Einhundertprozentig abgewürgt
Jürgen Habermas findet scharfe Worte für die Bundesregierung und ihren Umgang mit der EU-Krise.
Mit tiefer Skepsis blickt der Soziologe und Philosoph Jürgen Habermas auf die gegenwärtige Lage Europas und wendet sich gegen einen Ton der „Dedramatisierung“. Zwar drohe trotz Brexit wegen der mächtigen wirtschaftlichen Interessen kein Auseinanderfallen der Eurozone, doch sei dies keine gute, sondern eher eine schlechte Nachricht, erklärte Habermas am Wochenende in Bad Homburg. Ein Weiterführen des Status quo habe schließlich zur Folge, dass die innerpolitischen Polarisierungen in unseren Ländern fortschreiten werden.
In Anlehnung an die vor einem Jahr von dem französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron formulierten Vorschläge, forderte Habermas im Rahmen der Tagung „Neue Perspektiven für Europa“, die das Forschungskolleg Humanwissenschaften mit der Frankfurter Goethe-Universität ausgerichtet hat, die Weiterentwicklung der Europäischen Währungsgemeinschaft hin zu einer politisch handlungsfähigen Europäischen Union. Europa müsse ein für die Bevölkerung erkennbarer Akteur werden, dann stellten sich, das habe die letzte Wahl in Frankreich gezeigt, die Menschen hinter dieses europäische Projekt.
Die hierfür notwendigen Maßnahmen seien jedoch von der deutschen Regierung „einhundertprozentig abgewürgt worden“. Das Erstarken europafeindlicher, rechtsextremer Parteien sei, so Habermas, nicht primär Folge der Migrationspolitik, sondern habe wirtschaftliche Ursachen. Die Währungsunion stelle nicht mehr für alle Mitgliedstaaten eine „Win-win-Situation“ dar. Im ökonomisch boomenden Deutschland werde der eigentliche Grund für die fehlende Kooperationsbereitschaft derjenigen verdrängt, die sich heute als Verlierer sehen und sich ungerecht behandelt fühlen.
Habermas staunt über die „Chuzpe der jetzigen Bundesregierung“
Der Euro sei, so der Soziologe, noch vor der Ost-Erweiterung mit dem politischen Versprechen eingeführt worden, dass sich die Lebensverhältnisse der Menschen in allen Mitgliedstaaten einander angleichen würden. Das Gegenteil dieser Prognose sei jedoch eingetreten. Diese andauernde Diskrepanz der ökonomischen Leistungsbilanzen könne keine Währungsgemeinschaft auf Dauer aushalten.
„Ich staune offen gestanden jeden Tag von neuem über die Chuzpe der jetzigen Bundesregierung, die glaubt, die Partner zu Gemeinsamkeit in Fragen der für uns wichtigen Flüchtlings-, Verteidigungs-, Außen- und Außenhandelspolitik gewinnen zu können, während sie gleichzeitig in der zentralen Frage des politischen Ausbaus der Eurozone mauert.“ Es gelte vielmehr, Schrittmacherfunktionen in einem weiteren Einigungsprozess zu übernehmen, ohne damit Exklusivitätsvorstellungen zu verbinden.
Auch die Haltung der politischen Parteien im Europäischen Parlament sieht Habermas gegenwärtig kritisch. Die EVP leiste sich dort mit dem ungarischen Präsidenten Viktor Orbán als Mitglied einen „Spagat“ und beziehe eine uneindeutige Position zu europapolitischen Fragen. Die Sozialdemokratie habe sich nicht an die Deregulierung der Märkte herangewagt und eine europäische Linke fehle insgesamt und verpasse es so, genuin linke Themen wie die Bekämpfung der Steuerflucht energisch zu verfolgen.