Adam Tooze: „Es ist de facto eine wirtschaftliche Kriegserklärung der USA an China“

Der britische Wirtschaftshistoriker Adam Tooze über die Folgen einer neuen Bankenkrise, den Segen der Inflation, Deutschlands Zukunft und das amerikanische Hegemonialprinzip.
Professor Tooze, Sie haben das Buch „Crashed“ über die Bankenkrise von 2008 geschrieben. Gerade sind erneut einige Banken in eine Krise geraten, wie die Silicon Valley Bank in den USA, die Credit Suisse wurde von der UBS übernommen. Und auch die Aktien der Deutschen Bank gerieten ins Rutschen. Erinnert Sie das an die Zeit der letzten Bankenkrise?
Es wäre ein Alptraum, wenn nun zur jetzigen wirtschaftlichen Instabilität noch eine Bankenkrise hinzukäme. Das könnte die Wirtschaft auf mehrere Jahre heraus belasten. In der jetzigen Bankenkrise gibt es einige Ähnlichkeiten zu 2008, aber es ist dennoch etwas anderes.
Inwiefern?
Die Banken machten 2007/2008 mit komplexen Finanzinstrumenten Geschäfte, die mit dem Immobilienmarkt zusammenhingen. Das hat damals die Verunsicherung ausgelöst, vor allem, als sich zeigte, dass in den Bilanzen der großen amerikanischen Banken ein enormes Risiko schlummerte: Ihre Portefeuilles an festverzinslichen Papieren waren sehr kurzfristig finanziert, was der eigentliche Auslöser der Krise 2008 gewesen ist. Etwas Vergleichbares ist bislang nicht zu sehen. Stand heute werden größere Banken keine Probleme bekommen.
Was macht Sie da so sicher?
Die Banken besitzen mehr Eigenkapital. Und es hat sich einiges getan in der Bankenaufsicht, auch deshalb sieht es bei den amerikanischen und europäischen Bankern besser aus. Es kann natürlich dennoch sein, dass man in sechs Monaten plötzlich auf eine ernste Krise reagieren muss. Auch 2007 dachte man ja, es komme nichts Schlimmeres, und dann brach ein Jahr später die Finanzkrise aus.
Der Wirtschaftsnobelpreisträger Robert Shiller sagte, das Narrativ sei entscheidend, die Angst in diesem Fall. Ist sie da?
Die Angst ist da. Die Angst haben wir zuletzt bei der Deutschen Bank gesehen. Es war das Narrativ, das den Vertrauensverlust ausgelöst hat. Ein gefährlicher Vorgang. Ob es am Ende zu einem Desaster kommen kann, ist wie gesagt offen. Es kann ja auch gute Gründe geben, solch einem Narrativ zu folgen und sich nicht seiner Logik zu verweigern. Sind die Fundamente einer Bank saniert worden, geht man davon aus, dass, steigt man zum richtigen Zeitpunkt ein, eine gegensätzliche Dynamik entsteht, die dann zur Stabilisierung beiträgt.
Was passiert denn, wenn zu den vielen Krisen noch ein Bankencrash hinzukommt?
Das wäre eine politische Herausforderung, die Europa und Deutschland im Moment sehr ungelegen käme. Man muss ja nur in die Schweiz blicken, um zu sehen, zu welchen Verwerfungen der Bailout für die Credit Suisse geführt hat. Laut einer Umfrage waren zwei Drittel der Schweizer und Schweizerinnen wütend, 60 Prozent verunsichert. Das ist eine Hypothek für jede Demokratie! Blickt man nach Deutschland, dann ist eine Bankenkrise gewiss das Letzte, was die doch sehr zerstrittene Regierung derzeit brauchen könnte.
Ist es in den USA besser gelöst worden?
Meiner Meinung nach haben sich die Aufsichtsbehörden in den USA doch ziemlich blamiert. Zu der Silicon-Valley-Bank-Krise hätte es nie kommen sollen. Ich bin gespannt, ob sich das 2024 bei den nächsten Wahlen für die Biden-Regierung rächen wird. Es gibt zudem die Angst in Amerika, dass sich die Krise auf kleinere Regionalbanken erstrecken könnte, was den Immobiliensektor schwer treffen würde. Das könnte die Wirtschaftsstimmung kippen lassen. Es könnte zu einer Bruchlandung der Wirtschaft führen, mit politischen Folgen, wenn man an die Präsidentschaftswahl 2024 denkt. Das ist das Schreckensszenario im Weißen Haus.
