroman“.
Der erste Zeitreisen-Band war 2015 „Als Deutschland noch nicht Deutschland war. Reise in die Goethezeit“, gefolgt von „Als unser Deutsch erfunden wurde. Reise in die Lutherzeit“ (2016), „Als die Musik in Deutschland spielte. Reise in die Bachzeit“ (2019) und nun dem Bismarckzeit-Buch.
Bruno Preisendörfer: Als Deutschland erstmals einig wurde. Reise in die Bismarckzeit. Galiani Berlin, 2021. 448 S., 25 Euro.
Wie sind Sie all der Quellen Herr geworden, wie haben Sie die Arbeit organisiert?
Man muss das auch mögen. Und fleißig sein. Ich habe eine Idee, recherchiere daran drei Nachmittage, und dann werden es am Ende nur zwei Sätze. Oder ich lese 300 Seiten, um etwas zu finden und dann kommt es gar nicht vor. Also kann ich nur zur nächsten Quelle übergehen. Glücklicherweise war vieles am Bildschirm verfügbar.
Sie haben ja offenbar auch den ganzen Fontane gelesen, es gibt Bezüge zu einzelnen Romanen, auch Tagebuchauszüge und Briefe.
Der gehört in diese Zeit und hat vieles beschrieben. Ich will ja dem großen Publikum eine große Geschichte in vielen, vielen kleinen Geschichten erzählen. Wenn ich über die Wohnungsnot schreibe, dann ist es natürlich eindrücklich, wenn ein Theodor Fontane, der nicht zu den Ärmsten gehörte, auch umziehen musste. Und warum? Weil bei seinem Haus der Besitzer gewechselt hatte. Ein Bankier hatte es gekauft und die Miete deutlich erhöht. Das war aber kein individuelles Phänomen, sondern ein Massenschicksal. Das bekomme ich mit, wenn ich Statistiken lese.
Da haben Sie erstaunliche Beispiele gefunden: Im Wedding hatte sich die Bevölkerung in dreißig Jahren verzehnfacht!
Der Wedding ist in der Zeit erst entstanden. Berlin wuchs rasant. Um 1880 war der Kurfürstendamm ein Waldweg, die Schönhauser Allee war eine baumbestandene Allee. Die Leute sind in die Stadt geströmt. Es gab ein gewaltiges Migrationsproblem, wobei die Migranten nicht über die Meere kamen, sondern vor allem aus dem Osten. Es waren Landarbeiter, die von den Gütern in Ostpreußen und Pommern geflohen sind, weil sie hörten, in der Stadt müsse man nicht einmal was können, nur Steine schleppen. Die träumten von Freiheit. Allerdings gab es dann wieder einen großen Unterschied zum Beispiel zwischen den Fabrikarbeiterinnen und den Dienstmädchen.
Sie zitieren aus den Aufzeichnungen des Dieners von Werner von Siemens. Wie sind Sie auf den gestoßen?
Ich habe Biografien über Siemens gelesen, weil er eine große Rolle gespielt hatte. Da tauchte dieser August Fiebig auf, der etwa ab 1880 sein Hausdiener war und auch, dass der seine Lebenserinnerungen aufgeschrieben hätte. Die sind nie veröffentlicht worden, aber das Siemens-Akten-Archiv hat sie und konnte sie mir zur Verfügung stellen.
Wenn man Ihre vier Zeitreise-Bücher im Vergleich sieht: Ist dieser Band derjenige, für den es am besten möglich war, auch Geschichte von unten zu erzählen? Weil es da erstmals echte Quellen gab?
Ja, das ist der wesentliche Unterschied. Sonst gab es bis auf wenige Ausnahmen nur Dokumente über die unteren Bevölkerungsschichten, Beschreibungen, Gerichtsakten. Hier nun habe ich ganz viele Zeugnisse von ihnen selbst. Auch von Frauen übrigens, etwa von der sozialdemokratischen Bildungsbewegung, die ihre Mitglieder anregte, Erfahrungen aufzuschreiben. Das konnte ich abgleichen mit Einschätzungen anderer.
