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Der Abbau eines Dorfes

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Von: Steffen Herrmann

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Blick in die Borschemicher Straße in Keyenberg. Das Dorf soll dem Tagebau Garzweiler weichen. Foto: Henning Kaiser/dpa
Blick in die Borschemicher Straße in Keyenberg. Das Dorf soll dem Tagebau Garzweiler weichen. © Henning Kaiser/dpa

Keyenberg droht die Zerstörung: Bis 2026 wird es dem Tagebau Garzweiler geopfert. Ein zweites Leben soll das Dorf in der virtuellen Realität finden.

Wann hört ein Dorf auf, zu existieren? Gibt es einen Zeitpunkt, an dem zu viel verschwunden ist von dem, was einst eine Dorfgemeinschaft war? Keyenberg, am Rande des Tagebaus Garzweiler. Das Dorf ist in einem Zwischenstadium. Einerseits ist alles da, was es braucht: die Heilig-Kreuz-Kirche im Dorfzentrum, umgeben von den Menschen in ihren Wohnhäusern und Höfen, dann Felder und ein bisschen Wald.

Aber gleichzeitig verschwindet Keyenberg. Dem 893 erstmals erwähnten Ort droht die Vernichtung, die tatsächliche Zerstörung und endgültige Auflösung. Und in einer gewissen Weise existiert das Dorf schon längst nicht mehr. Es hat begonnen, mehr und mehr in der Erinnerung und der virtuellen Realität zu existieren als in der tatsächlichen. Dazu später mehr.

Bedroht wird Keyenberg vom Braunkohleabbaugebiet „Garzweiler 2“. Wie ein lebendiger Organismus ist der Tagebau dem Dorf in den vergangenen Jahren immer näher gekommen. Auf seinem Weg nach Keyenberg hat er die östlichen Nachbardörfer verschluckt: Otzenrath, Spenrath, Holz, Pesch und Borschemich. Dorflinden wurden gefällt, Kirchen abgerissen, die Toten umgebettet.

Lässt man in Keyenberg eine Drohne aufsteigen, parallel zum neugotischen Turm der Heilig-Kreuz-Kirche, und schwenkt über das Dorf, sieht man, dass die Abbruchkante bis auf wenige Hundert Meter an die Ortsgrenze herangerückt ist. Das Ende, in Keyenberg ist es tatsächlich nah.

Einst lebten knapp 880 Menschen hier. Eine kleine Gemeinschaft, die stolz war: auf die Kirche und das einfache Leben, auf das Schützenfest im Sommer, die Höfe und das eigene Land, auf „Glaube, Sitte und Heimat“, wie der Leitspruch der 1449 gegründeten Keyenburger Schützenbruderschaft lautet. Leben, tief verwurzelt.

Kampf um den Erhalt des Dorfes

Geblieben waren bis Ende Dezember des vergangenen Jahres nach Angaben der Verwaltung noch 265 Menschen. Unter dem Eindruck des nahenden Tagebaus verließ der Rest die Gegend oder siedelte um. In Neu-Keyenberg, einer flachen Reißbrettsiedlung, wo der Tagebaubetreiber RWE den Bewohnern des Dorfes neue Grundstücke als Entschädigung anbietet, sollen bereits mehr als 277 Alt-Keyenberger leben.

Viele jener, die im alten Keyenberg ausharren, kämpfen um den Erhalt ihres Dorfes. Im Zentrum – des Kampfes, des Dorfes – steht die Heilig-Kreuz-Kirche. Ihr Kirchturm, unverhältnismäßig groß für eine solch kleine Siedlung, ragt schützend über die alten Häuser mit ihren großen Grundstücken.

Seit 714 oder 716 soll es eine Kirche an dieser Stelle geben, vielleicht wurde ihr Rohbau auch erst 1018 fertiggestellt. Sie begleitet die Menschen Keyenbergs durch die Jahrhunderte, ein Anker, ein Fixpunkt, in den Wirren der Zeit. Sie sieht Geburten, Taufen, Beerdigungen, sieht das Dorf pulsieren im Schnelldurchlauf der Jahrhunderte, Menschen siedeln sich an und ziehen weg, alte Höfe, neue Häuser, der Rausch der Zeit.

Auch die Kirche selbst verändert sich: Aus der Saalkirche wird eine romanische Basilika, eine Vorhalle aus Fachwerk wird abgerissen und von einer steinernen ersetzt; es wird weiter und weiter gewerkelt, bis die Kirche eine wilde Mischung verschiedener Stile – und teils baufällig – ist. Also beginnen die Keyenberger 1866 ihre Kirche nach den Plänen von Friedrich von Schmidt im neugotischen Stil umzubauen. Dafür soll der Architekt, der auch für den Bau des Wiener Rathauses verantwortlich war, neben etwas Geld auch eine Kiste Rheinwein erhalten haben. Man wusste, was gut war.