Die Inflation hat diesen Prozess mit den Banken erst angestoßen. Agieren die Zentralbanken wie FED und EZB derzeit richtig?
Angesichts der Inflation bleiben ihnen da kaum andere Möglichkeiten. Man kann nicht zusehen, wie die Inflation über zehn Prozent geht, in den Niederlanden stieg sie kurzzeitig auf fast 15 Prozent. Aufgrund des schnellen Zinsanstiegs gibt es herbe Verluste bei den festverzinslichen Papieren, das ist der eigentliche strukturelle Grund für die Spannungen im internationalen Finanzsystem. Das macht das Leben für Schuldner schwerer, trifft aber auch die Anleger. Die Verluste zehren das Kapital auf und destabilisieren sie.
Und nun?
Zur Person
Adam Tooze , geboren 1967 in London, ist Professor für Zeitgeschichte und Direktor des European Institute an der Columbia University in New York. Er ist Autor von Studien zur deutschen sowie zur Wirtschaftsgeschichte, seine Arbeiten haben zahlreiche Auszeichnungen erhalten.
Auf Deutsch erschienen sind u. a. „Die Ökonomie der Zerstörung“ (2007), „Crashed. Wie zehn Jahre Finanzkrise die Welt verändert haben“ (2018, beide bei Siedler) und „Welt im Lockdown. Die globale Krise und ihre Folgen“ (2021, C. H. Beck). Foto: Imago Images
Die Frage ist, wie man Liquiditätsengpässe vermeiden kann. Anders gesagt, es geht nicht darum, ob die Banken robust sind, sondern ob sie robust genug sind, um diese sehr grundlegende Verschiebung zu ertragen. Es geht um eine massive Verschiebung des Geldes der Anleger zugunsten derjenigen, die sich Geld geborgt haben, ich spreche hier von mehreren Billionen Euro. Das ist gewaltig! Die Konsequenzen werden wir erst in den nächsten Jahren sehen. Eine Folge ist, dass der Schuldenstand im Verhältnis zum Bruttosozialprodukt sich sehr zugunsten der Staaten mit hohen Schulden verschoben hat. Das ist ein Positivum, ein Gewinn! Was wir kurzfristig sehen, auf der anderen Seite der Gleichung, ist der Stress, den das in den Bilanzen der Banken hervorruft.
Konnte in der Geschichte jemals eine Inflation ohne Rezession, allein durch Erhöhung der Zinsen, eingehegt werden?
Nein, das ist noch nie gelungen. Die Frage ist nur, wie schwer eine Rezession ausfällt. Das Ziel der Maßnahmen ist ja ein Abkühlen der Wirtschaft, was ja eine Rezession ist. Eine Verlangsamung der Wirtschaft und steigende Arbeitslosigkeit werden bewusst in Kauf genommen. Was ich mir wünsche, ist, dass es nicht so stark ausfällt. Die Hoffnung war, dass die gegenwärtige Spannungslage mit Lieferketten und hohen Energiepreisen sich entschärfen würde, weil man glaubte, dass sie vorübergehender Natur sei. Die Reallöhne hinken den Preisen derzeit weit hinterher, die Streiks, die wir jetzt in Deutschland sehen, sind die Folge davon. Es sind Reaktionen auf den Reallohnverlust.
Es wird schwer, die Inflation einzudämmen?
Ja, gewiss, aber vier Prozent Inflationsrate wären kein Desaster angesichts des Schuldenstandes der Staaten. Wenn man auf die 1950er und 60er Jahre zurückblickt, sieht man, dass Deutschland durch die Nachkriegsinflation und die Währungsreform entschuldet wurde. Einige Länder, wie Großbritannien und die USA, die hohe Schuldenlasten aus dem Zweiten Weltkrieg hatten, haben sich durch den Prozess einer mittleren Inflation entschuldet. Das ist die gesellschaftlich verträglichste Form, die Schulden abzubauen. Auch jetzt könnte man eine Inflation über mehrere Jahre über drei bis vier Prozent begrüßen.
Die Weltwirtschaft wird auch durch andere Faktoren beeinflusst. Einer davon ist der Besuch von Xi Jinping in Moskau bei Putin. Welche Folgen wird das für Europa haben?
