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Ins Europaparlament, wer Visionen hat

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Von: Andrea Pollmeier

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Brexiters und Antibrexiters aus Plastik im Brüsseler Modellpark Mini-Europe.
Plastik-Brexiters und -Antibrexiters im Brüsseler Modellpark Mini-Europe. © REUTERS

Die Frankfurter Römerberg-Gespräche fragen diesmal „Ist Europa noch zu retten?“

Die Sorge um Europa macht inzwischen selbst enthusiastische Aktivisten wie Daniel Röder pessimistisch. Auch das von ihm initiierte, transnational ausgespannte Netzwerk „Pulse of Europe“ war bisher nicht in der Lage, zu einer Trendwende beizutragen: Bei der Europawahl am 26. Mai geben Skeptiker verstärkt den Ton an. Das ist bei Wahlen zum Europäischen Parlament jedoch nichts Neues, sagen Experten.

Philip Manow, Professor für Vergleichende Politische Ökonomie an der Universität Bremen, hat das Wahlverhalten der Bürger seit der ersten Direktwahl zum Europäischen Parlament 1979 analysiert. Sein Fazit: Bei den bisher acht EU-Wahlen haben die Bürger stärker als bei Wahlen zum Deutschen Bundestag die Europaskeptiker unterstützt. Es ging ihnen nicht, so Manow, um Europa. Sie wollten vielmehr ihrem Unmut gegenüber der eigenen Regierung freien Lauf lassen. Je weiter rechts positioniert eine Partei war, desto erfolgreicher schnitt sie also auch früher schon bei EU-Wahlen ab.

Die zahlenbasierten Schautafeln, die Manow als erster Referent der diesjährigen Römerberggespräche zum Thema „Last Exit nach dem Brexit. Ist Europa noch zu retten?“ im Schauspiel Frankfurt vorstellt, reduzierten gleich zu Beginn etwas den Druck, den der dramatische Titel der Tagung aufgebaut hatte. Noch geht es nicht um letzte Entscheidungen für oder gegen das Unionsprojekt. Die stabilisierende Mitte wird im europäischen Parlament weiterhin das Sagen haben – noch. Seit der Wirtschafts- und Finanzkrise 2008 hat sich jedoch das kritische Potential im Parlament erheblich erhöht. Positionen, die sich, wie Andreas Rödder, Professor für Neueste Geschichte an der Gutenberg-Universität Mainz, darlegt, gegen eine wachsende Integration wenden, erhalten immer stärker Rückenwind. Auch zeigt sich, dass die Skepsis bei Wählern im EU-Osten stärker ist als im Westen. Fragt man jedoch danach, wer sich am meisten mit Europa identifiziert, erweisen sich die ungarischen Bürger als stärkste EU-Befürworter.

Europawahlen haben sich zu nationalen Protestwahlen entwickelt

Europawahlen haben sich also vor allem zu nationalen Protestwahlen entwickelt. Auch der Brexit hätte, so Manow, einen anderen Verlauf genommen, wenn Europagegner wie die Ukip nicht die Gelegenheit gehabt hätten, Brüssel als Plattform für innerbritische Kritik zu nutzen.

Wie dringend das Wahlprozedere zum Europäischen Parlament geändert werden sollte, erläutert Stefan Kadelbach, Professor für Öffentliches Recht, Europarecht und Völkerrecht an der Universität Münster, seit 2008 auch Mitglied des Exzellenzclusters „Normative Ordnungen“ an der Goethe-Universität. In seinem Vortrag über die Zukunft der Europäischen Union analysiert er institutionelle Bruchstellen des gegebenen Systems und kritisiert unter anderem, dass nach den Wahlen zum Europäischen Parlament nicht automatisch festgelegt ist, welche Ausrichtung die Politik in Brüssel erhält. Der Präsident der Kommission wird von den Staats- und Regierungschefs ernannt, das Ergebnis der Wahl findet hierbei lediglich Berücksichtigung.

Ähnlich wie Christine Landfried, emeritierte Professorin für Politikwissenschaft an der Universität Hamburg und Senior Fellow der Hertie School of Governance in Berlin, vermisst er eine engagierte europäische Öffentlichkeit, die das Geschehen in Brüssel informiert und kritisch begleitet. Um Anreize zur Gründung europaweiter Parteien zu geben, fordert er, dass Spitzenkandidaten der Parteifamilien mit einem eigenen politischen Programm in den Europawahlkampf ziehen und nach der Wahl eine Koalition im Parlament die Zusammensetzung der Kommission bestimmt. Ein solcher Wandel entspräche dem historischen Auftrag, die Integration in den Institutionen schrittweise zu vertiefen. Parteien müssten dann mit politischen Programmen Wahlkampf machen und könnten ihre Position nicht auf ein simples „Pro und Contra Europa“ reduzieren. Eine echte europäische Öffentlichkeit könnte entstehen.

Wenig Chancen für die Sozialunion, bessere für CO2-Steuer und Ökolandwirtschaft

Wer nach einem Hebel sucht, den Zusammenhalt der europäischen Staaten zu vertiefen, könnte auch den Kerngedanken eines sozialen Europas wiederbeleben. Der Europäische Gerichtshof war 1976 ein Vorreiter auf diesem Weg, berichtet Kadelbach. Basierend auf den EWG-Verträgen entschied er damals, dass Frauen ein einklagbares Recht auf gleichen Lohn bei gleicher Arbeit haben. Nach den Maastricht-Verträgen 1992 hat sich jedoch ein weiterer institutioneller Konstruktionsfehler in das System eingewoben. Mehr und mehr wurde die EU als bloßer währungs- und finanzpolitischer Akteur wahrgenommen, der keine sozialen Kompetenzen habe.

Doch auch wenn die Gründungsverträge den Aufbau eines sozialen Europas zum Ziel hatten, lässt sich dieser Ansatz heute, so Kadelbach, kaum verwirklichen. Ein Sozialfonds brauche beispielsweise neue Regelungen in den Gemeinschaftsverträgen, vor diesem Schritt schrecke man etwa in Frankreich zurück. Hierzulande sei zudem das Schreckgespenst einer „Transferunion“ verbreitet, so dass „ein soziales Europa, so sinnvoll es aus meiner Sicht ist, wenig Chance auf Realisierung hat“, erklärt der Jurist. Ohne Vertragsänderungen seien jedoch auf Projektebene Reformen möglich. Eine CO2-Steuer ließe sich realisieren, der Energiemarkt umbauen, digitale Infrastruktur fördern und eine ökologische Landwirtschaft. Insgesamt gelte es, die demokratische Partizipation zu stärken und Brüssels Politik dem Bürger näher zu bringen.

Dies leisten auf je eigene Weise die beiden Wissenschaftlerinnen Ulrike Guérot und Mara-Daria Cojocaru. Im Gespräch mit dem Moderator der Römerberggespräche, Alf Mentzer, stellen sie zwei Varianten ihres bürgernahen Europa-Engagements vor. Während sich Cojocaru, Autorin und Dozentin für Philosophie an der Hochschule für Philosophie München, mit den ethischen Grundlagen des Tierschutzes öffentlich auseinandersetzt, kämpft Guérot, Professorin an der Donau-Universität Krems und Gründerin des Think-tanks European Democracy Lab, gegen Machtverhältnisse, die die Lösung drängender Probleme blockieren. Mit ihrem Engagement fordert sie dazu auf, visionäre Ideen wie die Gründung einer Europäischen Republik aktiv wach zu halten.

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