Kirche in der Hand von RWE

Seit 2019 ist die Kirche in der Hand von RWE. Der Bischof von Aachen hatte den Verkauf 2019 genehmigt, die für Ende März geplante Entwidmung aber vor wenigen Wochen gestoppt. Der Grund: Das Bistum wollte die Leitentscheidung der nordrhein-westfälischen Landesregierung zu Garzweiler 2 abwarten, die für April oder Mai erwartet wurde. Sie kam schon am letzten Dienstag: Keyenberg und seine Nachbardörfer werden abgebaggert. Bis 2026, und damit zwei Jahre später als zunächst geplant. Ein kleiner Aufschub, der eine Hintertür offenlässt: Vor 2026 soll noch einmal überprüft werden, ob die Inanspruchnahme tatsächlich noch erforderlich ist, wie nordrhein-westfälische Wirtschaftsminister Andreas Pinkwart (FDP) mitteilte.

So steht die Kirche nun in den Überresten Keyenbergs, zwischen bewohnten und verlassenen Häusern. Nur scheinbar unbewegt, von dem was um sie herum passiert. Denn während die einen weiter um das Dorf kämpfen, findet ein Transfer schon statt: aus der tatsächlichen Realität in eine virtuelle.

Einer, der daran mitarbeitet ist Arne Müseler. Der Fotograf stammt aus dem Ruhrgebiet, das selbst große Schäden vom Bergbau davongetragen hat, lebt aber inzwischen in Salzburg. Seit 2006 dokumentiert er, was das Braunkohleabbaugebiet Garzweiler mit den umliegenden Dörfern macht. Auf seiner Webseite kann man am letzten Keyenberger Schützenfest im Mai 2019 teilnehmen, Interviews mit Keyenberger Bürgern oder das verrammelte Schaufenster einer Bäckerei sehen. Der ästhetische Kitzel verlassener Häuser interessiert Müseler nicht, ihm geht es um den Prozess des Verschwindens: Wie aus einem blühenden, lebendigen Dorf ein strukturloses Etwas wird und was das mit den Menschen macht.

Dieser Prozess verlaufe zunächst langsam, fast im Verborgenen, sagt Müseler, um sich dann zu beschleunigen: „Es gibt einen Zeitpunkt, an dem das Dorf zerfällt, an dem es keinen dörfliche Struktur mehr hat. Plötzlich sind alle Bäume gerodet, plötzlich teilt eine Schneise den Ort oder irgendwelche Landmarken fehlen.“

An diesem Punkt ist Keyenberg noch nicht. In einer Reihe mit seinen bereits zerstörten und verschwundenen Nachbardörfern steht es trotzdem: im Virtuellen Museum der verloren Heimat. Unter diesem poetischen Namen will der Heimatverein Erkelenz die verschwindenden Dörfer zumindest digital erhalten. Dort kann man einen Rundgang durch die Heilig-Kreuz-Kirche machen (noch steht sie), den prächtigen Hochaltar aus französischem weißen Sandstein, die vergoldete Tabernakeltür, Holztafeln mit Heiligenfiguren und sakrale Gegenstände bewundern (teilweise entfernt). Das Taufbecken, die Figuren im Kirchenschiff – an allem hängt irgendeine Geschichte.

Und das soll alles verschwinden? Wie ergeht es dabei den Menschen? Eine einfache Antwort darauf gibt es wohl nicht. Bei seiner dokumentarischen Arbeit hat der Arne Müseler beobachten können, dass jeder anders auf das Verschwinden der eigenen Heimat reagiert. „Es gibt Menschen, die hängen an dem Ort, versuchen aber ganz schnell damit abzuschließen und als eine der ersten in die neuen Siedlungen umzuziehen. Dann gibt es Menschen, die bis zum letzten Moment dort wohnen wollen.“

Keyenberg wird noch einige Jahre existieren, zumindest als Ansammlung von Häusern und Höfen um eine Kirche. Ob die Dorfgemeinschaft gerettet werden kann, ist unsicher. Arne Müseler bekommt regelmäßig Mails von Betroffenen, deren Dörfer schon verschwunden sind. Die sich an die verlorenen Dörfer, die verlorene Heimat erinnern, die ihm danken. Diesen Menschen werden eine Sache oft schon am Anfang des Umsiedlungsprozesses klar, sagt Müseler: „Wie wichtig das Dorf ist.“

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