Fantasyfilm „The Ordinaries“: Das Leben der anderen

Sophie Linnenbaums Fantasyfilm „The Ordinaries“ führt in eine dystopische Welt aus Filmfiguren und zitiert das DEFA-Unterhaltungskino.
In der großen Zeit von Hollywoods Monumentalfilmen warben die Studios damit, wie viele Elefanten, Pferde, Kamele, Kameltreiber und gemeine Statisterie sie diesmal aufgeboten hatten. René Goscinny und Albert Uderzo, die großen Comicerzähler, übersetzten diese schöne Konvention in einer Fußnote ihres Bandes „Asterix und Cleopatra“ in entsprechende Legionen von Bleistiften, Tuschfässchen und Radiergummis.
Heute gibt es dafür Abspänne, von denen einer der Helden von „The Ordinaries“ vorsichtshalber sagt, er möge sie gerne. Sie hätten so etwas Endgültiges. Was darauf folgt, ist möglicherweise der längste Abspann in der Geschichte deutscher Hochschulabschlussfilme. In gut sechs Minuten verzeichnet er unter anderem fünf Standfotografen, sieben Kameraassistenten, 34 Schöpfer computergenerierter Bilder, mehr als 60 Kulissenbauer in drei Ateliers, acht Professoren und vier Filmförderanstalten. Das Einzige, wovon es in dieser Dystopie über ein Leben wie in einem DDR-Musical zu wenig gibt, sind Lieder. Etwas mehr als zwei hätten es schon sein dürfen, so schwelgerisch schon vor dem Vorspann „Heißer Sommer“ zitiert wird.
Zu einer Ausschnittmontage von diesem und anderen Defa-Klassikern erklärt die kurz vor dem Schulabschluss stehende Paula das Grundkonzept dieser Gesellschaftsform (vermutlich wurde sie nach „Paul und Paula“ benannt, Angela Merkels Lieblingsfilm). Es ist eine Einheit von Kino und Leben, die wir uns nicht wirklich wünschen wollen. Jeder Mensch ist hier Teil eines Lebensfilms, doch Aufstiegsmöglichkeiten gibt es keine.
Nur die „Hauptfiguren“ leben ein angenehmes Leben und sind sogar in der Lage, bei emotionalen Auftritten das unsichtbare Babelsberger Filmorchester zum Klingen zu bringen. Nebenfiguren leben immerhin in ordentlichen Wohnungen, doch ein „Outtake“ möchte man lieber nicht sein.
Auf der Suche nach ihrem verschollenen Vater besucht Paula einen streng abgeschotteten Unterschichts-Slum. Hier vegetieren die „Ordinaries“ des Filmvorspanns, zu denen allerdings auch so wichtige Spezialisten wie Geräuschemacher zählen. Prächtige Filmmusik bekommen die Filmmenschen hier nicht zu hören – es sei denn, sie erhalten Besuch von einer Hauptfigur.
Die Stimmung unter den Klassen ist aufgeheizt. Wir warten auf eine Revolution der von jeder Teilhabe Ausgesperrten, den „Herausgeschriebenen“. Leider geht es hier nicht nur zu wie in Fritz Langs und Thea von Harbous Stummfilm-Epos „Metropolis“; auch auf eine Veränderung der Klassenverhältnisse darf man erst hoffen, wenn sich jemand aus der Oberschicht erbarmt, der auf der Sonnenseite stehen könnte. Jemand wie Paula, die eigentlich bald ihren Abschluss als Hauptfigur in der Tasche hat.
Diese verspätete Antwort auf „Roger Rabbit“, „Die Truman Show“ und „Pleasentville“ ist vielleicht der seltsamste deutsche Film seit langem. Wie selten kommt es vor, dass Filmstudierende die Möglichkeit bekommen, ihren Abschlussfilm nicht mit bescheidenen Mitteln über lebensnahe Themen zu realisieren. An nichts wurde gespart: Es könnte ein faszinierender Nachtrag zur großen Zeit des deutschen Fantasy-Films sein, als das Weimarer Kino weltweit Maßstäbe setzte. Doch trotz der imposanten Ausstattung (Josefine Lindner, Max-Josef Schönborn), Valentin Selmkes eleganten Breitwand-Kompositionen und Fabian Zeidlers sinfonischer Filmmusik fehlt eine Kleinigkeit: die Cinephilie.
Um sich so aufwendig an den Konventionen des klassischen Kinos abzuarbeiten, als wollte man dabei ein zweites „La-La-Land“ errichten, muss man es mit Haut und Haar umarmen. Doch die einzige Filmsprache, die hier offen zitiert wird, ist der Defa-Unterhaltungsfilm, und mit ihm meint man es nicht gut.
Zwar wird seinem nostalgischen Flair gehuldigt, doch vor allem steht er für das schönfärberische Gesicht einer Diktatur, bei der einige Bürgerinnen und Bürger doch etwas gleicher sind als die anderen. Immer wieder schöpft man etwas Hoffnung, dass dieses „Leben als Kino“ auch einmal den beglückenden Geist dieser Kunstform treffen könnte, der ja selbst in Propagandafilmen mitschwingt. Doch sobald etwas dergleichen gelingt – wie der Übergang zu einem schmissigen Song im ersten Akt –, fehlt dann doch das entscheidende Stückchen Weltvergessenheit, das ein Musical nun einmal braucht.
Wie viel mehr hätte man machen können aus der hübschen Idee, dass eine Mainstreamkino-Diktatur alles ausgrenzen könnte, was sich in Freiheit davon absetzt. Doch es ist eben nicht der künstlerische Film, der hier in die Slums verbannt wird, sondern lediglich der unvollkommene: Der treue Verehrer, den Paula hier findet, ist eine Filmfigur mit angeborenem Bildsprung. Für sich genommen eine hübsche Idee, doch das System wirkt nicht durchdacht. Wo zum Beispiel stecken die Regisseurinnen und Regisseure dieses Kino-Lebens? In welcher Schicht sind sie verortet? Und wo überhaupt beginnen die Figuren zu spielen und wann sind sie sie selbst?
Vielleicht hätte die Defa-Analogie etwas besser funktioniert, wenn diese Dystopie ihre freien Geister fürchten würde. Doch diskriminiert wird man hier nicht, weil man vielleicht Poesie in Umlauf gebracht hat, sondern weil einem nur die Farbe fehlt. Paulas Vater, sie ahnt es bald, ist wohl gar kein Dissident, sondern nur auf Schwarzweiß-Film geboren worden.
Fast glaubt man hier eine andere Klassengesellschaft wiederzuerkennen, die standesdünkelhafte Welt der deutschen Filmakademie: Hier gilt die technische, kommerziell gedachte Modernität des Netflix-Films „Im Westen nichts Neues“ derzeit als das Allergrößte. Das durchaus populäre „andere Kino“ eines Christian Petzold wird nicht mal zur Nominierung zugelassen. Auch das wäre vielleicht ein Stoff für ein opernhaftes Filmdrama – vielleicht mag sich ein späterer Abschlussjahrgang einer Filmhochschule daran abarbeiten.
The Ordinaries. D 2022. Regie: Sophie Linnenbaum. 122 Min.