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Alexander Kluge: Der Walfisch

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Von: Arno Widmann

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Sammler auch des Details, Filmemacher, Fernsehproduzent, Schriftsteller, Drehbuchautor: Alexander Kluge.
Sammler auch des Details, Filmemacher, Fernsehproduzent, Schriftsteller, Drehbuchautor: Alexander Kluge. © Theo Klein/epd

Von der tanzenden Bewegung seiner Gedanken: Dem Filmemacher, Fernsehproduzenten, Schriftsteller und Drehbuchautor Alexander Kluge zum 90. Geburtstag.

Die vier Musketiere der einstigen Suhrkamp-Kultur waren Hans Magnus Enzensberger (11.11.1929), Jürgen Habermas (18.6.1929), Alexander Kluge (14.2.1932) und Martin Walser (24.3.1927). Heute feiert auch Alexander Kluge, der d’Artagnan der Gruppe, seinen 90. Geburtstag. Jahrzehntelang hatten sie größten Einfluss auf den für das intellektuelle Leben der Bundesrepublik wichtigsten Verlag. Längst sollte ein Buch über sie, den Verleger Siegfried Unseld und ihre Tänze um-, mit- und gegeneinander geschrieben werden. Netflix könnte eine großartige Serie daraus machen mit Bergen von Material aus den Schatzkammern Alexander Kluges.

Ich weiß nicht, ob es irgendjemanden gibt, der vielfältiger begabt ist als er. 1962 veröffentlichte der dreißigjährige Jurist seinen Erstling „Lebensläufe“. Er erschien im Verlag Goverts in Stuttgart in einer von Otl Aicher gestalteten Broschur. Ein Antiquariat bietet das Buch für 68 Euro an und schreibt dazu: „Exemplarisches, richtungsweisendes Stück teils fiktiver Dokumentarliteratur und Textcollage, ehe diese Methode modisch wurde.“ Eine Methode, der Kluge, ganz gleich, was er machte, nie untreu wurde.

Im Jahr zuvor hatte er bei den Kurzfilmtagen in Oberhausen den Zwölf-Minuten-Film „Brutalität in Stein“ über das Nürnberger Reichsparteitagsgelände gezeigt. Kluge hatte ihn zusammen mit Peter Schamoni geschrieben und gedreht. Das „zusammen mit“ gehört auch zu Kluges Methode. Was er liest, sieht und hört, was er fühlt und denkt, was er redet, was man ihm sagt, alles geht ein in seine Bücher und Filme. Mal bis zur Unkenntlichkeit verdaut, mal wie Eiszeitfindlinge in den unendlichen Landschaften seiner Texte.

Im Jahr 1966 zeigte er bei den Filmfestspielen in Venedig „Abschied von Gestern“. Der Film ist die Lebensgeschichte der Hauptdarstellerin, Alexander Kluges Schwester Alexandra und zugleich ganz Fiktion. Auch in dieser Durchdringung von Märchen und Wirklichkeit ist er einer der wichtigsten Filme des deutschen Kinos. Wohl zwanzig Jahre lang war Alexander Kluge vor allem als Regisseur bekannt und als Stimme. Seine Filme zeigten nicht nur die Welt. Er erzählte sie auch. Kluge sprach Zeitungsprosa, als handele es sich um Märchen. Er öffnete unsere Ohren für die Tatsache, dass beide beides sein konnten. Er lehrte uns, dass – mehr noch als der Verstand – uns unsere Gefühle über die Gegenwart hinaustreiben. Aber er brachte uns auch bei, dass der Verstand selbst ein Gefühl ist, ein festgefrorenes, ein erstarrtes Gefühl, das dazu neigt, vor sich selbst und seinen flüssig gebliebenen Anverwandten zu erschrecken. Alexander Kluge war Autor und Regisseur von 14 großen Filmen und von an die dreißig Kurzfilmen. Das allein wäre ein Lebenswerk.

