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„Das einzige, was den Krieg stoppen kann, ist Putins Tod“

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Von: Bascha Mika

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„Es gibt kein Lächeln, keine glücklichen Gesichter mehr.“ Eine Szene aus Irpin. Foto: ARIS MESSINIS / AFP)
„Es gibt kein Lächeln, keine glücklichen Gesichter mehr.“ Eine Szene aus Irpin. © AFP

Er hat Kiew verlassen, die Arbeit an seinem Roman eingestellt und schreibt nur noch über den Krieg. Voller Wut, denn seinen Humor hat er verloren. Bascha Mika im Gespräch mit dem ukrainischen Schriftsteller Andrej Kurkow.

Herr Kurkow, wo treffe ich Sie an?

Ich habe Kiew vor einigen Wochen verlassen. Zuerst haben wir uns in unserem Dorfhaus einquartiert, sind dann nach Lemberg gefahren, wo unsere Kinder bei Kriegsausbruch wohnten. Inzwischen sind wir in der Westukraine, 40 Autominuten entfernt von der ungarischen Grenze.

Wie sieht Ihr Leben zurzeit aus?

Ich schreibe viele Texte und gebe Interviews. Meine Frau hilft mir und unterrichtet außerdem Flüchtlinge in Englisch. Auch mein älterer Sohn unterrichtet Englisch, aber für Kinder von Flüchtlingen. Er ist eigentlich Animationsregisseur, deshalb gibt er auch Kurse in diesem Fach.

Sind sehr viele Geflüchtete bei Ihnen am Ort?

Vor einiger Zeit waren es noch sehr viele, jetzt ist es ein bisschen ruhiger geworden, weil ein großer Teil ins Ausland weitergefahren ist. Dennoch gibt es hier in der Gegend keine freien Plätze für Flüchtlinge mehr. Der Universitätscampus ist besetzt, alle Schulen und Kindergärten. Früher waren hier an der Uni viele ausländische Studenten. Die sind alle weg.

„Niemand ist jetzt mit Romanen oder Märchen für Kinder beschäftigt“

Geflüchtete heißt Frauen, Kinder und alte Menschen?

Nicht so viele alte Menschen. Hauptsächlich sind es Frauen und Kinder. Sie kommen aus der ganzen Ukraine, ich sehe Autokennzeichen aus Donezk, Luhansk und Dnipro... von überall.

Der Bienenzüchter Sergej, Ihr Held aus dem Roman „Graue Bienen“, macht sich in seinem alten Lada auf den Weg und verlässt mit seinen Bienenstöcken den Donbass, „damit nicht auch noch der Honig nach Krieg schmeckt“. Schmeckt das, was Sie zur Zeit schreiben, auch nur nach Krieg?

Ja, denn ich lebe in Kriegszeiten. Ich kann meinen neuen Roman, den ich vor dem Ukraine-Krieg begonnen habe, nicht weiterschreiben. Ich schreibe und spreche nur über Kriegszeiten, über das heutige Leben. Jeden Morgen rufe ich meine Verwandten und Freunde in verschiedenen Städten an. So wie meinen Bruder, der zur Zeit mit seiner Frau und seiner Katze in einem Dorf etwa 150 Kilometer von Kiew lebt. Alles, was ich in diesen Gesprächen erfahre, schreibe ich auf. Auch all das Schreckliche, das die Freunde in den besetzten Gebieten erzählen. Das machen fast alle ukrainischen Schriftsteller so. Niemand ist jetzt mit Romanen oder Märchen für Kinder beschäftigt.

Sie meinten kürzlich, dass Sie sich inzwischen mit Krieg auskennen und jetzt auch wissen, wie man Molotowcocktails baut. Haben Sie es ausprobiert?

Nein, habe ich nicht. Ich würde als Soldat auch nicht funktionieren. Nicht nur, weil ich ein bisschen alt bin, sondern weil ich andere Sachen wie Schreiben besser kann. Aber wie sehr viele andere Menschen im Land verstehe ich inzwischen mehr von militärischen Dingen als früher. Man muss das lernen, um zu überleben. Schon die Kinder können die Explosionsgeräusche von verschiedenen Waffen identifizieren.

Ukraine-Krieg: Es gibt keine Beziehung zu Russland mehr

Sie sind in St. Petersburg geboren und lebten seit Ihrer Kindheit in Kiew. Wie ist Ihr Verhältnis zu Russland?

Für mich gibt es keine Beziehung zu Russland mehr und die wird es für die Menschen in der Ukraine auch in den kommenden dreißig, vierzig Jahren nicht wieder geben. Russland versucht seit langem, die Ukraine in die Russische Föderation zu inkorporieren. Wladimir Putin hat es mit Korruption versucht, er hat ukrainische Politiker gekauft und jetzt, wo die prorussischen Politiker außer Landes sind, hat er uns überfallen und führt Krieg. Wie die Annexion der Krim ist die Annexion der gesamten Ukraine seit vielen Jahren vorbereitet worden.

Dabei hat er doch immer vom ukrainischen Bruderland gesprochen...

