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Boris Akunin: „Wir wissen mit Sicherheit, dass Putins ,Reich‘ nur kurz sein wird“

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„Wenn Putin gewinnt, wird innerhalb des Landes Finsternis herrschen“, sagt Boris Akunin. Anhänger und Anhängerinnen des russischen Präsidenten am 9. Mai 2022 auf dem Roten Platz.
„Wenn Putin gewinnt, wird innerhalb des Landes Finsternis herrschen“, sagt Boris Akunin. Anhänger und Anhängerinnen des russischen Präsidenten am 9. Mai 2022 auf dem Roten Platz. © AFP

Der Schriftsteller Boris Akunin im FR-Interview über die russische Opposition, Bücherverbrennungen und die zögerliche Haltung Deutschlands, die den Ukraine-Krieg verlängern könnte.

Frankfurt – Im Kulturausschuss des russischen Parlaments wurde jüngst angeregt, den Verkauf von Büchern von Boris Akunin (Grigori Tschchartischwili) in Russland zu untersagen. Der Grund: Seine „aggressiv antirussische und staatsfeindliche Haltung“.

Der in Georgien geborene Akunin, der Russland kurz nach der Annexion der Krim verlassen hat und in London lebt, hat sich deutlich gegen den Ukraine-Krieg ausgesprochen: Es sei „eine Schande, auf der Seite des Bösen zu stehen“. Im Interview mit der FR sagt der Schriftsteller, welche Gefahren Russland als „belagertes Lager“ für Europa darstellt und zu welchem neuen Buch ihn der Krieg in der Ukraine bewegt hat.

Herr Akunin, hat die Buchbranche in Russland auf den Aufruf des Kulturausschusses schon reagiert? Erwarten Sie ein Verbot?

Ja, das wird kommen. Wenn nicht jetzt, dann später. Nicht nur gegen mich, sondern auch gegen andere Schriftsteller, die sich öffentlich gegen die Diktatur aussprechen. Darauf bin ich seit langem vorbereitet. Was mich trauriger macht: dass Stephen King, Joanne K. Rowling und viele andere Autoren und Autorinnen ihrerseits den Verkauf ihrer Werke in Russland verboten haben. Solche Repressalien gegenüber russischen Lesern spielen Putin nur in die Hände. Sie verstärken den von seiner Propagandamaschine verbreiteten Mythos, dass die ganze Welt gegen Russland sei und sich das Volk um den „Landesführer“ scharen müsse. Ich werde mich nie freiwillig von den russischen Lesern trennen. Möge Putin mich verbieten. Meine Leser sollen wissen: Er war es, der ihnen etwas weggenommen hat, nicht ich.

1933 wurden die Bücher von Erich Maria Remarque in Berlin verbrannt. Fühlen Sie sich heute als eine Art Remarque-Figur der russischen Kultur?

Nein, das tue ich nicht. Deutsche Schriftsteller, die damals emigriert sind, waren in einer viel schlimmeren Situation. Die Nazis waren einfach unvergleichlich potenter als die Putinisten heute. Viele der Ausgewanderten glaubten, dass das Reich tatsächlich tausend Jahre dauern würde. Stefan Zweig beging aus Verzweiflung Selbstmord. Wir hingegen wissen mit Sicherheit, dass Putins „Reich“ nur kurz sein wird. Außerdem ist es dumm, im 21. Jahrhundert Bücher zu verbrennen. Die meisten meiner russischen Leser verwenden sowieso E-Books und Hörbücher.

Sie selbst haben Russland 2014 verlassen. Welche Bedeutung hatte dieses Jahr für Russland?

Das war der Punkt, an dem es kein Zurück mehr gab. Es wurde klar, dass Putin die Weichen für eine lebenslange Herrschaft gestellt hatte. Nach der Annexion der Krim konnte er nicht mehr friedlich abtreten.

Wie soll der Westen Ihrer Meinung nach Putin nach dem Überfall auf die Ukraine und den atomaren Drohungen begegnen?

Man darf ihm unter keinen Umständen nachgeben. Gott sei Dank erinnert sich jeder daran, wie Neville Chamberlain nach dem Münchner Abkommen auf Kosten der Tschechoslowakei den „Frieden“ verkündete – und was danach geschah. Der Westen muss entschlossen sein. Der wirksamste Schlag wäre ein Übereinkommen mit China, dass es mit Putin bricht. Das gesamte Kalkül des Kremls beruht allein auf den Beziehungen zu Peking.