Daneben schrieb er Erzählungen. Immer wieder „Lebensläufe“. Tausende von Seiten. Und zusammen mit dem Sozialphilosophen Oskar Negt – auch er ein Schüler Adornos und Horkheimers – zwei der meistgelesenen theoretischen Werke jener Jahre: „Öffentlichkeit und Erfahrung“ aus dem Jahre 1972 und „Geschichte und Eigensinn“ von 1981.

Die beiden Autoren öffneten den Aktivisten der Alternativbewegung die Augen dafür, dass, was vielerorts als eine Epoche des Theoriemangels wahrgenommen wurde, in Wahrheit eine Phase massiven und massenhaften Erfahrungszuwachses war. Die Dummen waren nicht sie, sondern die ihre fünf Sinne missachtenden Lenin-Imitatoren, die damals um die Führung der Poststudentenbewegung stritten. „Öffentlichkeit und Erfahrung“ ist dieses Jahr fünfzig Jahre alt. Es würde sich lohnen, von diesem Buch aus einen Blick zu werfen auf die radikalen Veränderungen, die sich inzwischen ergeben haben. Sie sehen gänzlich anders aus, als das, was Kluge und Negt erwartet oder gar erhofft hatten.

Der Jurist Kluge hätte eine eigene Biographie verdient. Er beriet das Frankfurter Institut für Sozialforschung, er war dabei, als das Kuratorium junger deutscher Film gegründet wurde und „Abschied von gestern“ war der erste Film, den es förderte. Als das Privatfernsehen nicht mehr aufzuhalten war, da half er mit bei einem Rundfunkgesetz, das die Privaten zwang, auch Nischen für Bildungsprogramme zu schaffen. Geburtsstunde für unter anderen Spiegel TV, aber auch für Kluges eigenes Fernsehprogramm. Der Jurist Kluge hat immer wieder Initiativen unterstützt und ihnen bei der Findung einer geeigneten Rechtsform geholfen.

Noch ein Wort zu Kluges Fernsehen. Am bekanntesten waren seine Interviews mit Schriftstellern, Regisseuren, Wissenschaftlern etc.. Sie litten ein wenig unter Kluges Intelligenz, an seiner Unfähigkeit, sie unter den Scheffel zu stellen. Man muss sich nur Fotos des Gesichts des jungen Kluge ansehen und man begreift, wie aufnahmebereit und durchlässig Intelligenz sein kann. Daneben die unvergleichlichen „facts & fakes“. Kluge zeigt uns: Was ist, wird nicht verstanden, wenn man nur die Tatsachen wahrnimmt. Wir müssen begreifen, dass unsere Fantasien über sie auch Tatsachen sind. Sie bedingen einander. Sie kommen ohne einander nicht aus. Das flüstert Kluge uns unentwegt zu. Wir müssen es als Geheimnis aufnehmen. Sonst dringt es nicht ein in uns.

Kluges Kunst – in all seinen Künsten – verdankt sich der Erfahrung des Gemetzels. Er hat die Zerbombung seines Heimatortes Halberstadt erlebt. Er weiß, dass alle Zusammenhänge zerstört werden können. Dass wir darauf angewiesen sind, uns unsere Heimaten aus den Trümmern, in die wir hineingeboren werden, selbst zu bauen. Mit den Worten, den Bildern, die wir zur Verfügung haben. Vor allem aber mit den Klängen, die wir hören, wenn um uns alles still ist.

Alexander Kluges große Liebe ist die Musik. Man merkt das in seinen Filmen sofort. In seinen Sätzen spürt man es erst, wenn man sehr, sehr viele gelesen hat. Dass er die große Oper – also das Ganze – liebt, darauf kommt man nicht, wenn man sieht, wie er seine Erzählungen abbricht, wie jeder Anklang an Lyrik vermieden wird. Was ihn nicht hinderte, Wendungen in die Welt zu setzen, die viele Jahre lang immer wieder gerne zitiert wurden. Nicht nur seine Wiederbelebung des Logau-Zitates „In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod.“ Es gab auch „Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos“, „Die Macht der Gefühle“ oder „Der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit“. Kluge hat auch für das Sententiöse eine Begabung. Aber er beäugt sie sehr kritisch.