...was er aber meint ist, dass es eigentlich keine Ukraine gibt. Alle sind Russen, alle sind ein Volk. Aber in der Ukraine war das nie akzeptiert. Die Ukraine hat ihre eigene Geschichte, doch Russland will, dass nur der russische Blick auf diese Geschichte zählt. Ukrainer und Russen haben verschiedene Mentalitäten. Russen fühlen sich dem Kollektiv verpflichtet. Sie lieben ihren Zar und manchmal töten sie ihn, um einen neuen zu lieben. Die Ukrainer sind Individualisten und Anarchisten. Sie haben wenig Respekt vor der Regierung – auch wenn es zur Zeit anders ist. Freiheit ist ihnen wichtiger als Stabilität und Geld. Bei den Russen ist es genau umgekehrt: Stabilität und Geld sind ihnen wichtiger als Freiheit und Menschenrechte.

Bei aller Betroffenheit – wem oder was soll diese identitätspolitische Argumentation helfen?

Wollen Sie sagen, die Russen und die Ukrainer sind gleich? Und dass wir mit Putin einverstanden sind?

Keineswegs...

...ich sage ja nicht, dass die Russen schlechtere Menschen sind. Aber sie sind anders. Die Ukrainer sind keine Russen, wird sind nicht ein Volk. Untersuchungen zeigen, dass 80 Prozent der Russen Putin und den Krieg in der Ukraine unterstützen.

Ukraine-Krieg: Freiheit ist eine Frage der Existenz

Was erwarten Sie denn in einem repressiven System, in dem die Menschen weitgehend abgeschnitten sind von unabhängiger Berichterstattung und verfolgt werden, sobald Sie sich als Putin-Kritiker:innen outen?

Wer in diesen Verhältnissen nicht zum Widerständler wird, hat auch keine Lust zu widerstehen oder gegen die repressive Regierung in seinem Land zu kämpfen. In der Ukraine gab es seit dem Zerfall der Sowjetunion immer wieder Versuche, ein autoritäres Regime einzuführen. Dennoch sind die Leute auf die Straße gegangen und haben Proteste organisiert. Ohne Freiheit werden die Menschen auch in Zukunft hier nicht leben können und wollen. Das ist eine Frage der Existenz.

Vor dem russischen Einmarsch haben Sie kritisiert, dass Deutschland keine Waffen an die Ukraine liefern wollte. Man sehe daran, wer die „wirklichen Freunde und Partner“ der Ukraine seien. Finden Sie dieses Freund-Feind-Denken nicht allzu schlicht?

Es ist wichtig zu sehen, wer die Ukraine unterstützt und wer beim Kommerz ein Partner von Putin bleibt. Wenn die Deutschen weiterhin russisches Gas kaufen, finanzieren sie diesen Krieg mit. Das Geld wird ja nicht für Renten ausgeben oder die medizinische Versorgung der Bevölkerung. Für die deutsche Industrie war Russland immer ein wichtiger Partner, auch deshalb wollte Deutschland der Ukraine nicht mit Waffen helfen...

Der Autor

Andrej Kurkow, geboren 1961 in St. Petersburg, lebt seit seiner Kindheit in Kiew und schreibt in russischer Sprache. Er studierte Fremdsprachen (er spricht insgesamt elf Sprachen), war Zeitungsredakteur und während des Militärdienstes Gefängniswärter. Danach wurde er Kameramann und schrieb zahlreiche Drehbücher.

Sein Roman ‚Picknick auf dem Eis‘ ist ein Welterfolg. Kurkow arbeitet als Schriftsteller und berichtet derzeit auf Twitter und für internationale Medien über die aktuelle Lage in der Ukraine.

…weil sich die deutsche Regierung an den Grundsatz gehalten hat, keine Waffen in Krisengebiete zu liefern.

Ich war überrascht, dass Angela Merkel vor einigen Jahren entschieden hat, Nordstream 2 bauen zu lassen. Die Freundschaft von Angela Merkel zu Putin ist für mich ein Grund für meine kritische Haltung gegenüber Deutschland...

...aber Angela Merkel war doch nie eine Freundin Putins. Nicht umsonst hat er bei einem Treffen in Sotschi seinen Labrador auf sie losgelassen, obwohl er ihre Angst vor Hunden kannte...

...aber der Vertrag zu Nordstream 2 spricht eine andere Sprache. Natürlich will Putin jedem Politiker zeigen, dass er klüger und mächtiger ist und alle provozieren kann.

Alle europäischen Politiker haben früher versucht, sehr freundlich zu Putin zu sein

Andrej Kurkow

War es in den vergangenen Jahrzehnten nicht völlig richtig zu versuchen, eine europäische Friedensordnung zusammen mit Russland aufzubauen?

Pfff, ich werde jetzt nicht über Diplomatie reden. Europa ist erst mit dem Beginn des Krieges erwacht und versteht jetzt, was für ein Politiker Putin und was für ein Land Russland ist. Alle europäischen Politiker haben früher versucht, sehr freundlich zu Putin zu sein. Die Ukraine war ihnen nicht wichtig, außerdem ist mit Russland mehr Geld zu verdienen. Aber ich will hier wirklich keine Diskussion über Russland und Europa führen...