Die Bevölkerung Russlands leidet schon unter den Sanktionen, und sie muss auch mit einer Verschärfung der Repressionen rechnen. Was bedeutet das für Putins Regime?

Es hängt davon ab, ob es ihm gelingt, die Russen davon zu überzeugen, dass er ihr einziger Rückhalt und Schutz vor Anfeindungen von außen ist. Wenn er scheitert, wird es eine Revolution geben. Wenn er Erfolg hat, wird Russland zu einem belagerten Lager. Eine „Iranisierung“, sogar „Nordkoreanisierung“ sind dann für lange Zeit möglich. Russland wird sich hinter dem Eisernen Vorhang verschanzen, mit rostigen Raketen drohen und den Planeten endlos mit einem Atomkrieg terrorisieren. Innerhalb des Landes werden Finsternis und das „System Gulag“ herrschen.

Russlands Sicherheitsratschef Nikolai Patruschew wird in den Medien als möglicher Nachfolger Putins genannt. Wie schätzen Sie ihn ein?

Nach seinen öffentlichen Äußerungen zu urteilen, hat Patruschew eine sehr begrenzte Intelligenz. Falls er an die Macht kommt, wird er sich nicht lange halten können. Aber jeder, der Putin ablöst, egal wie widerwärtig er sein mag, wird die Chance haben, alle Fehler auf den Ex-Machthaber zu schieben, um irgendwie aus dem aktuellen Loch herauszukommen. Es wird besser sein als die jetzige Situation.

Boris Akunin.
Boris Akunin. © imago images/ZUMA Wire

Würde aber die Machtübernahme durch den ehemaligen FSB-Chef nicht bedeuten, dass die Sicherheitsdienste ihre Position im Land endgültig zementiert haben?

Wladimir Putin ist das Problem. Dieser Krieg ist seine persönliche Schöpfung. Jeder andere an seiner Stelle, selbst Patruschew, wäre besser. Ich meine: besser für die Ukraine und Europa. Für Russland und die Russen wäre es natürlich eine sehr schlechte Option.

Sie sind einer der Mitbegründer des Vereins „Wahres Russland“. Welche Rolle könnte dieser Verein bei der Schaffung eines Post-Putin-Russlands spielen?

Ich weiß nicht, wie erfolgreich dieses Projekt sein wird. Selbst wenn es scheitert, werden andere entstehen. Es gibt heute sehr viele Russen in der Welt, die zum Kampf gegen die Diktatur und zur Schaffung eines anderen, freien und demokratischen Staates anstelle der Russischen Föderation beitragen wollen. Es wird definitiv ein Neuanfang Russlands vorbereitet werden.

Zur Person

Boris Akunin, der 1956 im georgischen Zestaphoni als Grigori Tschchartischwili geboren wurde, wuchs in Moskau auf, wo er Geschichte und Japanologie studierte. 1998 veröffentlichte er seine ersten Kriminalromane. Er ist einer der meistgelesenen Autoren Russlands, wo er 2001 zum Schriftsteller des Jahres gekürt wurde. Seine Bücher sind in 30 Sprachen übersetzt worden, auch ins Deutsche (bei Aufbau).

Nach den Dumawahlen 2011 wurde Akunin zu einem Wortführer der „Bewegung für faire Wahlen“. 2014 emigrierte er nach London.

Akunin ist Mitbegründer der Organisation „Wahres Russland“, die unter anderem Geld für ukrainische Geflüchtete sammelt.

Was ist die politische Botschaft des Vereins?

Die Rolle von „Wahres Russland“ soll keine politische sein. Der Verein ist weder eine Partei noch ein revolutionäres Hauptquartier. Es geht um das Engagement in Form kultureller und humanitärer Initiativen, um das Anwerben von Experten, die die Vision eines neuen Russlands mitgestalten sollen.

Kann es in nächster Zeit nicht auch zu Unruhen innerhalb Russlands kommen?

Im Moment und in naher Zukunft halte ich das für unwahrscheinlich. Das Regime hat Moskau und St. Petersburg fest im Griff. Aber die Regierung hat nicht genug Macht, um die Peripherie zu kontrollieren. Wenn sich der Lebensstandard drastisch verschlechtert, die Arbeitslosigkeit zunimmt, sind Aufstände in der Provinz, wo die Ärmsten und sozial Schwächsten leben, möglich. Ein häufiges Szenario, das wir aus der Geschichte kennen, ist das Auftauchen eines spontanen Anführers aus dem Volk, der an der Spitze von Protesten steht.

