1. Startseite
  2. Kultur
  3. Gesellschaft

Antisemitismus bei der Documenta: Kulturstaatsministerin Roth will Kontrolle

Erstellt:

Von: Harry Nutt

Kommentare

Am Tag nach dem Abhängen des umstrittenen Großbanners „People’s Justice“.
Am Tag nach dem Abhängen des umstrittenen Großbanners „People’s Justice“. © dpa

Der Totalschaden bei der Bewältigung der Documenta-Krise wird immer offensichtlicher

Einige scheinen das Donnerbeben, das seit ein paar Tagen die internationale Kunstwelt erschüttert, immer noch nicht vernommen zu haben. Noch am Mittwoch hat Jörg Sperling, der Vorsitzende des Documenta-Forums, die Entfernung des als antisemitisch kritisierten Kunstwerks auf der Kasseler Kunstausstellung infrage gestellt. „Eine freie Welt muss das ertragen“, sagte Sperling. Forderungen, die ausgestellten Kunstwerke hätten vorab überprüft werden müssen, lehnt Sperling kategorisch ab. „Das wäre Zensur.“

Damit war der Chef des Forums, das sich zur Aufgabe gemacht hat, das geistige und kulturelle Erbe der Kasseler Ausstellung zu pflegen, gar nicht sehr weit von der Position von Kulturstaatsministerin Claudia Roth entfernt, die noch am 11. Juni dem Magazin „Der Spiegel“ erklärt hatte, dass sie nicht „als Kulturpolizistin den Daumen hebe oder senke über einzelne Kunstwerke“. Für sie sei die Documenta „ein freudiger Anlass“.

Die Freude dürfte inzwischen auch Claudia Roth vergangen sein. Die Grüne, für die Alarmbereitschaft ein zentraler Bestandteil ihrer politischen DNA ist, hatte sich in den letzten Tagen mit Bekundungen des Entsetzens in die Riege jener Documenta-Verantwortlichen eingereiht, die zuvor monatelang Warnungen in den Wind geschlagen hatten, dass es auf der durch das indonesische Kollektiv Ruangrupa betreuten Schau möglichweise zu unliebsamen politischen Äußerungen kommen könne. Stattdessen sahen sich Kassels Oberbürgermeister Christian Geselle (SPD), die hessische Kunst- und Wissenschaftsministerin Angela Dorn (Grüne) und Documenta-Generaldirektorin Sabine Schormann veranlasst, das Hohelied der Kunstfreiheit zu intonieren, das sie vor allem durch die vorauseilende Ruangrupa-Kritik beschädigt sahen. Schließlich war von Kunst ja noch gar nichts zu sehen gewesen.

Vermutlich möchte Kulturstaatsministerin Roth heute noch immer nicht als Kunstpolizistin in Erscheinung treten, mehr Einfluss will sie nun aber doch. In einem aktuellen Papier vom Donnerstag fordert sie nach dem Eklat um die Entdeckung antisemitischer Motive in einem Werk des indonesischen Kollektivs Taring Padi Änderungen in der Documenta-Struktur. In dem Papier heißt es laut dpa: „Die Verantwortlichkeiten zwischen vor allem der Geschäftsführung sowie den Kuratorinnen und Kuratoren sowie auch dem Aufsichtsratsvorsitzenden und den Gremien müssen klar geklärt und es müssen daraus Konsequenzen gezogen werden.“ Künftig sollen Verantwortlichkeiten „klar abgegrenzt und vereinbart werden“. Damit wolle Roth „die Freiheit der Kunst und des kuratorischen Handelns sicherstellen und gleichzeitig Verantwortung eindeutig festschreiben.“ Es habe sich gezeigt, heißt es in dem Papier weiter, „dass die bislang vor allem lokale Verantwortlichkeit der Documenta in einem Missverhältnis steht zu deren Bedeutung als eine der weltweit wichtigsten Kunstausstellungen“. Konkrete Rücktrittsforderungen, schreibt dpa, gebe es in dem Papier nicht.

Damit wird zumindest angedeutet, dass es hier nicht bloß um eine künftig wirksame ordnungspolitische Maßnahme geht, sondern nicht zuletzt um Schadensbegrenzung in eigener Sache. In einem Beitrag der „Jüdischen Allgemeine“ waren bereits Forderungen nach einem Rücktritt von Claudia Roth erhoben worden. Dass Documenta-Generaldirektorin Sabine Schormann immer noch im Amt ist, hat zuletzt nicht nur die Kulturszene verwundert. Mit dem Fünf-Punkte-Plan scheint Roth nun auch um die Zerstreuung des Eindrucks bemüht, in der geforderten Demission Schormanns lediglich ein Bauernopfer zu erbringen.

Das politische Totalversagen ist umfassend, es würde allein durch eine unkommentierte Sammlung von Zitaten der oben genannten Amtsträger evident. Im Kern rührt es aus einem rudimentären Verständnis der Kunstfreiheit, die weder als gültiger Glaubenssatz noch als Wert an sich zu haben ist. Die Kunstfreiheit, auf die sich zuletzt viele mit emphatischen Zungenschlag berufen haben, ist ein im Grundgesetz verankertes Rechtsgut, das mit anderen Rechtsgütern konkurriert. Wer, wie der eingangs zitierte, wegen seiner Äußerungen inzwischen zurückgetretene Jörg Sperling der Auffassung ist, dass eine freie Welt im Namen der Kunstfreiheit allerhand auszuhalten habe, gibt indirekt auch zu verstehen, dass ein bisschen Antisemitismus ja wohl nicht so schlimm sein könne. Vergeblich hatte der Zentralrat der Juden in Deutschland im Vorfeld der Kasseler Schau darauf aufmerksam zu machen versucht, dass er andere Rechtsgüter in Gefahr sehe. Antisemitismus ist keineswegs eine Frage des Empfindens, sondern auch des Strafrechts.

Mit ihrer 15. Ausgabe steht die Documenta als herausragende deutsche Kunstinstitution an einem Scheidepunkt, über den nicht länger nur politisch, sondern auch ästhetisch gestritten werden muss. Mit der Bestellung von Ruangrupa, die skandalöserweise zu den Vorwürfen noch nicht Stellung bezogen haben, hat man sich für ein Konzept entschieden, das ausdrücklich auf Nicht-Kunst aus ist. Auf eine für ihn typische Zuspitzung hat es der legendäre Kunstprofessor Bazon Brock am Montag im Interview mit dem Deutschlandfunk gebracht: „Die Leute haben im Namen der Kunstfreiheit die Kunst liquidiert.“

Auch interessant

Kommentare