...warum nicht?

Ich verstehe Putin ziemlich gut. Schon 2004 habe ich in meinem Roman „Die letzte Liebe des Präsidenten“ über ihn geschrieben. Alles darin hat sich bewahrheitet, auch das Ende meines Romans, wo Putin die Ukraine okkupieren will. Ich habe seine Politik seit 1999 verfolgt. Doch behaupten Sie ruhig, dass ich mit meiner Charakterisierung völlig falsch liege.

Wer macht sich denn Illusionen über Putin? Würden Sie sich ein Eingreifen der Nato wünschen, um ihn zu stoppen?

Es reicht, wenn wir Verteidigungswaffen aus verschiedenen Ländern bekommen. Das ist realistisch und wird gemacht. Wir brauchen nicht über das zu reden, was ich mir wünsche, aber nicht realistisch ist – wie ein Eingreifen der Nato in diesen Krieg. Die Nato wird keine Flugzeuge oder Truppen schicken. Das einzige, was den Krieg stoppen kann, ist Putins Tod. Solange er am Leben ist, wird er nicht aufgeben. Die ukrainische Ökonomie ist zerstört, die Städte und Fabriken sind kaputt. Russland bombardiert Warenlager mit Lebensmitteln und Medikamenten. Das ist praktisch ein Genozid. Russland hat entschieden, wenn es die Ukraine nicht einnehmen kann, wird es das Land verwüsten.

So wie Grosny?

Wie Grosny und wie Aleppo. Die russischen Generäle, die jetzt um Mariupol kämpfen, sind aus Syrien gekommen, einschließlich des Generals, der für die Zerstörung von Aleppo verantwortlich war.

Sie leben in der Ukraine, schreiben aber auf russisch. Ist das dann ukrainische oder russische Literatur oder ist diese Unterscheidung einfach Quatsch?

Ich schreibe ukrainische Literatur, denn ich bin ukrainischer Staatsbürger und schreibe über die Ukraine. Hier werden meine Bücher veröffentlicht, in Russland sind sie verboten. Und es ist auch illegal, sie dorthin zu liefern. Die ukrainische Literatur wird in verschiedenen Sprachen geschrieben: in krimtatarisch, ungarisch, russisch, bulgarisch, ga-gausisch aber natürlich vor allem in ukrainisch.

Ukraine-Krieg: „Es gibt keine Brücken, die während eines Krieges gebaut werden“

Sie haben als Präsident des PEN Ukraine zum Boykott russischer Autor:innen aufgerufen, was Ihnen viel Kritik eingebracht hat.

Kulturschaffende sind keine Armee, sie nutzen andere Möglichkeiten. Die Leute in Europa und in Amerika sind frei, sie müssen selbst entscheiden, wie sie mit der russischen Kultur umgehen. In der Ukraine interessiert sich derzeit niemand für russische Literatur, das wird auch in näherer Zukunft so bleiben. Und im ukrainischen PEN ist die Mehrheit für einen totalen Boykott – auch als Reaktion auf den Offenen Brief von russischen Schriftstellern, der am 4. März in der Literaturnaya Gazeta veröffentlicht wurde. Darin wird Putins Politik und der Krieg unterstützt. Mehr als 500 russische Künstler haben den Brief unterschrieben, darunter viele prominente Schriftsteller und ein berühmter Tänzer.

Ist es nicht falsch, wenn auch die Kultur alle Verbindungen kappt? Irgendwer muss doch Brücken bauen – und seien die noch so schmal.

Es gibt keine Brücken, die während eines Krieges gebaut werden. Auch während des Zweiten Weltkriegs gab es keinen Kulturkontakt zwischen Nazi-Deutschland und der Sowjetunion. Natürlich sind da auch russische Schriftsteller wie Wladimir Sorokin, die gegen den Krieg sind. Aber diese Menschen sind in der Minderheit und viele von ihnen leben bereits im Ausland. Das ist die Situation heute. Wir werden sehen, was nach dem Krieg passiert.

Kürzlich haben Sie geschrieben, dass Sie im Anblick des Krieges nicht weinen, sondern immer wütender werden. Und dass Sie Ihren Humor verloren hätten. Werden Sie ihn wiederbekommen?

Wenn ich wieder lächelnde Gesichter in der Ukraine sehe. Niemand lächelt um mich herum. Es gibt kein Lächeln, keine glücklichen Gesichter mehr.

Und wie geht es Mischa Pinguin*?

Sie wissen, dass er wegen seiner Herzkrankheit die Ukraine verlassen musste und jetzt weit weg lebt. Aber sein Geist ist in Kiew geblieben.

*Mischa Pinguin ist der Held in Andrej Kurkows Roman „Picknick auf dem Eis“. Als die Frankfurter Rundschau vor einiger Zeit die Patenschaft für einen Pinguin im Frankfurter Zoo übernommen hat, bekam der den Beinamen „Mischa“ – eine Hommage an Kurkows literarische Figur. Andrij Kurkow versprach, Pinguin Mischa im Frankfurter Zoo zu besuchen. (Interview: Bascha Mika)

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