Könnte es zu einem unkontrollierbaren Chaos in Russland kommen, einem Land, in dem immerhin 144 Millionen Menschen leben?

Ich kann mir vorstellen, dass es Befürchtungen gibt, in Russland könnte nach dem Sturz des Regimes eine riesige Chaoszone entstehen. Ein jugoslawisches Szenario in einem größeren Maßstab, dazu das Atomwaffenarsenal, das ist eine schlechte Aussicht. Aber es ist auch keine Perspektive, dass diese Diktatur auf lange Zeit konserviert und zu einer ständigen Bedrohung für die benachbarte Ukraine, Europa, ja für die ganze Welt wird. Ich habe große Angst, dass der Westen das Leben von Putins Diktatur in Russland künstlich verlängern wird, weil er sie für das kleinere Übel hält. Eine Revolution, mit all ihren Risiken, wäre besser.

Halten Sie den Ukraine-Kurs von Bundeskanzler Olaf Scholz für richtig?

Das ist eine Frage für Deutschland. Aber ich glaube, dass alles, was ein baldiges Ende des Krieges fördert, gut ist; alles, was ihn verlängert, schlecht. Solange Putin glaubt, er könne militärisch siegen, wird er kämpfen. Fragen Sie sich: Bringt der Kurs der Bundesregierung den Krieg zu Ende oder verlangsamt er ihn?

Was ist Ihre Meinung?

Liegt es nicht auf der Hand, dass der Krieg umso schneller zu Ende geht, je schneller Putin sich daran die Zähne ausbeißt? Da Deutschland zunächst zögerte, die Ukraine mit schweren Waffen zu versorgen, hat sich der Krieg womöglich um einige Wochen verlängert. Das bedeutet unnötige Opfer.

Ihre Buchreihe über die Geschichte Russlands scheint bei russischen Leserinnen und Lesern sehr beliebt zu sein. Aber haben Sie mit Ihrer historischen Darstellung Russlands als „Superreich“ nicht auch Putins Geschichtsverständnis bedient?

Hätte das Regime von meiner „Geschichte des russischen Staates“ profitiert, wäre diese im Laufe der Jahre nicht so heftig von Pro-Putin-Propagandisten angegriffen worden. Im siebten Band schrieb ich, dass es zwei Perioden gab, in denen Russland ein „Superreich“ war und die Weltherrschaft beanspruchte.

Und zwar?

Die erste Periode zwischen 1814 und 1855 endete mit einem Zusammenbruch. Ich habe darüber geschrieben, wie es dazu kam und warum. Die zweite Periode zwischen 1945 und 1989 endete ebenfalls mit einem Kollaps. Aber in meiner Serie bin ich noch nicht so weit. Im Nachwort zum letzten Band, der 2021 erschien, schrieb ich, dass Russland von einer „vertikalen“ autoritären Struktur zu einer „horizontalen“ übergehen muss. „Wann dies geschehen wird und zu welchem Preis, wird die Zukunft zeigen. Vielleicht schon die nicht allzu ferne Zukunft“, hieß es am Ende. Wir sehen jetzt, wie sich die Zukunft vor unseren Augen entfaltet.

Wie erleben Sie die aktuellen Ereignisse?

Ein Schriftsteller ist ein seltsames Tier. Jede Emotion wird zum Treibstoff für einen Text. Nach den dramatischen Entwicklungen war ich wie gelähmt. Ich verlor das Interesse an dem Buch, an dem ich arbeitete. Doch dann begann ein neues Buch Gestalt anzunehmen, eins, das völlig unerwartet kam. Jetzt tauche ich darin ab, wenn ich mich von den schrecklichen Ereignissen ablenken will.

Verraten Sie, worum es darin geht?

Um das Jahr 1968, wie die Gesellschaft in der Sowjetunion auf den Einmarsch in die Tschechoslowakei reagierte. Aber nicht nur darum. (Interview: Ekaterina Venkina)

Währenddessen entwickelt sich die Türkei zu einem führenden Lieferanten von Kampfdrohnen und verfolgt bei dem Verkauf ihre eigenen Interessen.

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