Das Festgefügte ist nicht sein Element und schon gar nicht strebt er es an. Er zerschneidet es lieber, setzt alles neu zusammen und zerschneidet es wieder. Collagen nannte man das einmal. Sie entsprechen eher seiner Natur. Wie die Natur selbst ja auch nicht anders verfährt. Inzwischen aber merkt man, dass dieser Mann, der immer wieder sich verwahrt gegen das große Ganze, gegen den Wahn eines systemischen Zugriffs auf die Welt, aber genau diesen verfolgt.

Alexander Kluge mag am Anfang ein d’Artagnan gewesen sein. Inzwischen ist er ein alter Wal, der über Jahrzehnte die Weltmeere durchstreift, sein riesiges Maul öffnet, alles aufnimmt, was hineingerät und anders als diese Metapher es nahelegt, nichts wieder entlässt. Er geht davon aus, dass alles nur des richtigen Moments bedarf, um in die Konstellation zu geraten, in der wir es erkennen können als das, was es ist. Kluge argumentiert nicht. Er erzählt, er zeigt, er führt vor. Es gibt keinen Satz, der sagen würde, was Kluge meint. Es gibt die Bewegung seiner Gedanken, seiner tanzenden, hüpfenden, springenden Gedanken, die uns einladen, es ihm nachzutun. Oder aber uns erschrecken – denn wir wissen, wir würden fallen, wenn wir es versuchten.

Die vor 60 Jahren erschienenen „Lebensläufe“ endeten noch mit dem Tod. Heute weiß Kluge: Das Leben endet nicht mit dem Tod. In seinem 2020 erschienenen Buch „Russland-Kontainer“ schreibt Kluge: „Noch während der Perestroika war ein russischer Kosmonaut in den freien Raum abgestürzt… Und so war er blind in Richtung der nächstbesten (kombinierten und noch schwachen) Anziehungskraft gefallen. Den verheißungsvollen Orion und die beiden Bären mag er noch eine Weile gesehen haben. Verhungert, verdurstet. Dieses ‚Wrack eines Arbeiters‘ gelangte bald, von der Umrundung der Sonne beschleunigt, zu dem Besonderen Graben, der unser Sonnensystem von der benachbarten Drei-Sterne-Konstellation trennt. Zuletzt wird sich der Verunglückte mitsamt seiner ‚astronautischen Rüstung‘ in Partikel aufgelöst haben…” Das „zuletzt“ ist natürlich Unsinn. Ein „zuletzt“ gibt es nicht und also erzählt Kluge weiter von der Reise der Partikel durchs Weltall.

Es gibt zwei Arten von Erzählern. Die einen geben vor, sie berichteten nur, was sie mit eigenen Augen gesehen hätten. Daniel Defoe und Annie Ernaux gehören zu dieser Spezies. Alexander Kluge dagegen gibt vor, nur weiterzugeben, was andere ihm erzählt, was seine großen Augen und Ohren, was sein Walmaul aufgenommen haben.

Das Sternenmärchen verdankt er, so erklärt er, der russischen Astronomin Karina Sedowa. Wer soll das glauben? Der Kosmonaut soll noch irgendetwas gesehen haben? Er soll Hunger und Durst gelitten haben? War er nicht sofort tot, als ihm die Luft wegblieb? Wieviel Bruchteile von Sekunden hatte er, bevor er den Kältetod starb? Wer so fragt, mag sich schlau vorkommen, ein kluger Leser ist er nicht. In Kluges Sternenmärchen erfahren wir, dass die wahren Lebensläufe so sehr ins Unendliche weitergehen, wie sie aus dem Unendlichen kommen. Die Partikel, in die der Kosmonaut zerfällt, sind die, aus denen er entstand. Alexander Kluge gehört zu den großen Künstlern, die am „Märchenbuch der Wahrheit“ schreiben.

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