Die Chinesen werden wie üblich hart verhandelt haben und den Russen nicht gegeben haben, was sie wollten, nämlich eine feste Zusage zu den milliardenschweren Investitionen, die nötig wären, um die zweite Gaspipeline nach China zu bauen. Es war viel Pomp und Symbolik dabei. Die Russen sagen zwar, alles sei in Butter, aber die Chinesen sind da sehr klar, sie haben keine Zusagen gemacht. Das Gas brauchen sie frühestens 2030. Zudem ist russisches Gas gar nicht so billig, wie allseits angenommen wird, das wissen die Chinesen. Fracking Gas in den USA ist richtig billig, aber nicht russisches Gas.
Welche Folgen hat das für Europa und Deutschland? Wird das zunehmend kritisch?
Es gibt Grund zur Sorge. Die Stabilität der Weltwirtschaft ist unsicher, was für eine Exportnation wie Deutschland relevant ist. Aber ich glaube nicht, dass Europa unmittelbar unter Krisendruck steht. Wichtiger ist, wie weit das Wachstum in Europa robust genug ist, um den harten Kurs der EZB ertragen zu können. Das ist entscheidend. Vor drei Wochen hätte man gesagt, die Zeichen stehen gut, selbst in Italien wird eine Rezession vermieden. Jetzt sind die Wolken schon etwas dunkler.
Viele sagen, Europa werde abgehängt.
Die Frage der europäischen Zukunft stellt sich in der Tat. Das Wachstum Chinas, die dynamische Wirtschaft Amerikas, die Bereitschaft, staatliche Mittel ungezügelt einzusetzen, all das zwingt Europa, sein wirtschaftspolitisches Modell zu überdenken. Es geht um eine gezielte Industriepolitik, die Europa bereits verfolgt als Konsequenz. Nun gibt es die Qual der Wahl für Deutschland, sich zwischen den USA und China zu entscheiden. Die Zukunft der deutschen Automobilindustrie ist ohne China nicht denkbar. Der Druck der USA auf die Deutschen, sich zwischen Amerika und China zu entscheiden, ist jedoch erheblich.
Xi Jinping behauptet, die USA versuchten, China aus allen wesentlichen Wirtschaftsfeldern herauszudrängen. Hat er recht? Ist das die Reaktion der Nummer eins, USA, auf den aufstrebenden Emporkömmling, China?
Es ist in der Tat die Reaktion der Nummer eins auf den Emporkömmling. Nicht irgendeiner Nummer eins, es ist Bestandteil des amerikanischen exceptionalism, der auserwählten Nation, der Einzigartigkeit. Es geht um die Frage des Primats. Amerika will seinen Primat allen Herausforderern gegenüber behaupten. Es unternimmt das mit einer extrem aggressiven Politik. In wirtschaftlicher Hinsicht ist das eine bewusste Diskriminierung Chinas, besonders im sogenannten „chip war“, dem Versuch, China aus Lieferketten rauszudrängen, und das in einer modernen Wirtschaftswelt. Es geht bis zu dem Versuch, eine im Grunde private Firma wie Huawei zu sabotieren und auszuschalten. Das ist das erklärte Ziel der amerikanischen Politik. China darf aus Sicht der USA in keinem der wichtigen strategischen Wirtschaftszweige die Vormacht erreichen. So etwas hat es in der neueren Geschichte noch nie gegeben. Das ist de facto eine wirtschaftliche Kriegserklärung gegen China. Man versucht, das diplomatisch etwas zu versüßen, aber darauf läuft es hinaus. Und nicht wenige sprechen offen über einen militärischen Krieg mit China.
Müsste man von einem selbstbewussten Europa verlangen, dass es sich dagegenstellt, wie damals Deutschland und Frankreich 2003 gegen den Irak-Krieg?
Mein Wunsch wäre, dass die Regierungen Europas die erste gute Gelegenheit nutzen, sich hier öffentlich zu positionieren. Trotz der Zunahme der chinesischen Aggressivität in der Erreichung seiner geopolitischen Interessen, den Menschenrechtsverletzungen, dem Umsturz der Demokratie in Hongkong und der europäischen Sympathie für Taiwan: Es darf kein denkbares Szenario für Europa geben, sich in einen kriegerischen Konflikt mit China verwickeln zu lassen, auch nicht an der Seite der Nato-Partner. Das sollte eine klare Position in Berlin, Paris oder Madrid und auch Brüssel sein. Es muss eine Linie gezogen werden! Im Gegensatz zum Krieg in der Ukraine, wo Biden wiederholt gesagt hat, dass dort niemals Nato-Truppen eingesetzt würden, hat er mit gleicher Klarheit gesagt, dass die USA tatsächlich Taiwan verteidigen werden, falls es angegriffen wird.