Wie ging es Ihnen, wenn Sie auf Parallelen zur Gegenwart gestoßen sind?
Mitunter war es schon irritierend, dass wir in manchen Bereichen nicht viel weiter gekommen sind. Es scheint doch so zu sein, dass bestimmte Strukturen immer wieder auftauchen. Das Problem mit den Fremden zum Beispiel, die Wohnungsnot. Oder die Subordination: Dass stets noch Leute da sind, die schlechter behandelt werden, beispielsweise Frauen oder Obdachlose.
Sie haben in der Corona-Zeit an dem Buch geschrieben. Ist das Rudolf-Virchow-Kapitel deswegen hineingelangt?
Nein, wenn überhaupt, dann schreibe ich deswegen von den letzten Cholera-Epidemien, die in diese Zeit fielen. Oder von Tuberkulose und Typhus, die mit extremer Ansteckungsrate grassierten. Virchow kannte ich vorher nur durch die anatomische Sammlung der Charité. Als ich mich mit ihm beschäftigte, hat er mich umgehauen. Der hatte auch nur 24 Stunden am Tag, aber so viel erreicht. Er war ein Pathologe von Weltrang, er beschäftigte sich mit ethnologischen Dokumentationen, untersuchte Gräber, er hat sich dafür eingesetzt, dass in Berlin eine Kanalisation gebaut wird. Und er war politisch aktiv, legte sich mit Bismarck an. Der forderte ihn zum Duell. Auf solch altmodisches Zeug wollte Virchow sich nicht einlassen.
Wie haben Sie überhaupt Ihr Material geordnet?
Als erstes suche ich für die Zeit eine thematische Begrenzung. Innerhalb des Buches setze ich Schwerpunkte, die sollen dann auch nicht unverbunden nebeneinanderhängen. Wenn es im Kapitel um die technologische Entwicklung geht, habe ich zuerst die Eisenbahn. Zu den neuen Kommunikationssystemen gibt es einen Übergang aus der Sache heraus, weil die Telegraphenlinien entlang der Eisenbahnlinien gebaut wurden. Auch die Elektrifizierung war eine wichtige Infrastrukturleistung der Epoche. Mit der gelange ich in die Städte, denn Siemens hatte eine elektrische Straßenbahn entwickelt. Und da sind wir schon bei der Kanalisation. Wenn ich so ein Buch schreibe, habe ich zwei Jahre Leseverbot für aktuelle Literatur. Ich lese ausschließlich Sachen aus der Zeit oder über die Zeit, sehe mir Bilder an, fahre zu den Schauplätzen. Ich träume sogar davon. Mit Bismarck ist nun wirklich Schluss.
Das behaupten Sie jetzt!
Nein, wirklich. Nach vier Büchern in dieser Herangehensweise bin ich auch etwas erschöpft. Und es gibt sachliche Gründe. Die Bücher sind so gestrickt, dass immer eine bedeutende Person, ob ich sie nun mag oder nicht, das Gravitationszentrum ist, dann wird es drumherum aufgebaut. Chronologisch haben wir da Luther, Bach, Goethe, Bismarck. Was würde da folgen? Man könnte über die Adenauerzeit schreiben. Aber das Buch gibt es, von Harald Jähner, „Wolfszeit“. Außerdem wäre mir da der historische Sicherheitsabstand zu gering. Man könnte auch über die Hitlerzeit schreiben. Da wäre mein Verfahren nicht passend. Im Bismarck-Buch gehen wir zusammen auf Arbeiterversammlungen, in die Bergwerke oder ins Krankenhaus, sogar auf Kriegsschauplätze. Mit dieser Erzählmethode müsste man dann ins Konzentrationslager führen. Nein, das ist nicht angemessen.
Interview: Cornelia Geißler